= L E S E P R O B E =

Wer ständig glücklich sein möchte, muss sich oft verändern.

Kapitel 2: Ein wundersamer Richtungswechsel [1962 – 1969]

Da ich in den ersten Wochen wohl noch unter den Nebenwirkungen der Medikamente litt, die mir die Zombie-Schwestern verabreicht hatten, entspringen einige der folgenden Erinnerungen meinem damals noch in Watte gepackten Gedächtnis. Andere beruhen auf den Erzählungen meiner neuen Familie, und wieder andere habe ich ganz klar und deutlich vor Augen. Durch die Gefangenenbefreiung meiner neuen, sonderpädagogisch ungeschulten Pflegeeltern wurde ich am 03.04.1962 abrupt den bösen Mächten der Verdammnis von Maria, die Unbarmherzige entrissen. Wie sollte ich künftig Gut und Böse unterscheiden können? Hatte ich doch bis zu diesem Tag nur das Schlechte, das Böse erlebt. Ich war zum Zeitpunkt meiner Abholung exakt sieben Jahre, zwei Monate und einen Tag alt. Ich schlüpfe nun in die Rolle des kleinen Jungen, der an diesem einen Tag nicht ahnen konnte, dass sein kommendes Leben eine schicksalhafte Wendung zum Guten nehmen würde. Ein blasses Kerlchen, mit dem Ehrenmakel der römisch-katholischen Kirche versehen, unzählige Male physisch, psychisch und sexuell misshandelt.

Anstelle eines Jungen, dessen kindlicher, unverbrauchter, erwartungsvoller Blick auf die Welt normalerweise Naivität, Neugier, Aufrichtigkeit, Nachdenklichkeit, Sinnlichkeit, Leidenschaft, Lebenslust und Lebensfreude ausdrückt, steht an diesem denkwürdigen Tag ein einsamer, stiller, von Nonnen gefügig gemachter, emotional verwahrloster, desinteressiert wirkender Junge am Eingang der klerikal faschistischen Observationszentrale. Ein 7-jähriges Missbrauchsopfer, mit seiner verlorenen Unschuld, aber auch mit vielen psychischen Störungen. Geprägt von Argwohn, Gefühlskälte, Angst, Minderwertigkeitskomplexen, sozialen Phobien. Zu meiner Vorgeschichte gehört unter anderem, dass meine verschleierten, stets negativ verlaufenen Umgangskontakte eine strikt geschlechtergetrennte Aufzucht bevorzugten. Also ein Junge, dem die geschlechtsspezifischen Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen nicht vermittelt wurden.

Mike – Kommunion 1963

Ein Kind, dem von Prügelnonnen bewusst keine sozialen Normen vermittelt wurden. Ein Junge, der von weiblichen Mitgliedern einer unchristlichen Ordensgemeinschaft misshandelt wurde, mit Entwicklungsverzögerungen in den verschiedensten sozialen Bereichen. Ein Prügelknabe, der nicht begreifen kann, was sich hinter ihm in der Anstalt der Gnadenlosigkeit abspielt. Ein Kind, das 98 Monate lang täglich Niederlagen einstecken musste und dem doch niemand beibrachte, mit Tiefschlägen umzugehen. Niemand, der ihm den Rücken stärkte, ihm beistand, ihm Mut machte. Kein Kuscheltier weit und breit, schon gar keine Streicheleinheiten, keine Anerkennung. Keine Gefühlsausbrüche. Weder verbal noch bildlich. Stattdessen kein Selbstvertrauen, das Gefühl, wertlos zu sein. Ein siebenjähriger Opportunist, der viel zu spät von seiner leiblichen, egoistischen und überforderten Mutter zur Adoption freigegeben wurde, ohne jeglichen Bezug zu seiner genetischen Abstammung und Familienzugehörigkeit.

