= L E S E P R O B E =

Vor der Wirklichkeit kann man seine Augen verschließen, aber nicht vor der Erinnerung. 

Kapitel 3: Krisen, Umbruch & Veränderungen [1969 – 1976]

Mit dem Ende meines letzten Volksschuljahres 1969 an der Alexanderstraße ging für mich zugleich die schöne Zeit meiner zweiten, diesmal unbeschwerten Kindheit viel zu schnell vorbei. Ich wollte doch noch so viel kindliche Lebensfreude und Jahre der Sorglosigkeit nachholen. Schon früh war mir klar, dass man Versäumtes nicht nachholen kann. Irgendwie hatte ich das Gefühl, viel zu schnell erwachsen geworden zu sein. Dabei hatte ich meine Jugend noch vor mir. Die Bilder einer späten Kindheit mit stabilen und belastbaren Beziehungen zu anderen Menschen zogen an mir vorbei. Eine Zeit der Fröhlich- und Leichtigkeit, der Geborgenheit, der Neugier und des Abenteuers, der Identitätsfindung, der Anerkennung, der Geborgenheit, der Identitätsfindung und der Selbständigkeit. Was würde die Zukunft bringen?

In den 60er Jahren und darüber hinaus habe ich das Leben meiner Eltern, meiner Verwandten und der Eltern von Bekannten im öffentlichen Dienst studiert und beschlossen, auf keinen Fall diesen Weg der beruflichen und privaten Eintönigkeit zu gehen. Wie sah das Leben der meisten anderen aus? Schule, Ausbildung, Beruf, Heirat, Kinder [maximal zwei], Haus abbezahlen, einmal die Woche Kegeln, einmal im Jahr Schützenfest und Urlaub mit der Bagage am Wörther See, alle vier Jahre ein neuer OPEL, Silberhochzeit, alt werden und sterben. Und die Kinder? Die spielen das gleiche spießige Spiel wie ihre Eltern. Und warum? Weil sie nicht anders können oder wollen? Mir war schon früh klar, dass ich so ein monotones Zombieleben nicht führen will. Nicht jeden Tag die gleichen Wege, die gleichen Gesichter, die gleichen Abläufe, die gleiche Arbeit, die gleiche Unterforderung. Kurz: Die erlebte Monotonie von Maria im Tann schrie nicht nach Wiederholung!

London, 1966

In dieser Lebensphase suchte ich unbewusst die Nähe zu den etwas älteren Jungs. Zu denen, die schon Moped fuhren, die sich von ihren stockkonservativen Eltern nichts mehr sagen ließen, die ihren eigenen Modegeschmack nicht nur erfanden, sondern auch durchsetzten und damit die damalige Gesellschaft schockierten. Eine rebellische Jugend, die sich die Haare wachsen ließ, Joints rauchte und althergebrachte sexuelle Normen über den Haufen warf. Jugendliche, die sich wie ich nicht der Diktatur der Konsumindustrie und schon gar nicht die einer Hochleistungsgesellschaft unterwarfen. Halbwüchsige, von unseren Eltern abwertend Halbstarke genannt, deren Interessen nicht materiell, nicht alltäglich waren. Unpolitische Individualisten, die nicht gleich rot werden, wenn sie in der Öffentlichkeit rülpsen und furzen müssen. Die sich trotz der vom Elternhaus geprägten Werte allmählich davon abnabeln.

Um unserer natürlichen Jugend Ausdruck zu verleihen, brauchten wir keine Muckibuden, Kosmetika, Tätowierungen, Sonnenstudios und schon gar keine ständig wechselnden Klamotten, die uns die Eltern [für den Müll] finanzierten. Unser Luxus war die Freiheit, die wir nach einem wohlverdienten Feierabend oder nach der Schule genossen. Eine Zeit, in der wir von allen Zwängen und Pflichten des Alltags befreit waren. Eine schöne Zeit, die wir nicht einsam vor dem Fernseher verbrachten, die wir nicht mit dem Austausch unwichtiger Nachrichten über ein nervtötendes Handy oder mit einer selten dämlichen Beschäftigung in manipulativen und asozialen Netzwerken vergeudeten.

Die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel kam für mich nur in absoluten Ausnahmefällen infrage. Der Bus von Voerde über Möllen nach Dinslaken-Bahnhof, fuhr nur alle 30 Minuten, brauchte für die Strecke über eine halbe Stunde und hielt [gefühlt] an jeder Milchkanne. Um die Schule zu erreichen, musste ich vom Bahnhof aus noch ein gutes Stück quer durch die Innenstadt laufen. Wenn es die Arbeitszeiten meiner Mutter zuließen, brachte sie mich morgens mit ihrem Käfer zur Schule, aber das löste mein Problem mit dem Rückweg nicht. Außerdem bin ich ein miserabler Beifahrer. Im Herbst fuhr sie bei einer dieser Kurierfahrten, aufgrund plötzlich auftretendem Blitzeis, in einen Berg von bereits geleerten Mülltonnen, die am Straßenrand der B 8 herrenlos herumstanden. Das hätte selbst routinierten Autofahrern in dieser Situation passieren können. Nur Mutter bekam, obwohl weder dem Auto noch uns etwas passiert war, einen hysterischen Anfall. Von da an bin ich die 20 Kilometer hin und zurück lieber bei Wind und Wetter mit dem Fahrrad gefahren.

