= L E S E P R O B E =

Wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.

Kapitel 1: Im Kinderseelen-Vernichtungslager [1955 – 1962]

Aller Anfang ist schwer. Womit beginnen? Wie lange wird es dauern? Wann endet es? Eine schlimme Krankheit kann man heilen. Das Leid einer von Brutalität, physischer, physischer und sexueller Gewalt geprägten frühen Kindheit auch? Du und ich, wir werden es erleben. Oder auch nicht. Die Wurzeln meiner psychischen Störungen, aus denen ich keinen Hehl mache, liegen ganz sicherlich in den Vorkommnissen und Erlebnissen aus meiner frühesten Kindheit. Ich werde oft während des Schreibens seelische und psychische Schmerzen verspüren und sicherlich bei der einen oder anderen Erinnerung meinen jeweiligen Gefühlen freien Lauf lassen.

Es sind die Schmerzen und Tränen eines kleinen Jungen und seiner [lange Zeit von ihm nicht wahrgenommenen] verletzten Seele, die ihm in Momenten absoluter Ruhe so viel zu sagen hätte. Momente, die mir mein unstetes Leben, meine innere Unruhe bisher verwehrt haben. Sicherlich werde ich aber auch auf meinen rückwärtsgewandten, in Gedanken versunkenen Reisen hier und da amüsiert schmunzeln und mir ein verschmitztes Lächeln nicht verkneifen können. Denn wie so vieles in unserem Leben liegt es oft ganz nah beieinander: Liebe und Abneigung, Weinen und Lachen, Freud und Leid, Ehrlichkeit und Lüge, Treue und Scheintreue, Vergangenheit und Zukunft, Angst und Mut, Gefangenschaft und Freiheit.

Links: Klein-Mike um 1956

Klein-Mike & ? [um 1956]

Ich beginne meine Spurensuche mit den gesicherten Daten zu meiner Person: Nach meiner Geburtsurkunde, die mir erst 1978 ausgehändigt wurde, begann ich am 4. Februar 1955 gegen 23 Uhr im für Kölner und Kölnerinnen verbotenen Düsseldorf, im Industrieviertel Derendorf, Ulmenstraße 83, mit meinen ersten selbständigen Atemübungen. Im Lieferumfang enthalten war eine auf meinen Namen ausgestellte imaginäre Arschkarte. Meine Recherchen ergaben, dass sich die Schande von Monschau in der Nacht von Freitag auf Samstag ereignet hatte. Eine nasskalte Winternacht, die wohl nur für zwei arme Geschöpfe von besonderer Bedeutung war. Unter obiger Adresse befindet sich derzeit eine Wohngemeinschaft für Mutter und Kind. Und wie passend: betrieben vom barmherzigen Sozialdienst katholischer Frauen und Männer Düsseldorf e.V.. Dahinter verbirgt sich nichts anderes als die Caritas, ein katholischer Ableger des geldgeilen Beschaffungskartells mit Sitz in Rom.

Alle Informationen über meine Geburt und meine Säuglingszeit liegen im Dunkeln. Wir beide hatten das große Glück, dass das neue atomare Gesamtkunstwerk vollständig, äußerlich ohne erkennbare Missbildungen und ohne chromosomale oder durch Alkohol oder Drogen erworbene Behinderungen im Kreißsaal als Gast des Lebens auf dem perfektesten Planeten unseres gesamten Universums das Licht der Welt erblickte. Nicht auszudenken: Wie anders wäre mein Leben verlaufen, wenn ich beispielsweise die Gene eines skrupellosen Drogenbarons, Diktators, Serienvergewaltigers, intriganten Kirchenfürsten, korrumpierbaren Politikers, verlogenen Bankers oder islamistischen Selbstmordattentäters geerbt hätte?

Wie meine biologische Mutter bei meiner Geburt mit vollem Namen hieß, erfuhr ich ebenfalls erst durch Einsicht in meine Abstammungsurkunde. Zu diesem Zeitpunkt war ich bereits 23 Jahre alt und stand kurz vor meiner standesamtlichen Hochzeit. Um diese eintragen zu können, benötigte das Standesamt eine Geburtsurkunde, aus der ich jedoch nur wenige Daten über meine Abstammung entnehmen konnte. Da mein leiblicher Vater darin nicht erwähnt wurde, gehe ich davon aus, dass er von meiner Existenz nichts wusste oder nichts wissen wollte. Ein Umstand, der mir nach all den Jahren völlig gleichgültig geworden ist.

Die damalige Entscheidung meiner leiblichen, alleinerziehenden und mit ihrer eigenen und meiner Lebenssituation wohl hoffnungslos überforderten Mutter, mich als fleischgewordenes, schändliches, uneheliches Erbgut in diesen Zeiten nicht artgerecht halten zu können, habe ich dennoch all die Jahre immer akzeptiert. Dass sie mich, um für sich alleine halbwegs klarzukommen, in Stifte und Kinderverwahranstalten verfrachtete und damit ihrer Liebe entzog, habe ich ihr nie besonders übel genommen. Ich hege keinen Groll gegen sie. Was ich ihr hingegen wirklich übel nehme, ist die Tatsache, dass sie sich so verdammt lange Zeit gelassen hat, mich endlich zur Adoption freizugeben.

Eine Entscheidung, die sie schon lange vor meiner Geburt in Düsseldorf hätte treffen können. Wer weiß, in welchen Bahnen mein Leben ansonsten verlaufen wäre? Und erst recht das meiner unzähligen Wegbegleiter? Vielleicht beantwortet die Zukunft meine diesbezüglichen Fragen, die ich ihr nicht stellen kann. Ich weiß ja noch nicht einmal, ob sie noch unter den Lebenden weilt. Vielleicht war es für mich eine Bestimmung, quasi das Glück im Unglück? Gleichwohl: Ludi incipiant, die Spiele mögen beginnen. Um die Um- und Missstände der damaligen Zeit besser zu verstehen, fahre ich nachfolgend mit dem mir diesbezüglich bekannten Wissen über meine Person fort.