Ein Dreikäsehoch, der gezwungen war, morgens, mittags und abends den Engel des Herrn, den Allmächtigen anzubeten, wohl wissend, dass er von diesem Phantom keine Hilfe zu erwarten hatte. Dem noch das Dröhnen liturgischer Gesänge in den Ohren nachhallte, für den die Gottesmutter Maria eine gnadenlose Gebieterin war und der mit einem pädophilen Handlanger Gottes in einer kleinen Besenkammer mehrfach Bekanntschaft machen musste. Ein unschuldiger Knabe, dem Bildung, Toleranz, Verständnis, Respekt, Vertrauen, Courage, Zusammenhalt und vieles mehr vorenthalten wurden. Ein Siebenjähriger, der bis dahin in erster Linie nur Intoleranz, Unmenschlichkeit, Verachtung, Abscheu und Brutalität erlebt hatte. Wie kann sich ein Kind ohne positive Erfahrungen mit einer oder mehreren sicheren Bezugspersonen dennoch künftig hoffnungsvoll, lebensbejahend und erfolgversprechend entwickeln?

Da schießt mir gerade der Gedanke ins Hirn, ob eine Pflegschaft mit einem immerhin schon sieben Jahre alten Zögling für die drei nur Nachteile mit sich brachte. Nein! Sie hatten mit mir bestimmt auch einige Vorteile. Jetzt muss ich nur gründlich überlegen, welche das gewesen sein könnten. Gar nicht so einfach, wenn ich bedenke, dass Kinder in der Regel in den ersten zwei, drei Lebensjahren noch gar keinen Gedächtnisspeicher haben. Bevor ich im Oktober 1998 damit anfing meine Reise in meine frühe Vergangenheit anzutreten, hätte ich höchstens fünf bis sechs Ereignisse meiner ersten sieben Lebensjahre aus meinem Gedächtnis abrufen können. Obwohl ich mein zentrales Nervensystem fast zum Glühen brachte, weiß ich wahrhaftig nicht, ob ich während meiner langen Haftstrafe überhaupt gesprochen habe. Und falls ja, mit wem?

Jetzt fallen mir doch noch ein paar nicht ganz ernst gemeinte Vorteile ein, wenn man sich für ein fertiges Kind entschieden hat. So blieben meiner Pflegemutter der Zeugungsakt, neun Monate Schwangerschaft, zeitraubende Vorsorgeuntersuchungen, das Hoffen und Bangen auf ein kerngesundes Baby, Übelkeit, Rückenschmerzen und vieles mehr erspart. Ist der Wurf dann endlich geschafft, geht die Hektik mit dem Neugeborenen erst richtig los. So ein kleiner Körper will rund um die Uhr gestreichelt, umsorgt, gehalten, gedreht, besungen, bequatscht und geliebt werden. Tausende meiner vollgeschissenen Stoffwindeln [Wegwerfwindeln kamen in den USA erst 1961 auf den Markt] mussten nicht mühsam in einem großen vorgeheizten Holzbottich eingeweicht werden. Das schweißtreibende und zeitraubende Schrubben auf dem Waschbrett entfiel. Diese altmodische Methode war wesentlich umweltfreundlicher als die Entsorgung von einer Tonne nicht wiederverwertbaren Windelmülls, den heute ein Hosenscheißer pro Jahr produziert.

Da ich meiner Erinnerung nach die ersten Wochen fast ausschließlich in Omas Haus in Möllen verbrachte, schlug Oma mir danach vor, gemeinsam mit Lumpi [stets angeleint] die Wunder der Natur zu erforschen. Nachdem sie mir tagelang die verschiedensten Beeren-, Gemüse-, Pilz-, Baum- und Tierarten wie Rotfuchs, Wildschwein, Reh, Hirsch, Wildkaninchen, Feldhase sowie die zahlreichen Vogelarten in freier Wildbahn gezeigt hatte und dabei zum Teil spannende und lustige Geschichten zu erzählen wusste, schaute ich sie bei einem dieser Ausflüge traurig an. Sie fragte mich, was los sei, aber ich war nicht in der Lage, etwas zu sagen. Sie hatte mir zwar zahlreiche Hasen und Kaninchen gezeigt, allerdings war kein einziges der gesichteten Langohren davon orangefarben! So wie der sich noch lange Zeit bei mir im Besitz befindliche Plüschhase. Oma konnte sich ein Lachen nicht verkneifen und erklärte mir dann in aller Ruhe, dass es in der Natur keine orangefarbenen Osterhasen gäbe. Diese Anekdote musste sie fortan bei jeder Tischrunde im Freundes- und Familienkreis erzählen.