Aus diesen zwei Schuljahren sind mir nur zwei Personen in Erinnerung geblieben: Klumpfuß-Hendrik und die dicke Rita. Hendrik verdankte sein verkümmertes Bein und die damit verbundene Gehbehinderung einer im Kleinkindalter erworbenen Poliomyelitis, umgangssprachlich und fälschlicherweise Kinderlähmung genannt. Hendrik wohnte mit seiner alleinerziehenden Mutter ebenfalls in Voerde im Erdgeschoss eines alten Backsteinhauses an der Ecke Jägerstraße / Akazienweg. Rita wohnte mit ihren Eltern im Obergeschoss des gleichen Gebäudes. Wegen seiner offensichtlichen körperlichen Behinderung und seines uns allen überlegenen Intellekts wurde er in der Handelsschule von den meisten Mitschülern, mich eingeschlossen, gemieden.

Das änderte sich im wahrsten Sinne des Wortes schlagartig, als ein Mitschüler es offensichtlich lustig fand, ihm während einer Pause auf dem Schulhof ein Bein zu stellen, woraufhin Hendrik stürzte. Keine Minute später bezahlte der Übeltäter mit einem Nasenbeinbruch, einem blauen Auge, Schürfwunden und einigen Prellungen. Irgendwann hört auch für mich der Spaß auf. Ich kann es bis zum heutigen Tag nicht ab, wenn ich sehe, wie hilf- und wehrlose Menschen von vermeintlich Stärkeren attackiert werden. In solchen Augenblicken brennt bei mir die Sicherung durch. Wahrscheinlich noch ein Relikt aus meinen Heimjahren. Ich half Hendrik vor den Augen der zu Salzsäule erstarrten Schaulustigen wieder auf die Beine und nahm den anschließenden Klassenbucheintrag sportlich.

Mit 15, Terrasse am Elternhaus

Allein diese Sonderbehandlung fand ich zunächst etwas befremdlich, da es so etwas in den Schuljahren zuvor kein einziges Mal gegeben hatte. Im Laufe des Gesprächs erklärte sie mir, dass ich auf sie nicht den Eindruck von Minderintelligenz machen würde, sondern dass ich mich selbst durch meine mangelnde Motivation in meinen schulischen Leistungen ausbremsen würde. Womit sie in meinem Fall voll ins Schwarze getroffen hatte. In einem zeitnah anberaumten Folgegespräch schilderte ich ihr unter anderem in Kurzform meine Herkunftsverhältnisse, soweit sie mir zu diesem Zeitpunkt bekannt waren. Über meine Erlebnisse aus den Kinderheimjahren ging ich nonchalant hinweg. Nach diesem Gespräch fühlte sie sich berufen, mir bei der Überwindung meiner schulischen Lerndefizite zu helfen. Dankbar und erstaunt nahm ich dieses kostenlose Angebot an.

Neu für mich war auch eine Methode, die sie gleich in der ersten Förderstunde einsetzte. Sie legte mir einen handgeschriebenen Zettel vor, auf dem sie mir fünf Fragen stellte. Sie bat mich, jede Frage ehrlich zu beantworten, nicht ihr zuliebe, sondern ehrlich zu mir selbst. Es waren alles Fragen, über die ich mir bis dahin noch nie Gedanken gemacht hatte. Zum Beispiel die Frage nach meinen privaten, schulischen und beruflichen Zielen. Ich mochte mir diesbezüglich keine Gedanken über die Zukunft machen. Artikulierte Denkprozesse dieser Art wurden, wenn ich mich recht erinnere, in Aachen im Namen des Herrn mit Strafe belohnt. Das Einzige von mir klar definierte Ziel war der erfolgreiche Abschluss der Handelsschule. In diesem Punkt waren wir uns einig, den Weg der kleinen Schritte gehen zu wollen. In weiteren Fragen erkundeten wir meine schulischen und persönlichen Stärken und Schwächen. Danach war ich sehr verunsichert. Nicht wegen der Fragen, sondern weil sich zum ersten Mal in meinem Leben jemand ernsthaft mit meinen Problemen auseinandersetzte und mir einfache und für mich machbare Lösungen aufzeigte.

Meine erste Ausbildungswoche stand allerdings unter keinem guten Stern. Dazu muss ich sagen, dass der Betrieb in unmittelbarer Nähe der damals nach Fäkalien stinkenden Emscher lag. Um zu verhindern, dass größere Gegenstände in den Rhein gelangten, war an dieser Stelle ein Wehr errichtet worden. Dieses diente quasi als grobmaschiges Sieb. Als ich am zweiten Tag mit dem Fahrrad immer noch auf der Suche nach dem kürzesten Arbeitsweg war, gelangte ich über einen Feldweg zum Stauwehr und hielt für eine Zigarettenpause direkt auf der schmalen Fußgängerbrücke, die über die Emscher führte. Bei dieser Gelegenheit blickte ich zufällig hinunter auf den bestialisch stinkenden Fluss und was sah ich? Direkt unter mir trieb eine Wasserleiche, männlich, wie sich später herausstellte. Als Rettungsschwimmer war mir sofort klar, dass diesem Mann nicht mehr zu helfen war. Kurz darauf informierte ich vom Büro aus die Polizei. Von Arbeitskollegen erfuhr ich, dass mein grausamer Fund kein Einzelfall war und auch nicht bleiben würde. Wenn ich mich umbringen wollte, dann doch nicht in dieser Kloake! Natürlich konnte nicht ausgeschlossen werden, dass es sich bei der Leiche nicht um das Opfer eines Gewaltverbrechens handelte. Schließlich floss die Emscher durch einige Ruhrgebietsmetropolen, die damals wie heute als kriminelle Hochburgen bekannt und berüchtigt waren.

