= L E S E P R O B E =

Fort X – Mord im Rosengarten

Kölner Kriminalroman

© 2025 Mike Schwarz – Köln 


Einleitung

Die in diesem Roman vorkommenden Handlungsorte sind überwiegend authentisch. Die Handlung selbst ist frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind nicht beabsichtigt – können jedoch nicht ausgeschlossen werden. Köln ist eine Stadt, in der sich Realität und Fiktion oft näherkommen, als man glaubt.

Im Mittelpunkt der Geschichte steht die ehemalige Festungsanlage Fort X. Für die meisten Anwohner und Besucher ist sie ein Ort der Erholung, ein Park, ein Rosengarten. Doch wie viele Orte dieser Stadt birgt auch Fort X ein verborgenes Kapitel, das lange unbeachtet geblieben ist. Fort X – Mord im Rosengarten verbindet eine fiktive Kriminalhandlung mit realen Schauplätzen und historischen Spuren Kölns.


Am Samstag, dem 13. Mai 2006, kurz nach neun Uhr, betritt der siebenundsechzigjährige Pensionär und Witwer Rudolf Mayer von der Agneskirche kommend den kleinen Park an der Riehler Straße, einen Teil des Kölner Grüngürtels. An seiner linken Seite trottet angeleint seine dreijährige Hündin Esterell, ein rehbrauner französischer Briard.

In Höhe des Jugendheims von St. Agnes, des angrenzenden Hausmeisterbungalows und des Kindergartens bleibt Mayer kurz stehen, um die Hündin abzuleinen. Schwanzwedelnd läuft Esterell in die von Ahornbäumen gesäumte, um diese Uhrzeit noch menschenleere Allee. Mayer genießt die milde Frühlingsluft und blinzelt zum fast wolkenlosen Himmel hinauf, der einen sonnigen Tag verspricht. In der Nacht muss es geregnet haben; auf den kräftig grünen, handförmig gelappten Blättern der Ahornbäume, auf den mannshohen Gebüschen und dem frisch gemähten Rasen perlt noch das Wasser.

Als Mayer den Rosengarten erreicht, reißt Esterell plötzlich aus und nimmt die Verfolgung einer weiß-braun getigerten Wildkatze auf. Kopfschüttelnd geht Mayer weiter. Oben angekommen, bleibt er stehen, schließt für einen Moment die Augen und atmet tief den Duft der Rosen ein. Dann hört er das aufgeregte Bellen seiner Hündin. Vor einer Bank in der mittig gelegenen Gartenlaube läuft Esterell unruhig hin und her. Mayer blickt auf seine Uhr: 09:30 Uhr.

Auf der Bank liegt ein Mann regungslos auf dem Rücken. Ein Penner, denkt Mayer zunächst und ruft die Hündin zu sich. Widerwillig lässt Esterell von der Verfolgung ab, kommt zu ihrem Herrchen zurück, und er leint sie an. Aus etwa einem Meter Entfernung mustert er den Mann. Maskulin, muskulös – aber leblos. Glatt rasiert, kurze schwarze Haare, gepflegt. Auf dem linken Unterarm erkennt Mayer eine alte Narbe, auf dem rechten Oberarm ein Tattoo mit keltischem Motiv. Der Mann trägt ein weißes Muskel-T-Shirt, das einen durchtrainierten Körper erahnen lässt. Vielleicht Mitte zwanzig, schätzt Mayer. Die Hände sind gepflegt, unberingt. Auf dem Bauch des Mannes liegt eine hellgelbe Rose mit kupferrotem Rand – eine „Gloria Dei“, wie Mayer aus Gesprächen mit dem Stadtgärtner weiß.

Noch während die ersten Polizeibeamten den Rosengarten von Fort X erreichten, lag die gesamte Anlage ruhig und unbewegt in der Morgensonne. Vögel sangen, der Duft der Rosen hing schwer in der Luft, und nichts deutete darauf hin, dass dieser Ort in wenigen Stunden zum Mittelpunkt polizeilicher Ermittlungen werden sollte. Fort X wirkte wie immer: friedlich, unscheinbar, beinahe zeitlos.