Im Herbst, wir lebten immer noch in Omas Haus, streiften wir durch den Wohnungswald und ich pflückte auf Großmutters Rat hin für Mutter die Herbstblumen, die auf den Feldern und am Wegesrand blühten. Wir sammelten Kastanien und Tannenzapfen, aus denen ich später von Großmutter lernte, einfache Figuren zu basteln. Ohne dass ich es damals wusste, war ich dank Oma jedes Mal in einem lehrreichen Naturkundeunterricht, wie ich ihn später in den Wissenstempeln nicht mehr erlebte. Sie war es auch, die mir die verschiedenen Baumarten erklärte und woran man sie erkennt. Ich war erstaunt, dass sie sie alle aus dem Effeff kannte. Niemand konnte damals ahnen, dass ich später beruflich mit diesem Naturprodukt zu tun haben würde.

Lumpi, um 1964

Lumpi war ein typischer Straßenköter, wahrscheinlich haben wir uns deshalb von Anfang an so gut verstanden, wir waren ja beide Bastarde. Lumpi, der Lump, sah aus wie eine Kreuzung zwischen einer Füchsin und einem Kurzhaardackel. Neben seinem struppigen, fuchsrotblonden Fell mit einem weißen Fleck am Hals ähnelte er auch von der Statur her sehr einem Rotfuchs. Dabei wusste ich bis dahin nicht einmal, was ein Fuchs ist, geschweige denn, wie so ein Tier aussieht. Woher auch? Schienen doch Kinder- und Malbücher in der katholischenKinder-Aufzuchtstation als pornografische Literatur verteufelt zu werden. Auch hier kann ich mich nicht erinnern, jemals eines dieser Bücher im Heim in der Hand gehabt zu haben. Sicher waren die Nonnen bemüht, meinen Wissens- und Bildungsstand so niedrig wie möglich zu halten. Schließlich bedeutet viel Wissen auch viel Macht.

Meine Unkenntnis über Füchse und viele andere Tierarten sollte sich dank der neuen wald- und wiesenreichen Umgebung schnell ändern. Lumpi machte jedenfalls dem Spruch Spitz wie Nachbars Lumpi alle Ehre. Nichts und niemand konnte ihn von seinem unbändigen Freiheitsdrang abhalten. So konnte es durchaus vorkommen, dass er tagelang umherstreifte und seinem Fortpflanzungstrieb nachging, um dann irgendwann, meist zerlumpt und verletzt, wieder sein Pflegeheim aufzusuchen. Bastarden sagt man nach, dass sie zäh, anpassungsfähig, schlau und anspruchslos sind. Wenn er nicht gerade, wie Lumpi, seiner Triebbefriedigung nachgeht, kann er sogar als familientauglich bezeichnet werden. Außerdem werden Mischlinge in der Regel älter als Rassehunde und erfreuen sich einer stabileren Gesundheit als so mancher überzüchtete, neurotische und lobgeile Rassehund. Insofern kann ich gut damit leben, als Bastard bezeichnet zu werden.

Der Schulunterricht fand in der Regel täglich von Montag bis Samstag von acht bis dreizehn Uhr statt. Und ja: Wir trugen orthopädisch ungesunde Lederschulranzen ohne Laptopfach. Dafür befanden sich in meinem Ranzen ein Etui mit Geha-Füllfederhalter, Tintenpatronen, Buntstifte, ein Griffel [Bleistift] samt Anspitzer, ein Schreibblock, ein Rechenschieber und ein kleines Schiefertäfelchen. Auf diesem und auf der Klassentafel musste ich mich neben der deutschen Normalschrift, auch noch mit der altdeutschen, geschnörkelten Schreib- und Druckschrift plagen. Für mich hatte das Erlernen dieser Schrift den Vorteil, später alles lesen zu können, was Oma schrieb. Dazu wäre ich höchstwahrscheinlich auch heute noch in der Lage.