Durch mein relativ hohes Einkommen war ich also schon früh finanziell von meinen Eltern unabhängig. Das hat mich umso mehr gefreut, da ich zu Hause weder für Kost noch Logis bezahlen musste. Dieser kranke Umgang mit Geld war einer der größten Fehler, die ich in meinem Leben gemacht habe. Aber wie heißt es so schön? Hinterher ist man immer klüger. Rein hypothetisch hätte ich, wenn ich vernünftig gewirtschaftet hätte, spätestens mit 40 als Millionär in Rente gehen können. Habe ich aber nicht. Trotzdem gilt für mich auch in diesem Fall: „Ich bereue nichts!“ Diese Erkenntnis verdanke ich meiner Einstellung, dass Geld sowieso nur schnöder Mammon ist. Schließlich geht es mir ums Leben und nicht ums Sparen. Freiheit und Gesundheit haben in meinem Leben einen viel höheren Stellenwert. Heute bin ich glücklich, wenn ich meine Grundbedürfnisse befriedigen kann, mein Konto immer im Plus ist und ich meinen jetzigen Lebensstandard halten kann. Glücklich wäre ich, wenn ich einen Partner fände, der mich glücklich macht. Schade, dass Dr. Oetker dafür keine Backmischung anbietet.

Mein erste VW Bulli, Europatour 1974

Was die Anpassung an gegensätzliche Bevölkerungsschichten angeht, sehe ich mich als wandlungsfähiges Chamäleon, das sich aber in Arbeiterkreisen am wohlsten fühlt. Wie schon an anderer Stelle erwähnt, stören mich schon die Begriffe Unter-, Arbeiter-, Mittel- und Oberschicht. Mit dem Begriff Unterschicht assoziiere ich auch den menschenverachtenden Begriff des Untermenschen, der von den Nazis verwendet wurde. Mir fehlt jegliches Verständnis dafür, dass in unserer Gesellschaft nur aufgrund der Fixierung auf Einkommen und Besitz unterschiedliche Maßstäbe an einen Menschen angelegt werden. Ein gehirnamputierter Nazi aus der Unterschicht ist genauso ein Arschloch wie ein Hobby-Hitler aus der Oberschicht. Für mich zählen die positiven Werte, wie beispielsweise die persönliche Wertschätzung, Anerkennung, Loyalität, Fairness und der Respekt, die ein Mensch in sich trägt und nach außen vertritt. Auch dafür muss niemand religiös sein.

 

Meine ersten Erfahrungen mit illegalen, halluzinogenen Drogen begannen bereits 1970, als ich gerade mal 15 war. Wie und warum es geschah? Ich versuche es im Folgenden zu erklären. Neben meinem Religions-Ressentiment, explizit den römischen Katholibanen gegenüber, glaube ich, wie 80 % der Deutschen, nicht an Horoskope. Meine weise Oma Dine brachte mir als Kind bei, dass Glauben Nichtwissen bedeutet. Ungeachtet des mir fremdbestimmten Sternzeichen als Wassermann, kann ich meine positiven Wesenszüge ohne jedweden Hokuspokus selbst definieren. Dazu gehören beispielsweise die Hilfsbereitschaft, Aufrichtig- und Zuverlässigkeit, Originalität, Kreativität, Empathie, Freiheitsliebe und Geselligkeit. Viele meiner Abenteuer hätte ich nicht erlebt, wenn ich nicht eine ganz besondere Neigung hätte: Meine unbändige Neugier. Und hier vor allem die Neugier auf alles Neue.

Das war auch der Grund für meine frühen Experimente mit den verschiedensten illegalen Drogen. Ich habe vorhin den tragischen Fall meines ehemaligen Schulkameraden Franz-Josef [dem Karlsson vom Dach] geschildert. Mit den beiden LSD-Mikrotrips, die ich von ihm bekommen hatte, wollte ich frei nach dem Motto Jugend forscht einmal deren Wirkung ausprobieren. Seinem gut gemeinten Rat folgend, halbierte ich eine der Pillen auf einer meiner mittlerweile schon legendären U16-Feten im Partyraum meiner Eltern. Nun war es Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre, dass mir das Internet als Informationsquelle nicht zur Verfügung stand. Ich konnte also weder wissen noch ahnen, was auf mich zukommen würde. Jeder, den ich vorher nach der Wirkung gefragt habe, hat mir gesagt: „Probier‚s mal aus.“

 

Eine Straße, die offensichtlich und im wahrsten Sinne des Wortes gottverlassen war. Ich beginne mit dem Schicksal der Familie A. Die erste Tragödie traf diese Familie, als ihre 16-jährige Tochter R. [aus Pietätsgründen nenne ich ihren Vornamen nicht], die ich nur vom Sehen kannte, am helllichten Tag in unmittelbarer Nähe ihres Elternhauses vergewaltigt und ermordet wurde. Der Tatort lag am Rande des Sternbuschs, eines kleinen Waldgebietes inmitten der Stadt Voerde. Dieser wird von der Bahnlinie Emmerich-Oberhausen, der Bahnhofstraße und dem Sternbuschweg begrenzt. Das Opfer befand sich in den frühen Morgenstunden auf dem Weg zur Arbeit, als der Täter an einer von allen Seiten gut einsehbaren Stelle zuschlug.

Der Tatort befand sich nur fünf bis sechs Meter hinter einem der Tore des alten Bolzplatzes an der Bahnhofstraße. Dieser Weg diente vielen Anwohnern als Abkürzung zum Bahnhof, sodass der Täter immer mit unerwartet vorbeikommenden Passanten rechnen musste. Zum Verhängnis wurde dem Täter, dass der ermittelnde Duisburger Kommissar etwa sechs Wochen nach der Tat zufällig den Tatort erneut inspizierte. Ihm fiel ein Mann auf, der sich etwa 80 Meter vom Fundort der Leiche entfernt verdächtig verhielt. Es heißt, dass es den Täter immer wieder an den Tatort zurückzieht. In diesem Fall stimmte das hundertprozentig. Nach dessen Festnahme stellte sich heraus, dass es sich um einen mehrfachen Familienvater aus Bocholt handelte. Als Verkaufsfahrer eines bekannten Direktvertriebs für Tiefkühlkost und Eis war seine Tarnung perfekt.