Erst 1998 erhielt ich von meinen Adoptiveltern einen an mich gerichteten, handschriftlich verfassten Brief von einer Anna, die sich darin als Anna Dann an mich wendet. Dieses Schreiben vom 30.10.1980 hatten mir meine Eltern, wahrscheinlich aus Gründen einer völlig unbegründeten Verlustangst, über 18 Jahre lang vorenthalten. Es war wohl unter anderem dieser Brief, der in mir, nach Jahrzehnten der Gleichgültigkeit, allmählich das Verlangen weckte, Antworten auf Fragen zu bekommen, die ich zuvor so noch nie gestellt hatte. Mit meiner Volljährigkeit [mit 21 Jahren] das Volljährigkeitsalter mit 18 trat erst am 01.01.1975 in Kraft, fragte mich mein Adoptivvater einmal beiläufig, ob ich etwas über meine Herkunftsmutter erfahren wolle, was ich aber damals entschieden ablehnte. Wozu auch? Als ihre erstgeborene Frucht der Liebe habe ich sie nie kennen, geschweige denn achten und lieben gelernt.

Dem ominösen Schreiben meiner Mutter konnte ich entnehmen, dass es sie zwischenzeitlich wohl nach Berlin verschlagen hatte. Selbst wenn es mich nicht sonderlich interessierte, erfuhr ich, dass ich noch eine Halbschwester namens Lu habe, die dem Brief zufolge in Düsseldorf wohnen würde. Nachdem ich mehrmals vergeblich versucht hatte, meine deutschstämmige Halbschwester mit dem chinesisch klingenden Vornamen, telefonisch unter der angegebenen Rufnummer zu erreichen, war mir schnell klar, dass diese in der Zwischenzeit nicht mehr in Düsseldorf lebte. Auf eine Antwort auf meinen vor Wochen an das Jugendamt der Stadt Köln gestellten Nachforschungsantrag warte ich bisher vergeblich.

Schnuller, eigene Kinderkleidung, Malstifte, Feste wie Ostern, Weihnachten, Geburtstage feiern, Kinderlieder üben und singen, Märchen vorlesen, sich kreativ entfalten, Freundschaften und Interaktionen mit anderen kleinen Leidensgenossen, Kinderbetreuung, exotische Früchte und kulinarische Köstlichkeiten, Naschereien, Turnen, Schwimmen, Ballspiele und das Erlernen sozialer Kompetenzen? Fehlanzeige! All das lernte ich erst kennen, nachdem ich aus der Festung Maria die Ungnädige entkommen war. Als ich diese Dinge zum ersten Mal sah und hörte, dürfte ich wohl wochenlang nur noch mit weit aufgerissenen Augen, offenem Mund und ungläubigem Gesichtsausdruck durch mein neues Leben gehüpft sein. Dem war aber nicht so, denn erstens war ich in den ersten Wochen in einer neuen Umgebung vor Ehrfurcht stumm und zweitens war ich aufgrund des Erlebten zu Gefühlsausbrüchen gar nicht fähig.

Als Ausgleich für die entgangenen frühkindlichen Lebensfreuden habe ich im Namen des Herrn statt dessen mehr als genug teuflische und an Sadismus grenzende Erfahrungen gemacht. Erfahrungen und Erlebnisse, die ich nicht machen wollte, nach denen ich natürlich nicht gefragt wurde und auf die ich gerne verzichtet hätte. Erfahrungen und Erlebnisse, die ich keinem Kind dieser Welt wünsche. Das Spiel der namen- und gesichtslosen Kinderquälerinnen, die mich in diesen frühen Jahren mit ihrem autokratischen Erziehungsstil umgaben, basierte vor allem auf verbaler und körperlicher Gewalt. Selbst mit ihren entwicklungshemmenden Herabwürdigungen, Abwertungen und Liebesentzug konnten sie mich längst nicht mehr zum Weinen bringen. Ein Vorteil meiner frühkindlichen Erziehung war der, dass ich das nicht existierende Spielzeug nicht vermisste und es auch nicht aufräumen oder mit jemandem teilen musste.

'Maria im Tann' - Aachen Bildchen

Maria im Tann – Aachen Bildchen

Vielleicht wurden wir statt mit leckeren, bunten Schokolinsen mit weniger leckeren, aber ebenso bunten Transquilizer- und Hypnotikapillen mit Langzeitwirkung gefügig gemacht? Als Altnazi hatte sie da sicher reichlich Erfahrung. Härte, unbedingter blinder Gehorsam, militärischer Umgangston und drastische körperliche Züchtigung statt christlicher Nächstenliebe bestimmten den Alltag. Irgendwie finde ich es jetzt spannend, dass ich mich nach Jahrzehnten des Verdrängens und Verleugnens mit der Aufarbeitung meines Kindheitstraumas beschäftige. Ich spüre, dass die alte Binsenweisheit „Glücklich ist, wer vergisst, was nicht zu ändern ist“ in meinem Fall nicht stimmt. Dinge, die ich in der Vergangenheit auf ein Abstellgleis geschoben habe, sind nur dem Zugriff meines Bewusstseins entzogen und in mein Unterbewusstsein verlagert worden. Verdrängt heißt aber nicht Vergessen

Die quälenden Fragen nach Antworten auf den Verlauf meiner ersten Lebensjahre haben sich mir in den letzten Monaten immer häufiger gestellt. Und es ist an der Zeit, dass ich sie mir in absehbarer Zeit selbst beantworte, denn ich kenne niemanden, der mir diese Antworten geben könnte. Ich bin aber darauf vorbereitet, dass nicht alle meine Fragen in Zukunft beantwortet werden. In diesem Fall gilt es, einen Mittelweg zwischen Vergessen und Erinnern zu finden. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich mich an das eine oder andere Ereignis aus dieser dunklen Zeit erinnern werde. Zu den Fragen, die ich mir und anderen nicht stellen kann, gehören zum Beispiel Fragen an Anna oder an Kinderärzte. Zum Beispiel Fragen über meine Kinderkrankheiten wie Masern, Mumps, Röteln oder Windpocken. Fragen zu Impfungen oder Erbkrankheiten.