Am heutigen Neusser Wall, Ecke Lentstraße, nicht unweit der Kölner Zoobrücke im für kinderreiche Familien beliebten Agnesviertel gelegen, befindet sich die ehemalige Festungsanlage Fort X – das X als römische Zehn zu lesen – mit ihrem einmalig schönen, auf einem der Dächer der Festung angelegten Rosengarten. Was für Spaziergänger und Anwohner heute ein Ort der Erholung ist, war über Jahrzehnte hinweg Teil eines militärischen Verteidigungssystems von enormer Bedeutung.

Rückblende – Donnerstag, 11. Mai 2006, 14:37 Uhr: Vom Bahnhofsvorplatz her kommend betritt ein etwa dreißigjähriger Mann die Halle des Kölner Hauptbahnhofs. Er blickt immer wieder hastig über die Schulter, dann nach vorn, nach links und nach rechts, als befürchte er, verfolgt oder zumindest beobachtet zu werden. Auf seinem Weg rempelt er mehrere Passanten an, ohne sich zu entschuldigen. Die verärgerten Kommentare nimmt er nicht wahr.

Seine schulterlangen blonden Haare sind ungepflegt und stellenweise verfilzt. Ein dunkelblaues, schmuddeliges Baseballcap sitzt tief im Gesicht, das seitliche Nike-Logo ist kaum noch zu erkennen. Die Augen liegen tief in den Höhlen, dunkel umrandet, der Blick gehetzt wie der eines aufgeschreckten Tieres. Er trägt eine verwaschene hellblaue Jeansjacke, auf deren Rücken der Schriftzug „Dead or Alive“ prangt. Darunter hängt ein kariertes Hemd aus der Hose. Ein dunkelbrauner, speckiger Rucksack baumelt auf seinem Rücken. Seine ausgebeulte Jeans schlabbert an den dünnen Beinen, die Füße stecken sockenlos in ausgelaufenen, schmutzigen Turnschuhen, ehemals weiß. Bei etwa 1,85 Meter Körpergröße dürfte er kaum mehr als fünfundsechzig Kilogramm wiegen.

Nach einigen Minuten wirft der Massige einen Blick auf seine Armbanduhr – eine Hublot Big Bang, eindeutig echt und von beträchtlichem Wert. Dabei sieht der Dürre die drei kleinen, schwarzen Punkte zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten Hand: ein Zeichen dafür, dass sein Gegenüber Haftzeiten kennt. Ohne ein Wort zu verlieren, greift der Südländer nach dem Rucksack des Dürrem, steht auf und verlässt das Restaurant in Richtung Breslauer Platz. Draußen steigt er in ein Taxi, das ihn zum Köln-Bonner Flughafen bringt. Sein Flug nach Algier startet pünktlich um 18:15 Uhr – mit ihm an Bord.

Der Hagerere bleibt noch einen Moment sitzen. Dann nimmt er den offensichtlich vertauschten Rucksack, verlässt das Restaurant und bewegt sich in Richtung Bahnhofsvorplatz. Über die noch im Bau befindliche monumentale Treppenanlage vor dem Dom steigt er hinauf und taucht wenig später in der Menschenmenge auf der Domplatte unter.

Ebenfalls im Jahr 2000 lernte er Carmen kennen. Kölnerin. Attraktiv. Anwendungsprogrammiererin bei einer großen Schweizer Versicherung. Sie heirateten noch im selben Jahr. Zwei Söhne folgten. Franjo, benannt nach dem toten Bruder. Und Oliver. Eine Vorzeigefamilie. Ende 2004 beschloss Valdo Gorban, seine verbliebenen illegalen Geschäfte endgültig einzustellen. Seine Frau wusste nichts von seinen illegalen Aktivitäten. Sie sollte auch nichts wissen. Seit August 2004 war er deutscher Staatsbürger. Seine Sprache tadellos. Sein Auftreten makellos.