 

Obwohl ich in meinen Heimjahren von Dutzenden für mich unsichtbaren Kindern umgeben war, war mir der Umgang mit Geschwistern fremd. Dennoch habe ich nie in meinem Leben einen Bruder oder eine Schwester vermisst. Als ehemaliges Heimkind konnte ich beobachten und fand es bewundernswert, dass die Kinder in den Großfamilien ein viel stärkeres Zusammengehörigkeitsgefühl und eine höhere Kompromissbereitschaft hatten, als es damals wie heute in den Kleinfamilien üblich ist. Toll fand ich in diesen Familien auch, dass die Kinder lernen mussten, ihre eigenen Interessen zurückzustellen und die Jüngeren durch die Erziehungskompetenz der Älteren deutlich zur Entlastung der Eltern beitrugen. Was Spielzeug und Kleidung anging, waren diese Kinder aufgrund der meist knappen Haushaltskassen auch kreativer und einfallsreicher, denn Not macht bekanntlich erfinderisch. Daraus entwickelte sich zwangsläufig ein anderes Konsumverhalten, das zu einer Erziehung zu mehr Selbständigkeit und zu einem gesunden Umgang mit Wirtschaftsgütern führte.

Resi lag derweil schon textilentfremdet im Bett und legte auf ein großes Vorspiel scheinbar keinen großen Wert. Während ich für Deutschland ackerte, griff sie zwischendurch immer wieder in eine Chipstüte, die sich auf ihrem Nachttischchen befand. Nachdem ich mir das Rascheln der Tüte und das Geschmatze der zerkauten Chips lange und oft genug angehört hatte, war nicht nur mein Dödel nach mehreren Versuchsbohrungen sauer. Wütend griff ich nach einer gleichfalls auf dem Nachttisch liegenden Rundhaarbürste und stopfte ihr diese bis zum Anschlag in ihre Vulva. Kommentarlos und enttäuscht zog ich mich an und ging unbefriedigt den gleichen Weg zurück, den ich zuvor gekommen war.

Nachdem ich den Vorfall längst vergessen hatte, erhielt ich Wochen später unerwartet Post von der Staatsanwaltschaft Duisburg. Nanu, dachte ich so. Was soll denn das? Ich war mir absolut keiner Schuld bewusst. Als ich den Brief öffnete, erfuhr ich, dass mich Schrubber wegen Körperverletzung angezeigt hatte. Wie das? Was ich bei der ganzen Bürstenaktion nicht bemerkt hatte, war die Tatsache, dass Schrubber bei dem unvollendeten Akt einen Tampon trug. Als sie wegen meiner Verzweiflungstat das Bändchen des Tampons nicht mehr fassen konnte, ging sie am nächsten Tag zu ihrem Gynäkologen. Dieser Moralapostel überzeugte sie, mich bei der Polizei anzuzeigen. Zu gerne hätte ich das verdutzte Gesicht des Beamten gesehen, der die Anzeige entgegennahm.

Mike [li.] & Klaus H. []
Benidorm / Spanien

Augen- und Ohrenzeugen berichteten übereinstimmend, dass Gunnar ihn mehrfach wild gestikulierend aufgefordert habe, mit dem Unsinn aufzuhören, zumal sich seine Zigaretten und sein Feuerzeug im Boot befänden. Wolfgang ignorierte diese Warnungen und das Boot kenterte. Gunnar, und das ist das eigentlich Tragische an diesem vermeidbaren Unglück, war nur etwa fünf Meter vom rettenden Ufer entfernt, als er um sein Leben kämpfte. Und das alles vor den Augen Dutzender Badegäste, von denen keiner den Ernst der Lage erkannte. Als ein in der Nähe befindliches Patrouillenboot der DLRG am Unglücksort eintraf, war es für Gunnar bereits zu spät. Er starb im Alter von nur 20 Jahren. R.I.P. Nach diesem Unglück wandte sich Wolfgang, der sich seiner nicht wieder gutzumachenden Schuld bewusst war und später wegen fahrlässiger Tötung verurteilt wurde, von der Gruppe ab. Im Nachhinein habe ich mir schwere Vorwürfe gemacht, dass ich an diesem Tag nicht mitgefahren bin. Ich kenne die Gefahren, die von Baggerlöchern ausgehen, und als ausgebildeter Rettungsschwimmer hätte ich mit großer Wahrscheinlichkeit seinen sinnlosen Tod verhindern können.

Anlässlich seiner Beisetzung auf dem Kommunalfriedhof in Voerde, an der Wolfgang nicht teilnahm, ging ich anschließend, innerlich noch tief aufgewühlt und traurig, allein über den Totenacker. Mit Entsetzen stellte ich dabei fest, dass zu diesem Zeitpunkt bereits viele meiner Freunde und Bekannten allein auf diesem Friedhof ihre letzte Ruhestätte gefunden hatten. Ich selbst war zu diesem Zeitpunkt gerade mal 17 oder 18 Jahre jung. Jeder ihrer Grabsteine, an dem ich einen Moment verweilte, erinnerte mich an sie und ihre Todesursache. Es waren alles Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene, etwa 20 an der Zahl, von denen keiner seinen 22. Geburtstag hat feiern können. Junge Menschen, gestorben an Krebs, anhand von Drogen, ertrunken, erstickt beim Schnüffeln, verbrannt in Polizeigewahrsam, erwürgt von ihrem Mörder, an den Folgen von schweren Verkehrs- und Arbeitsunfällen, schweren Körperverletzungen und Selbsttötungen. Als ich so um die 21 Jahre alt war, riss diese unheimliche Serie von Todesfällen in meinem Bekannten- und Freundeskreis für mehr als zwei Jahrzehnte abrupt ab. Ich habe keine Antwort auf die Frage, warum Gevatter Tod in meiner Jugend so oft mein Begleiter war.