Fragen über Fragen! Und doch sind es nur unbeantwortete Fragen einer ganz normalen frühkindlichen Entwicklung. Eine kompetente Kommunikation zwischen meinen Aufseherinnen und mir fand [wenn überhaupt] nur in eine Richtung statt. Keine Antwort auf gestellte Fragen? Ohrfeige. Widerspruch? Nächster Schlag mit der flachen Hand ins Gesicht. In die Hose gemacht? Kerker. Kindische, dumme Fragen gestellt? Ein Satz rote Ohren. Deshalb heulen? Die nächste Ohrlasche! Nicht aufgepasst? Drei Vaterunser, zwei Ave Maria und Essensentzug. Als Ausgleich für die Nichtbeantwortung meiner Fragen, wusste ich wohl schon mit vier Jahren, wie sich Hunger und Schmerz, Vernachlässigung und Misstrauen, sowie Liebes- und Kuschelentzug anfühlen.

In der Regel haben Eltern die Entwicklung ihres Kindes für eine gefühlte Ewigkeit auf Fotos und Filmen festgehalten. Stolz zeigen sie jedem [ob er will oder nicht] das erste Gekritzel, das erste bemalte Blatt ihres Sprösslings. Von mir gibt es keine zeitgenössischen Bilddokumente dieser Art. Kinder, die in einer intakten Familie aufwachsen, bekommen ihre Fragen in Ruhe beantwortet und oft auch kindgerecht erklärt. Schließlich haben sie ja Mama und Papa, Oma und Opa, Onkel und Tante und vielleicht noch ältere Geschwister, die sie mit Fragen löchern können. Gerade die ersten sieben Lebensjahre eines Kindes sind die prägenden Jahre für eine natürliche und gesunde Entwicklung. In diesen ersten Lebensjahren entwickelt sich jedes Kind zu einem einzigartigen Individuum auf diesem Planeten. Das könnte in meiner weiteren Entwicklung noch richtig spannend werden. Wurde es auch! Was wusste ich mit sieben Jahren schon von der Welt um mich herum?

Eingebrannt in meinem Gedächtnis hat sich ein weiteres aus dieser Zeit stammendes Ereignis: Eine dieser Pflegeeltern schenkte mir zu Weihnachten, keine Ahnung wie alt ich da war, ein funkelnagelneues Kinderfahrrad. Mir! Dem Bastard, dem unwerten Leben, diesem Habe- und Taugenichts! Mit einem eigenen Fahrrad! Ich bin in diesem Moment bestimmt vor Glück und Freude halb wahnsinnig geworden. Dies sollte jedoch nicht allzu lange anhalten. Also die Freude, nicht der Wahnsinn. Etwas Eigenes zu besitzen war in einem Kinderheim der 50er Jahre ungefähr so unwahrscheinlich wie die Verleihung des Friedensnobelpreises an die Herren Adolf Hitler, Jozef Stalin oder Mao Zedong. Ich erinnere mich noch ganz genau an die Farbe des kleinen Drahtesels: Bordeauxrot. Ob es Stützräder, eine Klingel oder Licht hatte oder nicht, daran kann ich mich nicht erinnern. Es wurde in der Folge unwichtig, völlig unwichtig. Mit diesem Fahrrad durften alle Kinder dieser Unterbringungsanstalt fahren, nur eines nicht: ICH!

Die Heimleitung, samt der unseligen Schwester Rabiata und der noch unheiligeren Schwester Brutalina, hatten es so angeordnet und das Zweirad zum Allgemeineigentum der ungeliebten Brut Gottes in dieser gottverdammten Institution erklärt. In der Selbstreflexion der damaligen Vorgänge läuft in mir immer wieder der gleiche Film ab: Ich sitze allein auf einem Mäuerchen im Zustand der Vernebelung meiner optischen Wahrnehmung, erkenne mein vorbei schlingerndes Fahrrad, sehe das feist grinsende Gesicht eines Artgenossen, der nicht ahnt, was ihn gleich erwartet. Bei diesem Anblick springe ich wutentbrannt auf, renne ihm hinterher und schubse den Plumpsack wortlos von meinem Fahrrad. Wie von Sinnen sprang ich anschließend minutenlang auf das am Boden liegende Rad, bis es für niemanden mehr zu gebrauchen war.

Jedes Kind baut mal Mist, nörgelt und quengelt, macht Streiche, widersetzt sich, ist ungehorsam. In solchen Situationen muss ein in Freiheit, mit Verständnis und mit Liebe erzogenes Kleinkind nicht mit harten Strafen rechnen. Ganz anders in der Anstalt Maria im Tann. Selbst für Kleinigkeiten wurde ich von den Zuhälterinnen im Namen Christi für diese kindliche Normalität verprügelt! Ja, richtig gelesen: verprügelt! Daher kommt der Begriff Prügelnonnen. Klar: Eine strenge Zurechtweisung, eine kurze Strafpredigt, vielleicht noch ein Klaps auf den Hintern oder im schlimmsten Fall von mir aus noch eine Backpfeife hätten es auch getan. Diese Teufelsweiber hatten die uneingeschränkte Befehls- und Erziehungsgewalt über uns. Dabei steht doch im Alten Testament [Jeremia 22]: „Übt Recht und Gerechtigkeit und rettet den Beraubten aus der Gewalt des Bedrückers! Fremdlinge aber, Waisen und Witwen bedränget nicht, und vergewaltigt nicht und vergießt nicht unschuldiges Blut an diesem Orte.“ Wie bitte?

Im zarten Alter von ungefähr vier, fünf Jahren empfand ich eine Ohrfeige schon als harmlos und war wahrscheinlich sogar bereit, mich dafür noch höflich und mit einem Diener zu bedanken. Selbst an das verdroschen zu werden gewöhnte ich mich irgendwie; gehörte es doch irgendwann zum Alltag und mit zu den erzieherischen Maßnahmen der ehemaligen KZ-Aufseherinnen. Allerdings achtete man wohl sehr darauf, sich mit den Rohrstockschlägen auf durch Kleidung gut zu verdeckende Körperteile zu konzentrieren. Bereiche des kindlichen Körpers die für Außenstehende und Kontrollinstanzen nicht sichtbar waren. Diese Übergriffe führten oftmals dazu, hinterher nicht mehr auf dem roten, gestriemten Hintern sitzen zu können und in Seitenlage einschlafen zu müssen. Frei nach dem Motto: roter Po, statt Haribo. Innere Verletzungen oder katholische Elfmeter waren zwar schmerzhaft, hinterließen aber dafür keine sichtbaren Spuren. Geplatzte Trommelfelle hingegen schon.