Als Schüler mussten wir auf ergonomische Stühle und Bänke verzichten. Dafür mussten wir nicht nur aufrecht und gerade sitzen, sondern die Füße parallel zueinander parken. Die Hände mussten gut sichtbar für den Zuchtmeister auf dem Tisch liegen. Eine aktive Mitarbeit der Schüler war nicht erwünscht, damit der strenge Schulmeister ungestört sein Programm im Frontalunterricht abspulen konnte. Gelehrt wurde nach der Methode friss oder stirb. Begriffe wie Lernspiele, Primar- und Sekundarbereich, Projektwoche, Lernstoffverdichtung, Ganztagsschule oder Gruppenarbeit kannte meine Generation nicht. Stattdessen wurden Betragen, Fleiß, Ordnung und Aufmerksamkeit im Führungszeugnis und die Pflichtfächer im Leistungszeugnis benotet. Und das bis zum Ende meiner Volksschulzeit! Meine dokumentierten Schulnoten sind mir irgendwo in meinen rund 85 Milliarden Nervenzellen und Billionen Synapsen mit der Zeit verloren gegangen.

Schule um 1965

Im Sportunterricht stellte der Sportlehrer schnell fest, dass ich in der Leichtathletik schnell an meine körperlichen Grenzen stieß und ich nicht einsah, warum ich mir bei einem sinnlosen Hürdenlauf meine noch im Wachstum befindlichen Knochen brechen sollte. Sozialkundlich-philosophische Fächer wurden in der Schule nicht angeboten, zum Glück auch kein Religionsunterricht. Dafür belegte ich mit großem Interesse die Fächer Geschichte, Erdkunde, Chemie, Biologie und Deutsch, die von den Paukern allerdings wenig lustig, dafür aber äußerst einschläfernd vorgetragen wurden, was sich dann auch in den wenigen guten Noten auf meinem Zeugnis niederschlug. Meine Motivation für den an Sadismus grenzenden Mathematikunterricht hielt sich ab der fünften Klasse in Grenzen. Um zum Beispiel zu differenzieren, brauche ich keine Mathematik, sondern eine gute Menschenkenntnis. Die Integration wurde mir schon als Kleinkind zur Genüge eingeprügelt, und für die Wurzel ziehen ist bei mir der Zahnarzt zuständig.

Nach einer kleineren, versehentlich von mir im Chemieraum herbeigeführten Verpuffung, mit drei Leichtverletzten, wurden meine Eltern aus mir völlig unverständlichen Gründen zu einem klärenden Gespräch mit Direktor Heinrich Sch. und der namenlosen Schnepfe von Klassenlehrerin vorgeladen. Im allseitigen Einvernehmen durfte ich diese Schule wegen guter Führung nach nur eineinhalb Jahren wieder verlassen. Nach diesem kurzen Intermezzo landete ich mitten im 6. Schuljahr wieder in meiner alten Volksschule, worüber meine Freunde und Mitschüler hocherfreut waren. Ob dieses unverhoffte Wiedersehen Freude bei meinen alten Lehrkräften auslöste, wage ich hingegen stark zu bezweifeln.

Als gegen 16 Uhr ein Glöckchen auf dem Flur ertönte, war ich ganz still, weil ich nicht wusste, was mich erwartete. Dann ging meine Zimmertür auf und jemand verkündete, dass jetzt Bescherung sei. Wobei ich mit dem Wort Bescherung nichts anfangen konnte. Wir gingen die Treppe hinunter ins Wohnzimmer. Mit weit aufgerissenen Augen und einem ungläubigen Gesichtsausdruck fiel mein Blick zuerst auf eine Weihnachtskrippe, die unter dem Weihnachtsbaum aufgebaut war. Es war ein filigranes, dreidimensionales Meisterwerk erzgebirgischer Weihnachtskunst. Oma nahm mich an die Hand und versuchte mir die christliche Bedeutung der einzelnen aus Holz geschnitzten Menschen- und Tierfiguren zu erklären. Zum Glück merkte sie schnell, dass mich die biblischen Geschichten wenig bis gar nicht interessierten.

Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wie alt ich war, als ich mich zum ersten Mal intensiver mit dem Wurmfortsatz zwischen meinen Beinen beschäftigt habe. Aber eine Begebenheit aus dem Jahr 1964, ich war damals neun Jahre alt, ist mir in Erinnerung geblieben. Irgendwie hatte ich für eine Mark eine Schachtel Zigaretten der Marke Ernte 23 und eine Schachtel Streichhölzer organisiert. Es war die Zeit, als Zigaretten noch einzeln verkauft wurden oder drei Stück in einer Schachtel für einen Groschen. Mit meinem Kumpel Lothar, dem erwähnten Dusseldier, der mir inzwischen treu ergeben war, gingen wir in ein Waldstück, das etwas weiter von meinem Elternhaus entfernt lag und von dem ich wusste, dass es dort einen Försterstand gab. Wir stiegen hinauf, wissend, dass wir so beim Rauchen nicht gesehen und unangenehm überrascht werden konnten.

Vorsichtig öffnete ich die Packung, als wäre es der Heilige Gral, und zum ersten Mal in diesem frühen Entwicklungsstadium zogen wir nicht an einer Schokoladenzigarette. Und dann: Himmel, Arsch und Zwirn! Uns wurde schlecht! Wir husteten und spuckten uns die Seele aus dem Leib. Die angebrochene Zigarettenschachtel überließ ich abends, Bonbons lutschend, großzügig meinem Vater und behauptete, sie gefunden zu haben. Zum Glück schöpfte er keinen Verdacht. Überhaupt hatte ich inzwischen schnell gelernt, um Ausreden nicht verlegen zu sein. Wahrscheinlich ein Erbe aus meiner Heimzeit, um der körperlichen Züchtigung zu entgehen. Diese Angewohnheit habe ich in den folgenden Jahren beibehalten und perfektioniert. Mit etwa 13 Jahren begann ich, regelmäßig und heimlich zu rauchen. Und nicht nur das.

Buschmannshof – Voerde [Abb. ähnlich]

Zu unserem ungeschriebenen Ehrenkodex gehörte es zum Beispiel, bei Prügeleien den am Boden liegenden Gegner nicht weiter zu attackieren. Wenn ein Kampf verloren war, dann war er verloren. Ohne Wenn und Aber. Waffen jeglicher Art waren tabu. Durch die Clique lernte ich [schlecht] Fußball spielen, fluchen, masturbieren und saufen. Im Prinzip verstanden wir uns als homogene Gruppe Gleichaltriger und als eine Art Vollkaskoversicherung auf Gegenseitigkeit. Dieses Kinderkollektiv hat mir entscheidend dabei geholfen, die schrecklichen Erlebnisse in der Kinderkaserne tief in meinem Unterbewusstsein zu vergraben. Kurzum: Es war die Zeit einer wunderbaren Kindheit, geprägt von einer bis dahin nicht gekannten Freiheit. Ich durfte in diesem neuen Lebensabschnitt nicht nur lernen, was altersgemäße Spiele sind, sondern auch, dass Freiheit Grenzen hat. Heute weiß ich: Wer absolut frei sein will, zahlt den Preis der Einsamkeit!

Ich überlege gerade angestrengt, warum mich die Fülle der Erinnerungen an die ersten zwei, drei Jahre nach meiner Entlassung aus der Zuchtanstalt nun schon so lange beschäftigt. Was vorher gar nicht oder nur verschwommen in meinem Unterbewusstsein schlummerte, wird plötzlich zu einem wahren Tsunami an Erinnerungen. Zeiten, Menschen, Ereignisse, Landschaften und sogar Gerüche aus meiner Vergangenheit tauchen auf, die ich vorher in dieser Deutlichkeit nicht für möglich gehalten hätte. Liegt es vielleicht daran, dass ich mich plötzlich nicht mehr auf der Schattenseite des Lebens befand? Was ich allein in dieser kurzen Zeit in Voerde an Abenteuern erlebt, an Wissen und Vertrauen und Freiheiten gewonnen, an Ängsten verloren, an Gefühlen gezeigt, an Problemen bewältigt, an neuen Ideen entwickelt und an Freundschaften geschlossen habe, ist schier unglaublich. Dafür hätte ich, wäre ich nicht adoptiert worden, 666 Jahre in der gottverlassenen Sklavenkolonie Aachen gebraucht. Falls ich mir dort nicht schon vor der Pubertät mein junges Leben genommen hätte.