Nachdem wir sieben Tage hintereinander abends die Hausbar am Pool zum Vorglühen genutzt, nachts die Discos und Bars unsicher gemacht und tagsüber unseren Rausch ausgeschlafen hatten, war es an der Zeit, die Sehenswürdigkeiten der Umgebung zu besichtigen. Dazu benutzten wir den Alfa. Wie der Teufel es wollte, führte uns der Rückweg direkt auf den Parkplatz der Diskothek Penelope. Noch vor Sonnenaufgang traten wir die Heimreise an, Willi und ich stramm wie Haubitzen, Klaus als Fahrer hielt sich mit alkoholischen Getränken zurück. Ich legte mich sofort auf die Rückbank und schlief kurz darauf ein. Was ich dir jetzt erzähle, wirst du sicher für unglaublich halten. Aber es ist genau so passiert: Während der Fahrt zum Hotel muss ich aus dem Schlaf heraus geschrien haben: „Halt, halt!!!“

Klaus war wohl so erschrocken, dass er in Sekundenbruchteilen eine Vollbremsung hinlegte. Dann drehten sie sich zu mir um und stellten fest, dass ich bewegungs- und geräuschlos schlief. Irritiert stiegen sie aus, öffneten die hintere Beifahrertür und rissen mich aus dem Schlaf. Nachdem ich ausgestiegen war, blickten wir drei uns zunächst dumm an und schauten dann in die Richtung, in die Klaus mit dem Alfa gefahren war. Was wir dann sahen, ließ uns das Blut in den Adern gefrieren: In höchstens 20 Metern Entfernung befand sich ein tiefer Abgrund! Einen Sturz aus dieser Höhe hätte sicher keiner von uns überlebt. Doch wie waren wir überhaupt in diese Situation geraten? Klaus hatte sich offensichtlich verfahren und eine vermeintliche Abkürzung über diesen unbeleuchteten Schotterweg genommen.

Mit zum Erlebnisprogramm gehörte des weiteren, wie der Bau eines Zeltlagers in der Wildnis ohne Strom und fließendem Wasser mittels eines Erdarbeitsgerät [Klappspaten] auszuführen ist. Einer der Ausbilder, ein junger Unteroffiziere [Uffz] meinte jedes Mal seinem Befehl Stillgestanden! noch den Satz hinzufügen zu müssen: „Und da rührt sich kein Sackhaar und wenn der ganze Himmel voller Fotzen hängt!“ Einmal ist mir dabei die Frage „Und was ist mit den Titten?“ laut herausgerutscht. Das hat mir vor der versammelten Ausbildungskompanie neben Sympathie noch 15 Liegestütze eingebracht. Zur Kernkompetenz zählten auch die Grundlagen des Gefechtsdienstes [Täuschen, Tarnen und Verpissen, kurz TTV] sowie die Orientierung mittels Kompass. Ebenso unvergesslich bleibt mir ein zweitägiges Feldlager, zu dem ich mit 20 Kilogramm Gepäck auf den Schultern anreiste und bei klirrender Kälte in einem Ein-Mann-Zelt übernachten durfte.

Zu den Höhepunkten dieses Überlebenstrainings gehörten das Ausheben von tiefen Fäkaliengruben im gefrorenen Boden, das Bauen von Donnerbalken und das Kochen und Verzehren einer sogenannten Notverpflegung aus einem Appetitzüglerpaket [kurz EPA = Einpersonenpackung]. Von Ede habe ich bei dieser Gelegenheit gelernt, wie man ein sibirisches Scheißhaus benutzt: „Mit einer Hand den Balken festhalten, mit der anderen Wölfe und Bären abwehren“. Eine andere Redewendung, die er benutzte und die auch ich später übernahm, um vor unvermeidlichen körperlichen Auseinandersetzungen zu warnen, lautete: „Hau ab, sonst brauchst du gleich zwei Paar Stiefel zum Bremsen!“ Danach war meistens Ruhe.

Bundeswehr 74/75
rechts Ede []

Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass weit und breit kein Streifenwagen in Sicht war, raste ich wenige Minuten später mit einer gehörigen Portion Wut im Bauch, quietschenden Reifen und quer zur Fahrbahn auf das offene Kasernentor zu. Gerade als ich mich über das offene Kasernentor wundere, kommt mir was entgegen? Ede im selben Polizeiwagen mit denselben Beamten, die mich kurz zuvor aus dem Verkehr gezogen haben! Nach einigem Hin und Her vor dem Kasernentor, mein Auto wurde auf dem Parkplatz vor der Kaserne abgestellt und wieder nicht kontrolliert, ging es zurück zur Wache. Ede und ich waren so hackedicht, dass wir vor und während der Blutabnahme ständig an der Wand entlang rutschten oder vom Stuhl fielen. Nach einiger Zeit hatte die Staatsmacht endlich unsere Blutproben.

Auf der kurzen Taxifahrt zurück zur Kaserne fragte ich Ede nach dem Grund seiner Festnahme. Ohne sie wäre ich kein zweites Mal mit Alkohol am Steuer und ohne Führerschein erwischt worden. Er sagte, er sei zu besoffen gewesen, um zu Fuß in die Alkoholiker-Aufbewahrungs-Anstalt zu gehen. Also habe er sich kurzerhand ein herumstehendes Moped ausgeliehen. Was ihn dann geritten hat, konnte er mir nicht erklären. Vielleicht hatte er Angst, dass man ihm das gestohlene Moped klauen könnte? Jedenfalls schleppte er das schwere Ding irgendwie in den ersten Stock unseres Kompaniegebäudes und drehte frühmorgens gegen vier Uhr fröhlich ein paar Runden auf dem Flur. Allerdings nicht, ohne durch mehrere geschlossene Zimmertüren zu fahren.