Das Haus im Hahnwald, freistehend, gepflegt, ruhig gelegen, passte perfekt ins Bild. Ebenso der Mercedes ML 63 AMG – sein einziger offener Luxus. Finanzbehörden fanden nie etwas. Zwei Prüfungen. Keine Beanstandungen. Seit Januar 2006 firmierte sein Unternehmen als VG-Personal GmbH. Neue Adresse. Neue Etage. Neuer Status. Und doch hatte die Vergangenheit eine unangenehme Eigenschaft: Sie vergaß nicht. Am 17. Juni 2005 stand plötzlich ein Mann aus Vukovar unangemeldet in seinem Büro. Ein ehemaliger Geschäftspartner. Einer, den Gorban längst hinter sich glaubte. Seit diesem Tag wartete er auf genau diesen Anruf. Das Telefon blieb stumm.

Die verstaubte Wanduhr in dem gleichfalls verstaubten, muffig riechenden Gewölbebüro von Hermann Keller zeigte 10:15 Uhr an, als Witkowski die Befragung des Gärtners fortsetzte. „Wann öffnet eigentlich der Rosengarten für das Publikum?“, wollte er wissen. „Meinen Sie die Saison oder die täglichen Öffnungszeiten?“, kam die spontane Gegenfrage. Keller zog leicht die rechte Augenbraue hoch und zeigte ein verschmitztes Lächeln. „Die Öffnungszeiten für die Öffentlichkeit“, präzisierte Witkowski. „Das Tor unter dem Bogen öffne ich meist kurz vor sieben Uhr. Geschlossen wird es gegen zwanzig Uhr“, erklärte Keller. „Diese Zeiten gelten von Montag bis Freitag. Am Wochenende ist der Rosengarten von neun bis zwanzig Uhr geöffnet. Besucher haben außerdem nur vom ersten Mai bis zum einunddreißigsten Oktober Zutritt. In den Wintermonaten bleibt der Rosengarten geschlossen.“

Er machte eine kurze Pause, als er bemerkte, dass Rüdels eifrig Notizen machte. Als dieser ihn fragend ansah, fuhr Keller fort: „Einen anderen Zugang für den Publikumsverkehr gibt es nicht – es sei denn, man klettert über die Mauern. Die sind allerdings über zehn Meter hoch und bei der dichten Bepflanzung praktisch unüberwindbar.“ „Wer besitzt einen Schlüssel für das Eingangstor?“, fragte Witkowski. Keller kratzte sich kurz am Hinterkopf. „Drei habe ich in Gewahrsam: einen an meinem Schlüsselbund, einen als Reserve hier im Büro und einen besitzt mein Vorgesetzter, Herr Kruse vom Gartenamt der Stadt Köln.“

Die Identität haben wir bereits festgestellt“, unterbrach Witkowski. „Markus Ehrmann. Das Portemonnaie wurde sichergestellt, allerdings ohne Personalausweis.“ Kindler nickte und fuhr fort: „Der Mann war auffallend gut gekleidet. Im unteren Bauchbereich fanden wir einen kleinen, eingetrockneten Blutstropfen – zwei bis drei Millimeter im Durchmesser. Er war von einer Rose verdeckt, die der Tote sich kaum selbst dort platziert haben dürfte. Die Rose hatte einen glatten Schrägschnitt.“ Witkowski runzelte die Stirn. „Ein Blutstropfen?“ „Ja. Und noch etwas: In seinen Strümpfen steckten acht Hundert-Euro-Scheine. Außerdem ein handgeschriebener Zettel mit den Initialen SK und einer Telefonnummer – vermutlich.“ Kindler reichte ihm das Geld und den Zettel. „SK 2073366“, las Witkowski und sah ihn fragend an. „Keine Handynummer, keine Vorwahl“, erklärte Kindler. „Hoffentlich ein Kölner Anschluss.“ „Augenblick“, sagte Witkowski. „Ich hole Rüdels.“