Innerlich zornig, machtlos und zugleich apathisch ertrug ich diese perfiden körperlichen Gewaltakte. Diese körperlichen Verletzungen verschwanden mit der Zeit. Was nie verschwinden wird, sind die durch psychische Gewalt verursachten Narben auf meiner Seele. In den insgesamt fünf Jahren meines Martyriums gab es keinen Menschen, dem ich mich hätte anvertrauen können. Verlassen und einsam unter Dutzenden von Kindern und Jugendlichen. Ab und an passiert es mir noch heute, dass mich die Traurig- und Einsamkeit packt, obwohl ich mich in vertrauten Kreisen befinde. Zu einer der im Heim von mir unbewusst entwickelten Überlebensstrategien gehörte das Misstrauen.

Immer wenn ich an dieses alte Gebäude denke, so wie gerade eben, steigt mir sofort der unangenehme Geruch von frisch gebohnerten Linoleumböden in die Nase. Nachts war es in dem alten Gemäuer so still, dass ich in diesem Sünderverließ nur das hastige Trippeln der Pfoten von Mäusen und Ratten auf dem langen, mit Linoleum ausgelegten, schwach beleuchteten Flur hören konnte. Was mir keine Angst machte. Panische Angst sollten mir die nächtlichen Grunzgeräusche eines zweibeinigen Ungeheuers machen. Dieser als Kerker missbrauchte Raum war selbst für mich als Kleinkind zu klein, um auf dem kalten, feuchten und verdreckten Betonboden eine provisorische Schlafstelle zu errichten. Lieber hätte ich mich zehnmal verprügeln lassen, als nur eine Stunde freiwillig in diesem Raum verbringen zu müssen. Aber offensichtlich gab es in diesem brutalen Spiel mit meinen christlichen Peinigern keinerlei Verhandlungsbasis.

Ich denke gerade darüber nach, wie viele solcher Kerker es in diesen Gebäuden noch gegeben haben muss. Es kann ja nicht sein, dass meine Zelle ausgerechnet dann frei gewesen ist, wenn ich nach einer begangenen Verfehlung meine Haft antreten musste. Bei dem Gedanken gruselt es mich schon wieder. Gab es vielleicht tote Kinder, Kinder die niemand vermisste, die nicht so Leid erprobt und widerstandsfähig waren wie ich? Sie einfach spurlos verschwinden zu lassen, dürfte für diese ehemaligen Hitlerfaschistinnen mit ihrer jahrelangen KZ-Erfahrung und noch existierenden Seilschaften kein wirkliches Problem gewesen sein. Mit ihrer Perversion würde ich es ihnen sogar zutrauen, dass wir nichtsahnend auf einem Kinderfriedhof spielten.

Schlafsaal [Abb. ähnlich]

Ich hatte diese fleischgewordene Bestie in Menschengestalt bis dahin noch nie wahrgenommen. Statt einer Hose trug er einen langen, fast bis auf den Boden reichenden schwarzen Rock und einen schwarzen Hut mit einer breiten Krempe, der zwar sein Gesicht, aber nicht seine silberglänzende Kette mit einem Kreuzanhänger auf seiner Brust verbarg. Seine massige Statur verhinderte, dass die spärliche Flurbeleuchtung bis in meinen Kerker eindringen konnte. Aus heutiger Sicht würde ich ihn optisch als zu Fleisch gewordenen Obelix bezeichnen. Nur mit dem Unterschied, dass ich über dieses widerliche Scheusal nicht lachen konnte. Selbst wenn ich gewollt und gekonnt hätte, ein Entkommen war schier unmöglich. Und ich ahnte nicht, was er vorhatte.

Zur Salzsäule erstarrt, ließ ich es in meinem Nachthemdchen mit gesenktem Blick zu, als diese mir bis heute namentlich nicht bekannte Bestie anfing, mit einer Hand über mein Köpfchen zu streicheln. Von vorne nach hinten, von hinten nach vorne und dann wieder von vorne nach hinten. Es lief mir dabei eiskalt den Rücken runter. Zwischendurch bemühte er seine andere Hand meine sicherlich hochroten Öhrchen zu kneten. Plötzlich und unvermittelt hielt er mir nach einer Weile, mit seiner nach Weihrauch stinkenden Pranke Mund und Nase zu. Völlig unnötig, da ich eh nicht fähig gewesen wäre einen Muckser von mir zu geben. Ich bekam keine Luft, glaubte zu ersticken. Er lockerte seinen Griff kurz darauf und ich schnappte nach Luft. Bis zum heutigen Tag hasse ich den Geruch von Weihrauch! Vor wenigen Jahren bin ich auf einer Party wegen des dort verströmenden Gestanks von Weihrauch sogar einmal ohnmächtig geworden. Ehrenwort!

Neben den bereits von mir zuvor gestellten simplen Fragen, finde ich selbst keine natürlichen Erklärungen für die Tatsachen, dass ich mich trotz gründlicher Bemühungen zum Beispiel nicht daran erinnern kann, mit den anderen Kindern im Heim gespielt, interagiert, geschweige denn engere Bindungen aufgebaut zu haben. Dabei heißt es doch Kinderheim! Wo und wer waren diese Kinder? Wo war der Lärm, den so viele Kinder erzeugen mussten, aber in meiner Erinnerung nicht erzeugten? Wo waren die Spiele, die Kinder gerne spielen? Wieso sprangen, hüpften, rannten und kletterten meine Leidensgenossen in meiner bildlichen Vorstellung nicht?

Warum spielte keines von ihnen mit einem Ball oder einem Seil? Wo war das Quietschen und Schreien, das fröhliche Singen, Lachen und Weinen dieser Kinder? War ich vielleicht gar nicht im Kindererholungsheim, sondern auf dem Friedhof der Kuscheltiere? Schlimmer noch: Ich hörte in diesen Jahren kein Vogelgezwitscher, kein Rauschen der Blätter an den Bäumen, kein Hundegebell, keine Geräusche von vorbeifahrenden Autos, Lastwagen oder Motorrädern. Waren das Nebenwirkungen von illegal verabreichten Medikamenten? Ich werde es nie erfahren. Ich rechne auch nicht damit, dass es jemals zu strafrechtlichen Ermittlungen, geschweige denn zu Schmerzensgeldzahlungen, in Bezug auf Medikamentenmissbrauch und die anderen begangenen Straftaten gegen die männlichen und weiblichen Klerikalfaschisten der katholischen Kirche kommen wird.