Über das KFZ-Sachverständigen-Gutachten erfuhr ich einige Tage später, dass mein schnurgerader Bremsweg bis zur Kollision noch 54 Meter betrug. Der Audi, samt der drei Insassen, wurde durch die Wucht des Aufpralls rund 16 Meter von meinem BMW entfernt geborgen. Aus dem Bremsweg auf dem trockenen Asphalt errechnete der Gutachter eine Aufprallgeschwindigkeit auf ein stehendes Hindernis von etwas unter 60 km/h. Einen Tag nach dem tragischen Unfall musste ich auf die Polizeistation, um meine Aussage zu Protokoll zu geben. Bei dieser Gelegenheit wurde mir auch mein Führerschein wieder ausgehändigt, da die Blutprobe nur 0,28 ‰ ergeben hätte. Ab 0,3 ‰ wäre mir ein zusätzliches Verfahren wegen Trunkenheit am Steuer sicher gewesen.

Von dem Beamten erfuhr ich auch, dass es sich bei den drei Verletzten um ein etwas älteres Ehepaar und eine weitere Frau handelte. Die beiden Frauen, eine davon die Ehefrau des Unfallverursachers, waren schwer, aber nicht lebensgefährlich verletzt. Der Fahrer hingegen schwebte in Lebensgefahr und befand sich im katholischen Krankenhaus in Dinslaken. Zwei Tage später erhielt ich telefonisch die schreckliche Nachricht, dass der Fahrer in der Nacht zuvor an seinen Verletzungen verstorben war. Auch wenn ich eine Mitschuld am Tod dieses Mannes nicht leugne und mich ein schlechtes Gewissen plagt, so trägt in meinen Augen das Ärzteteam des Krankenhauses eine nicht unerhebliche Mitschuld. Es hat sich nämlich herausgestellt, dass bei dem Unfallopfer, wahrscheinlich aus Personal- und Zeitmangel zwischen den Feiertagen, ein Milzriss nicht diagnostiziert wurde. Und genau daran ist der Mann gestorben.

Da wir uns als Angeklagte nur mit unseren Pseudonymen ansprachen, verlor der gute Herr Richter zwar nie die Kontrolle, aber manchmal doch den Überblick. Als der Richter genug hatte, da 15 der mir vorgeworfenen Taten bis dahin nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden konnten, rief er uns drei in sein Richterzimmer. Er eröffnete mir, dass die Anklage und das Gericht ihr Gesicht verlieren, wenn ich nicht wenigstens die letzte mir zur Last vorgeworfene Tat zugeben würde. Nach einer kurzen Beratung mit meinem Anwalt nahm ich wieder auf der Anklagebank Platz. Während der Gerichtsverhandlung konnte ich mein oscarreifes schauspielerisches Talent unter Beweis stellen. Ich begann, die Lügen, die ich dem Gericht erzählte, selbst zu glauben.

Im letzten Anklagepunkt wandte ich mich wie ein Aal und äußerte mich vage. Ohne die Mitangeklagten zu belasten, sagte ich aus, dass es so gewesen sein könnte, dass ich mir nicht sicher war und dass es eventuell möglich gewesen sei. Nach diesem schwammigen Geständnis wurde mein Vorstrafenregister um einen weiteren Eintrag erweitert. Allerdings blieb es bei der zuvor vom Richter zugesagten Geldstrafe in Höhe von 400 DM. Zum Schluss gab er mir noch den gutgemeinten Rat, ihm künftig nicht mehr vor Gericht unter die Augen zu treten. Ich gelobte ihm mal wieder Besserung und machte beim Verlassen des Gerichtssaals den Fehler ihm auf Wiedersehen zu sagen.

Mein Benz 280 SE und ich [1979]

Von ihr erfuhr ich unter anderem, dass sie trotz des erlittenen Leids, das sich wie ein Makel tief in ihr stets blasses Gesicht eingegraben hatte, noch immer mit ihrer zwei Jahre jüngeren Schwester in der Wohnung ihrer leiblichen Mutter Im Osterfeld lebte. Besonders schockierend war für mich die Tatsache, dass der jahrelange Missbrauch mit Wissen der leiblichen Mutter geschehen war. Das Osterfeld, direkt im Zentrum von Voerde gelegen, galt als sozialer Brennpunkt. Obwohl der Stiefvater inhaftiert war, war es für mich völlig unverständlich, dass das zuständige Jugendamt der Stadt Voerde in der Zwischenzeit keine Anstrengungen unternommen hatte, Eva und ihrer Y. eine andere Wohn- oder Mitwohnmöglichkeit anzubieten. Der Stiefvater war für seine abscheulichen Verbrechen lediglich zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt worden! Warum Evas Mutter nicht mitverurteilt und zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, konnte ich beim besten Willen nicht verstehen. Aber es sollte noch schlimmer kommen. Viel schlimmer.

An der geöffneten Wohnungstür haben wir der Mutter, die feige Triebsau, obwohl zu Hause, traute sich nicht, mit uns zu reden, eine Drohung ausgesprochen: Sollte der Kinderficker es wagen, mit der inzwischen 15-jährigen Stieftochter in irgendeiner Form Kontakt aufzunehmen, würden wir diese in die Tat umsetzen. Die gleiche Drohung galt auch für die fette Schlampe, obwohl zu diesem Zeitpunkt die von mir initiierte familiengerichtliche Entscheidung noch nicht vorlag. Trotzdem betrachtete ich die Sache für mich als erledigt. Ich sollte mich wieder einmal irren. Wenn ich an diese Zustände denke, bin ich heute noch fassungslos, traurig und wütend! Unglaublich, aber wahr: Als dieses Monster kurz nach seiner Entlassung von seiner Frau die Befriedigung seiner sexuellen Gelüste verlangte, verwies diese ihn eiskalt und skrupellos an ihre jüngere Tochter! Das brachte für uns das Fass zum Überlaufen.