Kindler stieß die Tür mit dem Fuß geräuschlos einen Spalt auf und gab Witkowski ein Handzeichen. Witkowski sah hinein, zog lautlos seine entsicherte Dienstwaffe und flüsterte: „Ehrmann hatte ganz offensichtlich ungebetenen Besuch.“ De Luca und Kindler griffen ebenfalls zu ihren Waffen. Schmidt blieb geschützt hinter einer Flurwand. Das Wohnzimmer war vom Flur aus einsehbar – und es bot ein Bild der Verwüstung: Schränke und Schubladen standen offen, Kleidung, CDs, Papiere, Ordner und Bücher lagen überall verstreut. Links vom Flur öffnete Witkowski vorsichtig eine Tür: das Badezimmer. Auch hier Chaos. Im Spiegel des Badezimmerschranks sah er den ganzen Raum – menschenleer, aber nicht tierleer. In einer Ecke kauerte ein kleiner, verängstigter Hund. Witkowski schloss die Tür leise und flüsterte: „Ein Hund.“

Die Gruppe bewegte sich angespannt Richtung Wohnzimmertür. „Polizei!“, rief Witkowski, die Schulterblätter an die Wand gepresst, und wartete. Nichts. Mucksmäuschenstill. Mit erhobener Waffe stürmte Witkowski ins Wohnzimmer, lief bis zur Fensterfront und ließ den Blick blitzschnell nach links und rechts schießen. Kindler positionierte sich links hinter der Tür, De Luca sicherte den Raum. Rechts führte eine Tür in die Küche, links in das Schlafzimmer. Nach kurzem Blickkontakt stürmten Witkowski und De Luca gleichzeitig in die jeweiligen Räume. „Sicher!“, meldete Witkowski aus dem Schlafzimmer. „Hier ist auch niemand!“, rief De Luca aus der Küche.

Witkowski erschien im Türrahmen. „Guten Tag. Oberkommissar Dieter Witkowski, Kripo Köln. Mit wem habe ich die Ehre?“ „Nadine von Simmern. Ich bin die Freundin von Markus. Ist er da?“ Witkowski spürte einen Kloß im Hals. „Nein. Und ich bedauere, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Markus Ehrmann heute Morgen tot aufgefunden wurde.“ Nadine von Simmern sackte weg. Witkowski fing sie nicht mehr ab. Er hob die bewusstlose junge Frau hoch und trug sie, um ihr den Anblick der verwüsteten Wohnung zu ersparen, hinunter zu Frau Weiß. Als er keuchend im Erdgeschoss ankam, stand Frau Weiß bereits mit weit geöffneter Tür da, als hätte sie es geahnt. „Ja, selbstverständlich. Bringen Sie sie ins Schlafzimmer“, sagte sie, und sie legten Nadine auf das Bett.

Nadine schlug abrupt die Augen auf. „Wo bin ich? Was ist passiert?“ „Sie sind ohnmächtig geworden“, sagte Witkowski. „Frau Weiß hat uns hereingelassen.“ „Tot“, murmelte Nadine – dann kam ein schriller Schrei:„Neeeeiiiin!“ „Lassen Sie mich bitte“, sagte Frau Weiß resolut. „Ich war Ärztin.“ Sie tastete routiniert den Puls, strich beruhigend über die Stirn. „Ruhig. Atmen.“ Nach einer Weile fragte Nadine mit zitternder Stimme: „Was ist passiert?“ „Das wissen wir noch nicht“, antwortete Witkowski. „Aber jemand hat in seiner Wohnung etwas gesucht – und wahrscheinlich gefunden. Es sieht nach einem Gewaltverbrechen aus, auch wenn zunächst keine sichtbaren Verletzungen auffielen.“ Er nickte Frau Weiß zu. „Ich hole Herrn Rüdels – und Timmy.“

Rückblende: Donnerstag, 11. Mai 2006, 15:19 Uhr. Der schmuddelig wirkende Mann mit den schulterlangen, ungepflegten blonden Haaren, der blauen Baseballkappe, der verwaschenen Jeans und dem braunen Rucksack hastet über die Domplatte. Mehrfach schlägt er Haken wie ein gehetztes Kaninchen, bleibt abrupt stehen, kehrt um, geht den gleichen Weg zurück. Schließlich betritt er erneut den Hauptbahnhof und folgt der Beschilderung Richtung U/Dom/City. Am Fahrkartenautomaten der KVB zieht er sich mit fahrigen Bewegungen ein Ticket der Preisstufe 1b. Immer wieder wandert sein Blick nach allen Seiten. Er geht eine weitere Treppe hinunter und wartet auf eine passende Bahn.