Kind Jesu Kapelle
Aachen-Bildchen

Gegessen wurde immer mit Blick auf die Wanduhr, denn wir hatten gefühlte zehn Minuten Zeit, um das Essen herunterzuwürgen. Und wehe dem, der es wagte, Essensreste mitzunehmen. Angeschimmeltes und trockenes Brot galt offenbar als Delikatesse. Vor jeder der drei Mahlzeiten sah sich eine der Vorbeterinnen genötigt, mit monotoner Stimme ein Tischgebet herunterzuleiern und erwartete dann aus Dutzenden von Kinderkehlen das obligatorische, himmelhochjauchzende Amen. Zum Glück wurde erst danach die Zeit gestoppt. Gespräche waren wohl streng verboten, denn nach meiner Erinnerung strahlte der Speisesaal während der Raubtierfütterung außer dem Klappern des Blechgeschirrs eine unheimliche, gespenstische Stille aus. Mit der war es dann aber nach dem Erklingen eines Glöckchens abrupt vorbei.

Zum üppigen Frühstück gereichte man uns Brot mit Marmelade, oder alternativ Konfitüre mit trockenem Brot. Nur zu besonderen Anlässen, wobei mir entfallen ist, welche das gewesen sein könnten, wurde großzügig mal eine abgezählte Scheibe Wurst, Rübenkraut, eine warme Milchsuppe, mit obenauf schwimmenden Gurkenscheibchen, kredenzt. Höhepunkt der Woche war dann ein Schälchen Reis- oder Griespampe mit einem Klecks Zimtpulver. Käse und Eier in jedweder Form, sowie Butter lernte ich erst nach meiner Entlassung im Jahr 1962 kennen. Um die fade schmeckende Überlebens-Nahrung leichter durch die trockenen Kinderkehlen würgen zu lassen, standen in Eimer zubereitete Getränke wie kalte oder warme, laktosetolerante Milch, lauwarmes, mit Waldbeeren angereichertes, naturbelassenes Wasser oder ungesüßter Hagebuttentee auf den Tischreihen. Die besondere Betonung liegt hier bei dem Wort oder. Grundsätzlich erhielten wir Kinder, unabhängig vom Alter und individuellem Geschmack, einheitliche Essensrationen, die keinen Raum für persönliche Empfindlichkeiten zuließ.

 

Zum Mittagessen erhielten wir in dem Feinschmecker-Restaurant eine sich gleichfalls ständig wiederholende Nahrung, wie zum Beispiel fad schmeckende Suppen, in denen immer mehr Augen hinein- als herausschauten. Für den Fall, dass Fisch oder Fleisch auf dem äußerst übersichtlichen Speiseplan stand, müssen diese Lebensmittel an meinem Teller vorbeigeflogen sein. Um einer Monotonie vorzubeugen, gab es Eintöpfe, für die wir uns in Reih und Glied anzustellen hatten. Zu den Gaumenkitzlern gehörten abwechselnd Nudeln in Tomatensauce, Gemüse, Reis oder Kartoffeln. Nur selten standen Pell- oder Bratkartoffeln auf dem Speiseplan. An einer gesunden und ausgewogenen Ernährung lag offensichtlich nicht im Interesse der Kochmonster. Klingt ja auch logisch: Wer überwiegend eingesperrt ist, verbraucht auch weniger Kalorien. Das Paradoxe daran ist, dass ich das Gefühl Hunger gleichfalls nicht kannte. Lag es daran, dass man dem Essen Appetithemmer hinzufügte?

 

Wer sich dem ständigen Drill der unbarmherzigen Betreuerinnen zuvor nicht gebeugt hatte, ging kulinarisch oftmals völlig leer aus. Doch damit nicht genug: Schlafentzug war, neben den anderen drangsalierenden Erziehungsmethoden, eine der weiteren unangenehmen sadistischen Praktiken. Hatte ich zur Nachtzeit das große Glück, nicht in Beugehaft in meinem kleinen Verlies verbringen zu dürfen, war mir der Aufenthalt in meinem nach Urin und Schweiß stinkenden Metallbettchen dennoch untersagt. Dafür durfte ich die Nacht über dann halbnackt, stehend und ohne Bettzeug in dem dunklen Flur vor dem Schlafsaal verbringen. Nach geraumen Zeit versagten meine kleinen Beinchen ihren Dienst und der stets nach Bohnerwachs stinkende Linoleumboden wurde zu meiner Schlafunterlage. Bis mich irgendwann und irgendwer vom christlichen Bodenpersonal aus dem Reich der Träume riss und mich zwang, mich wieder hinzustellen. Wenn es dem Kindeswohl diente?

Ich bin davon überzeugt, dass ich in den Jahren im Heim zu einem sehr introvertierten Jungen geworden bin. Wenn ich heute an die Zeit vor meiner Heimentlassung zurückdenke, sehe ich mich als klein, schüchtern, gehemmt, still, misstrauisch, abweisend, gedemütigt, verachtet, eingeschüchtert, hässlich wie eine Filzlaus unter einem Magnetresonanzmikroskop und von meiner Umgebung isoliert. Kurzum: ungeliebt und unerwünscht in meinem kleinen Kinderkosmos, in dieser Welt. Ein Häufchen Elend, das mehr als genug Tadel, aber nie Lob erfahren hat. Ein masochistisch gequältes Kind, das sich für Dinge entschuldigte, für die es sich nicht zu entschuldigen brauchte. Nach dieser frühen, respektlosen und schutzlosen Entwicklungsphase brauchte ich Jahre, um meine eigenen Überzeugungen nicht nur zu entwickeln, sondern auch durchzusetzen.