Ich hatte eine unbekannte Anzahl von Eltern, die ich keinem Kind wünschen würde. Es waren Ordensfrauen ohne Charakter, ohne Kinder und mit fragwürdigen Biografien. Eltern, die mir mit ihrer Bosheit, Heuchelei, Skrupellosigkeit, Selbstsucht und Hinterhältigkeit, mit ihrer Arglist, ihrer Willkür und ihren Lügen sieben lange Jahre das Leben zur Hölle gemacht haben. Bevor ich mich jetzt in Rage schreibe und bei dem einen oder anderen Thema wieder die Pferde mit mir durchgehen lasse, möchte ich nur zur Kenntnisnahme für die jüngeren Leser [und zur Auffrischung verloren geglaubter Erinnerungen für die älteren] die gravierenden Unterschiede im Leben dreier Generationen aus meiner Sicht von damals und heute schildern. Aber nicht bevor ich mitteile, was ich mir am meisten wünsche: Ich wünsche mir mehr Chancengleichheit für alle Menschen, eine gewaltfreie Welt ohne Kriege, Gewalt und Vertreibung, sowie eine gerechtere Verteilung der Güter zwischen Arm und Reich. Ich wünsche allen Menschen Liebe im Herzen, Zufriedenheit und Gelassenheit, eine erträgliche Gesundheit, Toleranz zwischen den Generationen und Frieden in den Familien. Dazu braucht es alles, nur nicht den christlichen Glauben.


Ich befand mich mitten in einer Szene eines Horrorfilms und sah, dass sich Hirnreste, die aussahen wie dicke, kurze, hellbeige Würmer, noch bewegten. Nicht nur die Reifen meines Fahrrads waren voller Blut, sondern auch der Rahmen und Teile meiner Kleidung. Mein Zeitgefühl schwankte zwischen Dehnung und Stillstand. Zu Hause angekommen, sperrte ich mich in mein Zimmer ein und entledigte mich meiner Kleidung. Diese habe ich am nächsten Tag, bis auf die Schuhe, unbemerkt entsorgt. Ich hatte nächtelang schreckliche Albträume und machte das grauenhafte Erlebnis über Tage hinweg zu meinem Geheimnis. Später erfuhr ich, dass es sich bei den Unfallopfern um ein Ehepaar mittleren Alters aus unserer Siedlung handelte. Die Frau, über deren Leichenteile ich gefahren war, und den Mann sah ich Monate später einmal einbeinig im Rollstuhl vor seinem Haus sitzen. Die Geschwindigkeitsbegrenzung außerhalb geschlossener Ortschaften wurde 1972 eingeführt, die Helmpflicht für Motorradfahrer erst 1976. Beides hätte das Leben dieser Frau retten können. Aber euer Gott wollte es anders.

Mike, ca. 1967

Dem großen Familientreffen und der erhofften Erholung stand nun nichts mehr im Wege. Endlich konnte ich diesmal in der Adria planschen, tauchen und schwimmen. Schon nach dem ersten versehentlichen Schluck erkannte ich den Unterschied zwischen Salz- und Süßwasser und kam so in den Besitz einer Tauchermaske und einem Schnorchel. Es muss der zweite oder dritte Urlaubstag gewesen sein, als ich von Onkel Willi am Strand unverhofft und völlig schuldlos eine schallende Ohrfeige bekam. Die erste seit Maria im Tann. Der Grund: Ich war davon ausgegangen, dass meine etwa gleichaltrige Cousine Petra schon schwimmen konnte. Dem war aber nicht so. Wir hatten in Strandnähe im knietiefen Wasser getobt und ich hatte sie aus Spaß immer wieder mit dem Kopf unter Wasser getaucht. Bis sie plötzlich anfing zu schreien und Onkel Willi aus seiner Sicht meinte, ich wolle sie ertränken.