Auf einer Bank sitzt eine Frau Mitte vierzig mit dunkelblonden, gewellten Haaren. Kopfhörer verschwinden unter den Strähnen. Sie trägt ein hellblaues, sommerliches, weiß-blau geblümtes Kostüm, weiße Strickjacke, weiße Söckchen, hellblaue Turnschuhe mit weißen Streifen. Vor ihr liegt der Kölner Stadt-Anzeiger. „Du kannst machen, was du willst. Heute kriegen wir dich“, denkt sie und mustert den ungepflegten Mann, der nur zwei Meter neben ihr steht, ohne ihr Beachtung zu schenken. Nach zwei Minuten steigt er hastig in die Linie 16 ein, ohne den Aussteigenden Platz zu machen. Als sich die Türen schließen, atmet er erleichtert auf und lässt sich auf einen freien Sitz fallen.

Was er nicht weiß: Er befindet sich auf einem Cruisinggelände. Und er wird seit geraumer Zeit von einem Sondereinsatzkommando der Drogenfahndung observiert. Unbemerkt wurde ihm ein GPS-Sender in einen seiner Turnschuhe eingebaut. Die Polizei hält den Mann mit der roten Caprihose irrtümlich für die Kontaktperson. Als Schuhmacher sein Feuerzeug zieht, hallt vom Fuß des Hügels eine Stimme:
Polizei! Hände hoch! Stehen bleiben!“ Der Mann – Jörn Weber, 39, Grafikdesigner aus Düsseldorf – reißt die Arme hoch und bleibt stehen. Schuhmacher sieht seine Chance. Er stößt Weber brutal zur Seite und rennt. Durch den Wald, Haken schlagend, den Hang hinauf. Oben gepflasterter Weg. Ein Streifenwagen setzt mit quietschenden Reifen an. Hinter sich hört er Rufe. Dann einen Knall. „Die schießen auf mich!“ Er rennt weiter. In einem unbeobachteten Moment schleudert er den braunen Rucksack in weitem Bogen ins Waldstück.

Unten auf dem Asphalt sieht er den nächsten Streifenwagen. Ein weiterer Fluchtweg ist abgeschnitten. Er hebt die Arme, lässt sich widerstandslos festnehmen. „Das Spiel ist aus, Schuhmacher“, flüstert ein Beamter. Er wird ins Präsidium nach Köln-Kalk gebracht. Erst beim Anfahren ruft jemand: „Der Rucksack!“ Vier Beamte durchsuchen stundenlang das Waldstück. Vergeblich. Auch um 16:30 Uhr wartet im Kontakt-Bistro des Bordellinho jemand umsonst. Jörn Weber sitzt währenddessen auf dem Weg ins Präsidium. Er erklärt, warum er auf dem Herkulesberg war: ein vielversprechender Chat bei GayRomeo, Verabredung um 15:30 Uhr, Parkbank, Sympathie, Wohnung. Die Beamten ahnen inzwischen, dass sie den Falschen festgenommen haben.

Witkowski erklärt sachlich, was Krohnen betreibt: eine gut laufende Boysvermittlungsagentur in seiner Penthousewohnung am Hohenstaufenring. Keine Hühner-auf-der-Stange-Nummer, keine klassische Bordellstruktur. Terminbetrieb, privater Charakter, gemütliche Atmosphäre. Nach seinen Angaben nur Jungs mit sauberen Papieren, Kondomzwang, Drogenverbot, keine Gewalt, pünktliche Barzahlung. „Er nennt sich manchmal spaßeshalber Puffmutter“, sagt Witkowski. „Und irgendwie ist er das auch.“ Er erzählt weiter: Vorstrafenregister lang, in der Szene gefürchtet, viel Getratsche — aber seit über zehn Jahren nichts mehr. Der Motorradunfall in der Eifel, die Monate Klinik, die Reha, das mühsame Wieder-Laufen-Lernen. „Ich glaube, das hat etwas in ihm verändert“, schließt Witkowski. „Seitdem ist er nicht mehr kriminell aufgefallen. Heute zieht er das rechte Bein noch etwas nach — mehr sieht man nicht.“ „Dann bin ich echt gespannt auf deinen Helden“, grinst Rüdels.