Ich kriegte mich in diesem Augenblick vor Freude gar nicht mehr ein und quietschte wahrscheinlich vor Vergnügen wie ein kleines Ferkel. Das muss der Grund dafür gewesen sein, weshalb ich mir dafür von einer der Aufseherinnen eine kräftige Backpfeife einhandelte. Das fand ich dann natürlich als Reaktion auf meine kindliche, unbändige Freude und Neugier nicht sonderlich erfreulich. Was aus nachvollziehbaren Gründen dazu führte, dass sich der kindliche Glanz meiner Augen in Krokodilstränen verwandelte. Als ich diese versuchte, mit dem Ärmel meiner Jacke zu trocknen, erhielt ich prompt von der scheinheiligen Schwester Rabiata die nächste Klatsche. Gekauft wurde natürlich nichts.

Wir Kinder kannten ja kein Geld und unserem Gottvater war bestimmt daran gelegen, dass sich daran in den nächsten Jahren nichts ändern sollte. Davon abgesehen, kann ich mich beim besten Willen nicht daran erinnern, dass es während meiner gesamten Haftzeit in dieser unchristlichen Züchtigungsanstalt zum Fest der Liebe weihnachtliches Gebäck, Christstollen, einen Adventskranz, einen Weihnachtsbaum, Weihnachtslieder, geschweige denn eine milde Gabe gegeben hätte. Zum Ausgleich dafür gab es dann für die Kinderapokalypse kein festliches Essen. Es sollte allerdings noch schlimmer kommen: Halleluja, stille Nacht, heilige Nacht, Bimbam und traurige Weihnachten!

Speisesaal [Abb. ähnlich]

Wow, vielleicht ist das Leben doch nicht so schlimm, dachte ich wohl in diesem Moment. Obwohl ich beim Anblick der Tasse Kakao den vorherigen Fehler mit Freude und Glanz in den Augen wiederholte, blieb die erwartete Ohrfeige diesmal aus. Aber nicht lange. Nachdem ich mich und die Tischdecke mit dem edlen Gebräu bekleckert hatte, gab es zur Stärkung des Gedächtnisses die nächste Backpfeife. Diesmal gesponsert von der kräftigen Schwester Zuchtizia. Doch ehe ich mich versah, durfte ich bei Minusgraden das Café und die illustre Gesellschaft darin bis zur Rückkehr ins Kinderparadies durch ein Schaufenster von außen betrachten. Und so lernte ich, dass man den Tag nicht vor dem Abend loben soll. Trotzdem muss ich heute noch schmunzeln, wenn mich eine Kellnerin fragt, ob sie den Kakao mit oder ohne Sahne servieren darf. Und noch etwas habe ich aus diesem unwürdigen Vorfall gelernt: eine tiefe Abneigung gegen Weihnachten zu entwickeln.

Momentaufnahme: Weihnachten 1998 steht kurz bevor. Ich habe am gestrigen Tag eine kurze Tipp- und Denkpause eingelegt. Mir fällt beim Schreiben an dieser Stelle abermals auf, dass ich oft dann vom chronologischen Verlauf meiner Erinnerungen aus längst vergangener Zeit abschweife, wenn sich tief in meiner Psyche schlagartig seelische Blockaden bilden. In diesen Phasen erlebe ich dank Kopfkino die Momente, in denen ich mich auf einen visuellen Prüfstand stelle, mich von außen betrachte und anfange mich selbst zu analysieren. Eine Fähigkeit, die sämtliche der von mir in meinem Leben verschlissenen Psychoanalytiker offensichtlich nicht besaßen. Vielleicht liegt es ja an meinem nicht unerheblichen Wodkakonsum?

Es ist ja der Sinn, durch meine Schreiblust und -wut den Grund für meine Blockaden zu erkennen, um diese künftig zu überwinden. Diese Schreiblust ist zu vergleichen mit einem Vulkanausbruch. Nur mit dem gravierenden Unterschied, dass ich nicht zerstören, sondern meiner Seele ihren Frieden zurückgeben möchte. Immerhin bin ich schon jetzt zu der Erkenntnis gekommen, dass der Auslöser meiner Blockaden bei den von mir unverarbeiteten, alten und bisher unterdrückten Gefühlen zu finden ist. Dafür ist es jetzt notwendig, erst mal gründlich hinter mir aufzuräumen.

Nur in den seltensten Fällen wurden in der Geschichte der Menschheit Religionskriege aus religiösen Gründen geführt. Die Hauptursache war fast immer das Streben nach finanziellem Reichtum und Macht von autoritären, gewissenlosen und über Leichen gehenden Betrügern und/oder Institutionen. Der religiöse Glaube basiert ausschließlich auf dem Vertrauen in diese Machthaber und auf historisch bis heute nicht belegbaren Tatsachen. Millionen Unwissende sind darauf hereingefallen und haben ihren Glauben mit dem Leben bezahlt. Als Beispiele nenne ich die Expansionskriege des Islam, die acht Hugenottenkriege von 1562 bis 1598, den Dreißigjährigen Krieg von 1618 bis 1648, die Bürgerkriege im Libanon und in Irland. Und wer ernsthaft glaubt, dass beim Jüngsten Gericht der Menschensohn in seiner Herrlichkeit und alle Engel auf Erden erscheinen werden, der glaubt auch, dass man mit Faltencreme Wellblech glätten kann.

Es muss Herbst, Ende der 50er Jahre gewesen sein. Es ist stockfinster im Schlafsaal, ein gewaltiger Orkan zieht auf, es blitzt, es donnert und ich mache mir vor Angst in die Hose [falls ich eine anhatte] und damit verbunden gleich mit ins Bett. Schatten, Dämonen, mit hässlichen Fratzen huschen an den gardinenlosen, verschlossenen Fenstern vorbei. Ihre Fangarme greifen nach mir. Die Wände scheinen zu vibrieren, ich fange an zu schreien, die Naturgewalten versetzen nicht nur mich in Panik. Ich ziehe mir die muffige, nach Schweiß und Urin stinkende Decke über den Kopf, der ganze Körper bebt. Ich höre jetzt die anderen verängstigten, namen- und gesichtslosen Kinder in diesem Raum, ihr Gewinsel, ihr Heulen und Schluchzen, ihre Schreie, lauter, immer lauter. Irgendwann, nach einer gefühlten Ewigkeit, höre ich auf zu schreien, ich wimmere nur noch, ich zittere am ganzen Körper.