Das Versagen der Justiz und des zuständigen Jugendamtes in diesem Fall ist für niemanden nachvollziehbar. Schlimmer noch: Solche perversen Kreaturen werden von der Justiz und dem Jugendamt auch noch mit Samthandschuhen angefasst, weil man diese perversen Kinderschänder heutzutage als psychisch krank einstuft. Die einzige Gerechtigkeit, die diesem Abschaum der Menschheit im Gefängnis widerfährt, ist zum Glück die der Mitgefangenen, in deren Hierarchie sie ganz unten stehen und nicht selten das bekommen, was sie verdienen. Ich bin kein Freund von Selbstjustiz, aber ich würde Sexualstraftäter nicht durch sinn- und zwecklose Therapiesitzungen heilen, sondern durch eine wesentlich billigere Kastration. Doch soweit sollte es im Fall von Evas Stiefvater nicht kommen. Wie ich im folgenden Winter erfuhr, fand man ihn in den frühen Morgenstunden erhängt an einer einsam gelegenen Kreuzung im Ortsteil Voerde-Mehrum. Er musste von einem Seil abgeschnitten werden, das um ein Stoppschild geschlungen war, und niemand konnte sich erklären, wie er das ohne Leiter geschafft hatte. Psalmen 28:4: „Gib ihnen nach ihrer Tat und nach ihrem bösen Wesen; gib ihnen, nach den Werken ihrer Hände; vergilt ihnen, was sie verdienet haben!“


Hinweis:

Während ich in meinen Gedankensplittern I und II die jeweiligen Artikel thematisch vertieft habe, widme ich mich unter Was aus ihnen wurde des ersten Bandes meiner Autobiografie abschließend den Menschen, die mein Leben entscheidend geprägt haben, und erzähle, was aus ihnen geworden ist.


Die Erinnerungen verschönern das Leben. Aber erst das Vergessen macht es erträglich.

Ich bin jetzt seit exakt seit 24837 Tagen und 68 Jahre Bewohner auf unserem wunderbaren und einzigartigen blauen Planeten. Wie aus der bisherigen Chronologie ersichtlich ist, habe ich unglaubliche neun Jahre gebraucht, um die Urfassung meiner Autobiografie eines ehemaligen Heimkindes Band I zu schreiben. Es gibt verschiedene Gründe, warum ich 2007 aufgehört habe, meine Kindheits- und Jugenderinnerungen aufzuschreiben. Und ich möchte sie Dir nicht vorenthalten. In der Zeit seit meinem Umzug von Essen nach Köln im Februar 2001 war ich aus unterschiedlichen Gründen gezwungen, insgesamt fünfmal meinen Wohnsitz innerhalb meiner Sehnsuchtsstadt zu wechseln. Am 01.02.2006 habe ich meine jetzige Wohnung im Kölner Agnesviertel bezogen. Hier wohne ich nun seit über 18 Jahren in ein und derselben Wohnung. Ein Rekord! Noch nie in meinem Leben war ich so lange an einem Ort.

Trotz zahlreicher weiterer Beziehungskatastrophen mit der Spezies Mensch, einer Diagnose mit anschließender 34-facher punktgenauer Bestrahlung im Jahr 2005 wegen Darmkrebs im Frühstadium, einigen Todesfällen im Familien- und Bekanntenkreis, einer sechswöchigen tiefen Bewusstlosigkeit im Jahr 2016 und weiteren gesundheitlichen Krankheitsprozessen, die zu einer deutlichen Beeinträchtigung meiner Lebensqualität geführt haben, arbeite ich weiter an meinem eigenen Mythos. Daran, dem einen oder anderen Freund der Zeit als unkaputtbar und Ratgeber in Sinnkrisen in Erinnerung zu bleiben. Auch als Minimalist mit nur noch einer Handvoll sozialer Kontakte, meinem Ausstieg aus der schwulen Subkultur vor vielen Jahren, der hinter uns liegenden globalen Corona-Pandemie und den großen sozialen und wirtschaftlichen Verwerfungen, Kriegen und Krisen bin und bleibe ich ein lebensbejahender Mensch.

Ich hatte gerade meine sechswöchige Grundausbildung bei der Bundeswehr in der Hindenburg-Kaserne in Munster absolviert und war innerhalb der Kaserne in eine neue Unterkunft verlegt worden, als ich am 20.10.1974 ohne Angabe von Gründen zum dortigen Kompaniechef [Spieß] beordert wurde. Völlig unerwartet teilte mir dieser mit, dass meine geliebte Großmutter Dine in der Nacht zuvor verstorben sei. R.I.P., in Liebe und Dankbarkeit. Die Frau, der ich so unglaublich viel zu verdanken habe, ist mit 69 Jahren von mir gegangen, ohne dass ich ihr mit Worten sagen konnte, wie sehr ich sie geliebt und ihr Lebenswerk geschätzt habe. Dass sie von ihrem langjährigen Hausarzt in das Evangelische Krankenhaus in Dinslaken eingewiesen worden war, wusste ich zwar aus einem vorangegangenen Telefonat mit meiner Mutter, die mir beruhigend mitteilte, dass es sich nicht um eine lebensbedrohliche Erkrankung handeln würde.