Nachdem das zwischen uns geklärt war und er sich bei mir entschuldigt hatte, hätte es ein schöner Urlaub werden können. Hätte. Schon einen Tag nach diesem Vorfall bat mich Mutter, wie schon im Jahr zuvor, den Müll herauszubringen. Und was passierte? Bingo! 1.000 Punkte! Wieder war ich vor einem Mülleimer in eine Glasscherbe getreten. Trotz der starken Blutung lehnte ich diesmal professionelle Hilfe ab. Nachdem mich Onkel Willi verarztet hatte, konnte ich zwar wieder humpeln, aber für den Rest des Urlaubs nicht mehr ins Meer. Schade. Als kleines Trostpflaster spendierten mir meine Eltern in diesem Urlaub einen Ausflug ins nicht weit entfernte Venedig. Nach dieser erneuten schmerzhaften Erfahrung mit herumliegenden Glasscherben bin ich nie wieder barfuß gelaufen. Übrigens: Auf der Rückfahrt fuhren wir, diesmal stressfrei, durch den Großen St. Bernhard Tunnel.

Erst jetzt, gegen Ende des zweiten Kapitels meiner retrospektiven Erinnerungen, frage ich mich, obwohl ich ein unschuldiges Heimkind war [mit den typischen Symptomen des Hospitalismus], warum ich in meiner neuen Welt wieder missachtet, schikaniert, angegriffen, geärgert, diskriminiert und ausgegrenzt wurde. Mit Ausnahme meines Vaters, meiner Mutter und meiner Oma Dine. Zuerst von den engsten Verwandten mütterlicherseits und den Erwachsenen in meiner Nachbarschaft. Später auch von einigen Lehrern. Warum diese Ablehnung, die manchmal mit aggressivem und übertriebenem Verhalten einherging? Lag es an der Nachkriegszeit? An den Vorurteilen, die es damals noch gab? An den sozialen, religiösen, wirtschaftlichen und politischen Veränderungen der 50er und 60er Jahre? Bei der Frage nach den Gründen für ihr Verhalten klammere ich bewusst das Verhalten der Kinder in meiner heutigen Umgebung aus. Sie sind in meinen Augen nur ein Spiegelbild ihrer eigenen Erziehung und Umwelt und damit genauso unschuldig wie ich es war. Dennoch ist es ein unangenehmes Gefühl, das ich nie ganz abschütteln konnte.


Hinweis:

Heute, als Mittvierziger, der die Weisheit nicht mit Löffeln gefressen hat und schon gar nicht mit dem goldenen Löffel im Mund geboren wurde, bin ich zu der Erkenntnis gelangt, dass es für alle Erziehenden dieser Welt eine ebenso einfache wie geniale Formel gibt: Vorbild + Liebe = Erziehung. Meine Überzeugungen beruhen nicht auf [oft dubiosen] wissenschaftlichen Erkenntnissen, sondern allein auf meinen langjährigen Beobachtungen und Lebenserfahrungen. Die weiterführenden Gedanken, die sich beim Schreiben dieser Biografie ergeben haben, habe ich im Laufe der Jahre in schriftlicher Form aufbewahrt und unter Gedankensplitter II im folgenden Kapitel zusammengefasst.


Zeit ist nur das, was man von der Uhr abliest. –

Es geht mir bei meinen zahlreichen Ausführungen nicht darum, die Dinge, die unser aller Leben betreffen, nur zu kritisieren und in den Schmutz zu ziehen, sondern den Ursachen [Wurzeln] auf den Grund zu gehen, um dann über den einen oder anderen geeigneten Lösungsansatz nachzudenken. Im folgenden Beitrag bitte ich alle Eltern vorab um Entschuldigung, dass ich es als schwuler Mann wage, meine Einstellungen zu Erziehungsfragen über die Unterschiede zwischen meiner späten Kindheit und frühen Jugend und der Jugend von heute zu äußern. Gerade weil ich bei der Erziehung meiner eigenen Kinder versagt habe, steht es mir nicht zu, mich als Erziehungsberater mit mehr oder weniger guten Ratschlägen hervorzutun.