Das Schlimmste in dieser Nacht: Es ging nicht einmal die Tür auf, es wurde kein Licht angemacht, es hat vom Heimregime niemanden interessiert. Es kam niemand, der mir meine Angst nehmen wollte oder konnte. Mein Glück im Unglück: Es kam niemand, um mich religions-pädagogisch und im Namen des Allmächtigen zu züchtigen. Nach und nach, gefühlt nach einer halben Ewigkeit, verstummten die Geräusche vor und hinter den Fensterscheiben. Noch heute, Jahrzehnte später, habe ich zwar keine Angst mehr vor ähnlichen Wetterkapriolen, allerdings muss ich manchmal an eben diese eine Nacht des Grauens zurückdenken.

Schwester Rabiata [Abb. ähnlich]

Ich lernte, mit meiner Angst alleine klarkommen zu müssen und schlief, wie jeden Abend, mit dem durch den Schlafsaal wabernden bestialischen Gestank von Urin, Kot, kaltem Schweiß und Erbrochenem der Anwesenden in der Nase ein. Unter den Matratzen befanden sich Gummimatten, die wohl ein Auslaufen der menschlichen Brühe verhindern sollten. Morgens kam dann jemand, ich weiß nicht, ob es ein Mann oder eine Frau war. Ich weiß nur eines: Meine Bettdecke wurde grußlos zurückgerissen, begutachtet und dann kam es gleich zu einer weiteren, körperlichen Misshandlung in Form einer ordentlichen Tracht Prügel.

Doch damit nicht genug: Jeder Bettnässer musste sich mit nackten Füßen auf den eiskalten Boden neben seinem Bett stellen, mit dem Gesicht zur Wand, egal ob mit oder ohne vollgepinkelten Pyjama. Dann wurde ein Halbkreis mit irgendeinem weißen Pulver um die Füßchen gezogen, den man, gefühlt für eine Stunde lang, nicht übertreten durfte. Wenn man ihn in dieser Zeit verließ, drohte neben dem Essensentzug für diese Schandtat die Prügelstrafe und/oder die Einweisung in den berüchtigten Folterschrank. Nach meiner Entlassung dauerte es noch einige Jahre, bis ich nicht mehr einnässte. Wofür meine Pflege- und späteren Adoptiveltern stillschweigend und ohne Bestrafung Verständnis zeigten. Meine bis heute bestehende Angst vor dem Eingesperrtsein in engen, geschlossenen Räumen, die im Extremfall zu Panikattacken, Schweißausbrüchen und Hyperventilation führt, konnte mir niemand nehmen. Auch das ist eine unauslöschliche Erinnerung an das Bodenpersonal des Unfehlbaren.


Und jetzt weiß ich noch eines: Ich werde dieses Kapitel jetzt so allmählich beenden. Es hat mich viel Kraft, Tränen, Zeit, Bier und Wodka gekostet. Vielleicht kommt die Zeit, dass viele der Hunderttausende von rechtlosen Opfern über ihre brutalen Heimerfahrungen in den 50er, 60er und 70er Jahren berichten werden. Berichten über brühend heiße und eiskalte Körperwaschung, Fesselung, Knebelung, Beleidigung, Prügel, sexuellen Missbrauch, Maßregelung, Geschwistertrennung, massiven Hygienemangel, unterlassene Hilfeleistung, Essenszwang und -entzug, Peitschen- und Ledergürtelhiebe und Isolation.

Die dafür Verantwortlichen wird man wegen Verjährung oder deren Ableben, mögen sie am Ort der Verdammnis schmoren, nicht mehr zur Rechenschaft ziehen. Aber vielleicht denken die verantwortlichen Arbeitgeber und Institutionen, und hier in erster Linie die katholische Gebetsanstalt, Weltmeister der Vertuschung, Täuschung und Unterdrückung, eines Tages an Wiedergutmachung bei den Opfern! Viele davon würden sich schon über eine Entschuldigung freuen! Ich für mein Teil verzichte liebend gerne auf eine diesbezügliche, scheinheilige Bitte um Verzeihung. Was würde sie mir bringen? Was ist denen eine gestohlene Kindheit wert? Nichts!

Anni, meine leibliche Mutter


Hinweis:

Bei meinen nachfolgenden Gedankensplitter I werde ich das Vergangene aus diesem Kapitel noch einmal der Reihe nach durchdenken und mit meinem heutigen Wissensstand verknüpfen.


Es ist die Kunst – zu leben! –


…Werner K. war zur gleichen Zeit wie ich Insasse des Heims für vergessene Kinder in Aachen-Bildchen. Im Gegensatz zu mir musste er jedoch von seiner Geburt 1948 bis zu seiner Entlassung 1966 seine Strafe im selben Kinderparadies absitzen. Mit Werner traf ich mich 2004 und 2005 viermal in meiner Wohnung in der Nähe des Barbarossaplatzes in Köln. Wir verbrachten Tage und Nächte, in denen viel Alkohol und Tränen flossen, um uns über das Erlebte und Erlittene auszutauschen..

…Im Jahr 2011 habe ich mich schriftlich an die ehemalige Kinderaufbewahrungsanstalt Maria im Tann gewandt und um Zusendung von Unterlagen [falls noch vorhanden] über meinen Zwangsaufenthalt in dieser Einrichtung gebeten. Mit Datum vom 12.12.2011 wurden mir diese dann auch tatsächlich und unerwartet zugesandt. Der beglaubigten Abschrift meiner Geburtsurkunde Nr. 133, ausgestellt am 07. Februar 1955 vom Standesamt Düsseldorf Nord, konnte ich entnehmen, dass meine Mutter zum Zeitpunkt meiner Geburt mit vollem Namen Gertrud Anna Schröder hieß…

…Ostern 1961 wurde ich, nachdem ich am 15.02.1961 schulärztlich von einer Frau Dr. Gissel untersucht worden war, versuchsweise eingeschult. Dann findet sich noch der Hinweis: „Michael war schulisch recht gut.“ Der letzte Satz klingt so ähnlich wie der in einem Arbeitszeugnis: „Er war stets bemüht.“ Stets bemüht ist selten gut. Eine besondere Erwähnung verdient der 13.07.1961. Hier heißt es in meiner Gefangenenkarteikarte wörtlich: „Michael wird von einem Ehepaar Birken, Kohlscheid, Weststraße 25, Autoreifen und Reparatur, betreut. Das Ehepaar will das Kind, wie vom Jugendamt, Frln. Heermanns, gemeldet wird, adoptieren.“ Dass es zu dieser Adoption nicht kam, habe ich Anna zu verdanken, die zu diesem Zeitpunkt offensichtlich noch nicht bereit war, mich zur Adoption freizugeben…