Witkowski zeigt im Vorbeifahren auf das Restaurant. Kurz darauf parken sie. Im Lokal werden sie vom Inhaber überschwänglich begrüßt. Tagesangebot, Entscheidung, Getränke. Sie sind die einzigen Gäste. Nach dem Essen bezahlt Witkowski gegen Quittung. Noch einmal übertriebene Freundlichkeit beim Abschied. Draußen gehen sie Richtung Barbarossaplatz, um die Ecke, vorbei an der Santander Consumer Bank, bis sie vor dem Unkelbachhaus am Hohenstaufenring 4–6 stehen bleiben. Krohnen hat eine separate Klingel. Das Gebäude wirkt gepflegt.

Durch Sascha kommt Markus erstmals mit Drogen in Kontakt. Er bittet um Speed, später konsumiert er regelmäßig Koks und andere Partydrogen – zunächst unauffällig. Er verkauft schließlich auch an Kunden. Sein Vermögen wächst auf fast 100.000 Euro. Am 4. Februar 2004 bricht Markus in Saschas Wohnung zusammen. Ein Notarzt rät dringend zur Entgiftung. Sascha organisiert die Therapie, bringt ihn nach Hagen. Den Eltern erzählt Markus von einer Studienreise in die USA. Nach fünf Wochen ist er clean – dauerhaft.

2004 kauft Markus eine Eigentumswohnung am Mediapark. Sascha bürgt. Kurz darauf lernt Markus Nadine von Simmern kennen. Der Kontakt zu Sascha wird seltener. Am 1. Mai 2006 beschließt Markus, mit dem Callboy-Geschäft aufzuhören. Er will sein Studium wieder aufnehmen, Nadine soll einziehen. Niemand erfährt, womit er sein Geld verdiente. Am 12. Mai 2006 ruft Markus Sascha an. Treffen um 19:00 Uhr im Kattwinkel. „Wichtig“, sagt er nur. Sascha sitzt um 18:52 Uhr an der Theke, bestellt ein Kölsch und beobachtet, wie so oft, das Leben rund um den Eigelstein.

Hm“, sagt Krohnen leise. „Wo waren Sie heute Morgen um diese Uhrzeit?“, fragt Rüdels sachlich. Krohnen schaut ihn irritiert an. „Ich?“ „Ja, Sie, Herr Krohnen.“ Krohnen schließt kurz die Augen. „Ich pflege um diese Uhrzeit zu schlafen.“ „Gibt es dafür einen Zeugen?“ „Ja“, antwortet Krohnen nach kurzer Überlegung und nickt in Richtung Wohnzimmer. Er steht auf und geht langsam, beinahe in Zeitlupe, hinüber. Kurz darauf erklingt leise Musik von Oliver Shanti & Friends. Wenig später kehrt er zurück – mit Lars im Schlepptau, der mit gesenktem Kopf im Türrahmen stehen bleibt. „Lars Pontzek“, sagt Krohnen, „einer meiner Gesellschafter und seit einigen Wochen so etwas wie mein Geschäftsführer.“ Dann wendet er sich an Lars: „Die Herren möchten wissen, wo ich heute Morgen zwischen sieben und neun Uhr war.“

Ein kurzer Anflug von Verlegenheit huscht über Lars’ Gesicht. Dann sagt er: „Herr Krohnen und ich lagen um diese Zeit gemeinsam im Bett. Es war zu spät geworden, um noch eine Bahn nach Bonn zu bekommen.“ Sein Blick wandert dabei für einen Moment süffisant zu Witkowski – was Rüdels nicht entgeht. „Haben Sie Ihre Ausweispapiere dabei?“, fragt Witkowski. „Ja. Klar.“ Lars verlässt kurz den Raum, kommt mit seiner Brieftasche zurück und übergibt Rüdels wortlos seinen Personalausweis. Rüdels notiert die Daten. „Können wir Sie telefonisch erreichen, falls es Rückfragen gibt?“ Lars nennt Festnetz- und Handynummer. „Danke. Sie können gehen.“ Lars nickt, seufzt hörbar und verschwindet wieder ins Wohnzimmer. Die Tür schließt sich geräuschlos.