Die Stunden vor, während und nach der Beerdigung erlebte ich nicht als trauerndes Familienmitglied, sondern eher als geistesabwesender Zuschauer. In dem Moment, als ich an der Reihe war, ein Schäufelchen Sand und einen kleinen Blumenstrauß auf ihren Sarg zu werfen, war für mich klar, dass ich im Falle meines Todes auf keinen Fall auf einem Friedhof in kalter, modriger Erde begraben werden möchte, wo mein Körper mit der Zeit von Würmern zu einem Skelett zerfressen wird. Nachdem ich 2016 während meiner sechswöchigen tiefen Bewusstlosigkeit durch zwei notwendige Notoperationen, künstliche Beatmung und Ernährung dem Teufel von der Schippe gesprungen war, kam mir die zündende Idee: Da auch eine Feuerbestattung für mich nicht infrage kommt, ich der Nachwelt keine sündhaft teure Grabstätte und sinnlose Grabpflege hinterlassen möchte, habe ich mit Vertrag vom 08.11.2018 meine sterblichen Überreste dem Institut für Plastination, vielen bekannt unter Körperwelten, als Ganzkörperspende zu wissenschaftlichen Zwecken vermacht. Auf diese Weise wird man mich noch viele Jahrzehnte lang als anatomisches, allerdings anonymes Anschauungsobjekt weltweit bewundern können.

Es schmerzt mich bis heute, dass ich keine intensivere Mutter-Kind-Bindung zu ihr aufbauen konnte. Vielleicht war ich zu alt, als wir uns kennenlernten? Als ich noch ein Pflege- und später ein Adoptivkind war, hat sie sicher die seltenen Momente genossen, in denen sie mit mir kuscheln, mich streicheln und meine Hand halten konnte. Leider beruhte dies aufgrund meiner zerrütteten Gefühlslage selten auf Gegenseitigkeit. Zärtlichkeiten wurden so gut wie nie ausgetauscht und Küsse gab es, wenn überhaupt, nur auf die Wange. Das mit dem Küssen galt übrigens für alle Familienmitglieder. Dankbar bin ich ihr auch dafür, dass sie mir schon früh meine Freiheiten ließ und mich förderte, wenn ich es zuließ. Sie begegnete mir früh auf Augenhöhe und stand immer hinter mir, wenn es darauf ankam. Ohne Wenn und Aber. Auch dafür, dass sie in meiner Kindheit ihre eigenen Bedürfnisse für mich auf ein Minimum reduziert hat, gebührt ihr mein größter Respekt, meine Dankbarkeit und meine tiefe und aufrichtige Zuneigung.

Exemplarisch schilder ich eine Situation, die sich an Mutters 63. Geburtstag im Kreise ihrer Gäste in ihrem Haus abspielte: Nur um mich bei ihr in Misskredit zu bringen, sagte Heidi, von der ich mich wenige Wochen zuvor getrennt hatte, mit süffisantem, triumphierendem Unterton: „Weißt du, dass dein Sohn schwul ist?“ Meine Mutter, der ich meine Homosexualität bis dahin nicht gestanden hatte, antwortete wie aus der Pistole geschossen: „Na und? Der Junge darf so sein, wie er ist!“ Diese tolerante Haltung hätte ich mir auch von meinem Vater und vielen meiner damaligen Wegbegleiter gewünscht. Meine Mutter hat mir später einmal in einem Vieraugengespräch erzählt, dass sie die ganzen Jahre über eine Ahnung von meiner wahren sexuellen Orientierung hatte.

Von Oma Dine habe ich als Jugendlicher erfahren, dass es wohl am Anfang eine Liebesheirat war, die sich im Laufe der Zeit [wie bei den allermeisten Ehepaaren] schleichend zu einer Zweckgemeinschaft entwickelt hat. Ebenfalls heute unvorstellbar: Auf eine kirchliche Trauung mussten die beiden damals verzichten, da sie unterschiedlichen Konfessionen [katholisch und evangelisch] angehörten. Für die ewiggestrige römisch-katholische Kirche war dies ein Ehehindernis, das nur durch eine hoheitliche Ausnahmegenehmigung hätte beseitigt werden können. Im Gegenzug hätte meine Mutter in Gegenwart katholischer [!] Zeugen eine eidesstattliche Verpflichtungserklärung abgeben müssen, dass alle aus dieser Ehe künftig hervorgehenden Kinder nicht nur katholisch getauft, sondern auch im katholischen Sinne erzogen werden müssten. Taff wie meine Mutter war, hat sie auf die kirchliche Trauung in Weiß geschissen. Neben der Mischehe waren meine Eltern in den ersten Jahren ihrer Ehe auch wegen des Altersunterschiedes von acht Jahren der gesellschaftlichen Ächtung ausgesetzt.

Langsam schließe ich dieses letzte Kapitel, das vom Verlust geliebter Menschen geprägt ist. In meinen bisherigen Ausführungen habe ich einen Menschen in ein schlechtes Licht gerückt: meinen Adoptivvater. Dass er jedoch auch gute Seiten hatte, hat er, wie zwischen den Zeilen angedeutet, in der Vergangenheit mehrfach bewiesen. Im Folgenden werde ich jedoch das negative Bild, das ich bisher von ihm gezeichnet habe, revidieren. Ungeachtet des von mir lange so empfundenen Spannungsverhältnisses, hat Karl-Heinz nach der Geburt meiner beiden Söhne 1979 und 1981 eine Wandlung vollzogen, die ich von ihm weder gekannt noch erwartet hätte. Bis zu diesem Zeitpunkt war ich davon überzeugt, dass er zwar kein Kinderhasser war, aber generell nicht viel mit Kindern anzufangen wusste. Im Laufe der Zeit entwickelte sich mein Vater jedoch noch zu einem liebe- und verständnisvollen Opa Charly. Allerdings hatte er, wie bei mir auch, Schwierigkeiten, seinen wahren Gefühlen Ausdruck zu verleihen.


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