…Während ich, wie ich heute weiß, das Ergebnis zweier verliebter, aber leichtsinniger Jugendlicher bin, war es noch bis in die 50er Jahre üblich, dass Mädchen aus der Unterschicht ab einem Alter von 13, 14 Jahren als Dienstmädchen, Kindermädchen oder Hausmädchen in wohlhabenden Haushalten unter schlimmsten Bedingungen arbeiten mussten. Wurden sie vom Hausherrn ungewollt schwanger, was an der Tagesordnung war, ging der Hausherr straffrei aus. Während das vergewaltigte Fräulein der gesellschaftlichen Ächtung ausgesetzt war. Schriftlich überliefert sind Fälle, in denen Dienstmädchen bis zu fünf Kinder von verschiedenen Dienstherren zur Welt brachten. Überproportional viele dieser als unehelich‘ und erbbiologisch wertlos‘ angesehenen Säuglinge starben noch vor ihrem ersten Geburtstag an Auszehrung und mangelnder medizinischer Versorgung. Selbst Kindstötungen waren in einigen Regionen Deutschlands keine Seltenheit. Ein kurzer handschriftlicher Eintrag einem Geburtsregister zweiter Klasse [extra für Kinder der Schande] beim zuständigen Dorfpfarrer genügte, um diese armen Seelen in das dunkle Reich Luzifers zu befördern…

…Wäre ich in dieser Zeit geboren worden, hätte ich den Titel eines erbbiologisch wertvollen Menschen tragen dürfen, denn im inzuchtverseuchten Monschau gab es sicher nur reinrassige Arier. Jünglinge und Männer, die mit diesem Makel geboren wurden, durften keine Ämter in der katholischen Kirche bekleiden. Ein großes Glück für die vielen Opfer sexuellen Missbrauchs, die so der katholischen Kirche nicht ausgeliefert waren, und ein Pech für das Heer der zahlreichen pädophilen Gottesdiener. War das alles wirklich im Namen des Erlösers so gewollt? Wie ich im Einzelnen an die eine oder andere Information gekommen bin, von der ich zu Beginn meiner Autobiografie keine Kenntnis hatte, darüber wirst du dich noch ein wenig gedulden müssen. Aber ich werde sie dir nicht vorenthalten. Versprochen! Nur so viel: Auch in dieser Hinsicht musste ich mich jahrzehntelang in Geduld üben. Nach diesem kleinen traurigen Ausflug in die Geschichte früherer Kinderschicksale fahre ich fort mit der Geschichtsschreibung meiner eigenen Kindheitserlebnisse…

Bis zu deren Volljährigkeit [mit 21 Jahren] wurden weder Krankenkassen- noch Sozialversicherungsbeiträge abgeführt. Die Altersarmut dieser armen, geschundenen Seelen war in den allermeisten Fällen vorprogrammiert und fällt damit dem Steuerzahler auf die Füße. Viele der traumatisierten ehemaligen Heimkinder dürften das Rentenalter aber gar nicht erst erreicht haben. Drogen- und Alkoholmissbrauch, eine überdurchschnittlich hohe Selbstmordrate, unerträgliche körperliche und seelische Schmerzen sowie lange bis lebenslange Haftstrafen haben viele dieser Opfer in einen sozialverträglichen Tod getrieben! Mit diesem Wissen wurde mir bewusst, welch großes Glück es für mich bedeutete, im hohen Alter von sieben Jahren dieser Ausgeburt der Hölle entkommen zu sein. Um meinen Eltern dafür zu danken, brauche ich alles, aber sicher keine Jammerreligion. Meine diesbezügliche Dankbarkeit hat einen wesentlich höheren Stellenwert als jede Religion dieser Erde..

…Ich betone ausdrücklich, dass ich keine Abneigung gegen religiös Gläubige hege. Solange ihr Glaube ihrem und dem Weltfrieden dient und keine Menschenseele gezwungen wird, es ihnen gleichzutun. Als Nichtgläubiger bin ich davon überzeugt, dass es nicht Gott war, der den Menschen erschaffen hat, sondern dass der Mensch einen Gott erschaffen hat, an den er glauben kann. In allen Kulturkreisen dieser Erde und seit Urzeiten hilft der Glaube, das Leben der Menschen erträglicher zu machen. Selbst der Atheist lernt bekanntlich zu beten, wenn er in einem abstürzenden Flugzeug sitzt. Nein, mein Zorn, meine Wut und meine Hilflosigkeit richten sich ausschließlich gegen das weltweit agierende römische Inkompetenzzentrum, dessen Opfer ich geworden bin. Statt die Bibel als Maß aller Dinge zu betrachten und irgendwelche Psalmen auswendig zu lernen, könnte sich jeder Christ die Zeit nehmen, sich einmal gründlich mit der Geschichte und den Strukturen dieses Glaubensvereins zu beschäftigen…

…Diese in meinen Augen nach den Regeln der Gestapo geführten Fürsorgeheime der 50er und 60er Jahre des 20. Jahrhunderts waren für mich jahrelang der Alptraum schlechthin. Wer wird die Verantwortlichen, die noch dazu einen grausam gefolterten und ans Kreuz genagelten Märtyrer verehrten, zur Rechenschaft ziehen? Wahrscheinlich niemand! Aber ich prophezeie: Die Tage dieses abgehalfterten klerikalen Lügen- und Möchtegern-Weltverbesserungskonzerns sind meiner Meinung nach sowieso gezählt. Irgendwann wird es diese Geißel der Menschheit nicht mehr geben. Eines Tages wird es diese Geißel der Menschheit nicht mehr geben. Ich hoffe sehr, dass die Zeit kommt, in der alle Verbrechen, die von den Anhängern dieser religiösen Sekte weltweit begangen werden, schonungslos aufgedeckt werden und den Katholiken endlich ein Licht aufgeht…


© 2024 Mike Schwarz – Köln