An Krohnen gewandt und diesem dabei die Hand gebend bedankt er sich für die Wohnungsführung, die Auskünfte und für die Bewirtung. Nachdem sich auch Witkowski von Krohnen verabschiedet hat, begleitet dieser die beiden Beamten noch bis vor die Tür und holt für sie den Aufzug herauf. Danach betritt Krohnen wieder seine Wohnung und behält aus den Witkowski und Rüdels gegenüber geschilderten gestrigen Vorkommnissen ein tieferes Geheimnis für sich. Er wartet in der Küche, bis der Gast seine Wohnung verlassen hat und Lars mit dem Duschen fertig ist. Als Lars die Wohnküche betritt, sieht dieser, dass Sascha angefangen hat, Wodka-Lemon zu trinken. Wann und wie Krohnen in sein Bett kam, daran wird er sich am nächsten Morgen nicht mehr erinnern können. Er weiß in Lars aber eine zuverlässige Vertretung für seine Agenturgeschäfte.

Rückblende. Freitag, 12. Mai 2006, 21:15 Uhr. Nachdem Markus Ehrmann die Hotelhalle des Intercontinentals betreten hat, setzt er sich in einen der bequemen Sessel nahe der Rezeption. Bis zu seinem Termin mit Zumbiani bleibt ihm Zeit. Er beobachtet das ruhige Kommen und Gehen der Gäste, das gedämpfte Stimmengewirr, das Klirren von Gläsern aus der Bar. Zumbiani hatte angekündigt, ihn in der Halle abzuholen. Danach gemeinsam hinauf in die Präsidentensuite. Markus greift sich aus dem Zeitungsständer den aktuellen Focus, liest zunächst den Politikteil, dann Wirtschaft. Um 21:30 Uhr wirft er einen Blick auf seine Armbanduhr. Eine Minute später wählt er, innerlich aufgewühlt, die Nummer mit unterdrückter Rufnummer.

Nach dem dritten Klingeln meldet sich die bekannte Stimme. „Ja? Bitte?“ Markus schluckt. „Also … wo und wann treffen wir uns?“ Der Mann nennt Ort und Uhrzeit, gereizt, knapp. Pünktlichkeit sei zwingend. Markus versichert es. Als er auflegt, ist er überzeugt, seine finanziellen Probleme endgültig gelöst zu haben. Punkt 22:00 Uhr erscheint Zumbiani in der Hotelhalle. Freundlich, gepflegt, selbstsicher. Sie geben sich die Hand und fahren mit dem Lift hinauf. Markus verbringt eineinhalb Stunden mit ihm in entspannter Atmosphäre. Vereinbarungsgemäß erhält er 800 Euro in bar. Als er das Hotel verlässt, geht er zu Fuß zum Kattwinkel. Dort steht noch sein Fahrrad. Er trinkt drei Kölsch, wechselt belanglose Worte mit Volker und zwei Gästen und erreicht gegen 01:00 Uhr seine Wohnung. Schlafen kann er nicht.

Plötzlich lässt der Mann los. Ehrmann atmet gierig ein, taumelt. Ungläubig starrt er auf den Mann, der sich bereits abwendet. Ruhig geht dieser zur Stahltür an der Stirnseite des Raumes, drückt mit einer latexbehandschuhten Hand einen roten Knopf. Die Tür öffnet sich geräuschlos. Noch ein Blick auf blaue Pumaschuhe. Die zweite Hand hält nun die Sporttasche. Die Tür schließt sich. Stille. Nur das Summen der Lüfter. Ehrmann blickt an sich herab. Zieht sein verrutschtes T-Shirt hoch. Kein Blut. Keine sichtbare Verletzung. Was läuft hier für ein Film ab? Müdigkeit überrollt ihn. Hitze. Schweiß. Nicht einschlafen. Ruhig bleiben. Sein Herz rast. Panik. Druck im Bauch. Er taumelt zum Schreibtisch, sieht das Telefon. Mit letzter Kraft zieht er die Jacke aus, erreicht den Stuhl und sackt hinein. Sein Blick verschwimmt. Das Schnurlostelefon steht nur wenige Zentimeter entfernt. Seine rechte Hand gleitet über die kühle Metallplatte – stoppt. Der Kopf fällt zur Seite. Vierundzwanzig Minuten nach dem Einstich hört sein Herz auf zu schlagen.

Schuhmacher nimmt die Flasche, schnüffelt, zögert, schnüffelt wieder. Dzajic demonstriert es kurz selbst – kontrolliert, dosiert – und reicht sie zurück. Schuhmacher zieht diesmal tief. „Bleib sitzen“, sagt Dzajic. „Ich hole was zu trinken.“ Schuhmacher lehnt sich zurück, zündet sich eine Zigarette an, öffnet das Fläschchen erneut, zieht wieder. Seine Gedanken zerfasern, der Körper wird schwer. Als Dzajic mit drei Flaschen Kölsch zurückkommt, liegt Schuhmacher bereits seitlich auf der Bank. Unter der Bank Erbrochenes. In der Hand das leere Fläschchen. Dzajic bleibt stehen, prüft kurz – und weiß, dass es vorbei ist. Klaus Schuhmacher stirbt um 20:22 Uhr an Atemlähmung. Dzajic stellt die Flaschen vor die Bank, nimmt Schuhmachers Handy an sich und verschwindet. Keine Hast. Keine sichtbare Spur. Am Sonntag gehen Kinder und Eltern am Spielplatz vorbei. Viele halten den Mann für einen Schlafenden. Erst am Nachmittag, um 16:43 Uhr, bemerkt Dr. Georg Fröhl, der mit seinen Kindern dort ist, dass etwas nicht stimmt. Er beobachtet den Körper, geht hinüber, findet das Fläschchen, tastet nach dem Puls – nichts. Er wählt den Notruf.

Klaus Kindler trägt die Ergebnisse der Spurensicherung vor: Wohnung, Tatort, keine Spuren eines Kampfes. Zum Schluss: „Das weiße Pulver ist zweifelsfrei reines Kokain – Topqualität.“ Schöneisen fasst zusammen. „Ich schlage vor, dass wir unsere Erkenntnisse nun getrennt auswerten. Nächstes Treffen heute um 15:00 Uhr.“ Niemand widerspricht. Die Runde löst sich auf. Witkowski übergibt Schöneisen den Schlüsselbund von Ehrmann. Auf dem Gang hält ihn Kerstin Schüller auf. „Dieter, Anruf für dich. Dr. Jürgen Ehrmann. Der Vater. Sie sind die Nacht aus der Toskana durchgefahren.“ Witkowski nickt, greift zum Telefon. Er erklärt knapp den Stand der Ermittlungen, spricht sein Mitgefühl aus. Ein persönliches Gespräch wird für 16:30 Uhr vereinbart. Die Nüchternheit in der Stimme des Vaters irritiert ihn.

Im Nebenzimmer fordert Rüdels bei Vodafone den Einzelverbindungsnachweis an. Fast zeitgleich läuft bei Schüller der Autopsiebericht ein. Sie bringt ihn sofort zu Witkowski. „Hol mir Sven“, sagt er nur. Als Rüdels eintritt, liest Witkowski vor: Stichverletzung rechts unterhalb des Bauchnabels. Druckmarke am Hals. Keine äußeren Verletzungen. Kein Drogenkonsum. Blutalkohol: 0,4 Promille. Exzessiv hohe Insulinkonzentration. Akute Hypoglykämie als Todesursache. Transportdruckstellen. Tatort gleich Fundort. Witkowski legt das Papier langsam auf den Tisch. Jetzt ist klar: Das war Mord.