Dennoch halte ich es grundsätzlich für falsch, sich negativ über die heutige Jugend zu äußern. Warum kritisiert niemand die Eltern von heute und ihre oft missratene [V]erziehungsmethodik? Schließlich sind ihre Kinder das Resultat ihrer Fortpflanzung und Spiegelbild ihres eigenen Tuns und Unterlassens. Ich bin der festen Überzeugung, dass gerade die Erziehung der Kinder das wichtigste Fundament jeder Gesellschaft ist. Oder sinnbildlich gesprochen: jede Brücke ist nur so stabil wie ihr Fundament. Eine geplante, zielgerichtete und wechselseitige soziale Interaktion mit den Eltern könnte viele unserer gesellschaftlichen Probleme lösen.

Ich hatte eine unbekannte Anzahl von Eltern, die ich keinem Kind wünschen würde. Es waren Ordensfrauen ohne Charakter, ohne Kinder und mit fragwürdigen Biografien. Eltern, die mir mit ihrer Bosheit, Heuchelei, Skrupellosigkeit, Selbstsucht und Hinterhältigkeit, mit ihrer Arglist, ihrer Willkür und ihren Lügen sieben lange Jahre das Leben zur Hölle gemacht haben. Bevor ich mich jetzt in Rage schreibe und bei dem einen oder anderen Thema wieder die Pferde mit mir durchgehen lasse, möchte ich nur zur Kenntnisnahme für die jüngeren Leser [und zur Auffrischung verloren geglaubter Erinnerungen für die älteren] die gravierenden Unterschiede im Leben dreier Generationen aus meiner Sicht von damals und heute schildern.

Vater und ich – Camping Lido de Jesolo / Italien 1966

Obwohl wir noch das elterliche und schulische Züchtigungsrecht kannten, empfand ich als 11-, 12-Jähriger eine gelegentliche Ohrfeige oder einen Klaps als Erziehungsmittel im Vergleich zu der Brutalität meiner christlichen Erzieherinnen im Kinderheim geradezu als Streicheleinheit. Aus meinem damaligen Freundes- und Bekanntenkreis ist mir zudem kein einziger Fall bekannt, in dem jemand halbtot oder krankenhausreif geprügelt wurde. Es hat uns sicherlich nicht geschadet, gemaßregelt und in die Schranken verwiesen zu werden! Ein großer Vorteil außerhalb des Elternhauses war der, dass wir uns zum Teil gegenseitig erzogen haben, oder von den älteren Kindern und Jugendlichen erzogen wurden. Wenn es Konflikte unter uns Kindern gab, konnte man sich das übliche Gezeter draußen und zu Hause sparen. Die wurden, wenn möglich, ohne elterliches Zutun mehr oder weniger gewaltfrei unter uns ausgetragen. Wir haben uns keinen abgebrochen, uns für ein begangenes Fehlverhalten zu entschuldigen. Auch daran könnten sich die heutigen Erziehungsbevollmächtigen von Kleinkindern ein Beispiel nehmen!

Aus eigener langjähriger Erfahrung kann ich allen Müttern und Vätern versichern: Der beste Start in eine schöne Kindheit ist ein Leben ohne Computer, Smartphone und/oder Tablet! Im digitalen Zeitalter reicht es völlig aus, wenn sie ihre Kinder erst nach der Einschulung mit dieser Technik in Berührung bringen. Ab dann ist es Aufgabe der Erziehungsberechtigten, auf einen sinnvollen Umgang zu achten! Wissenschaftliche Erkenntnisse haben gezeigt, dass Kinder durch den Einfluss der Digitalisierung in Kindertagesstätten und Grundschulen in ihrer Entwicklung negativ beeinflusst werden. Dies führt zu einer deutlichen Verschlechterung der Lernleistungen im Rechnen, Lesen und Schreiben. Bei meinen Beobachtungen im öffentlichen Raum stelle ich zudem fest, dass die kleinen Racker immer schlechter zuhören können und deutliche Defizite in der Sprachentwicklung aufweisen.

Statt Kindern eine unbeschwerte Kindheit zu ermöglichen, werden viele unsere auf Leistung getrimmten, noch arbeitslosen zukünftigen Entscheidungsträgern schon weit vor der Einschulung spielerisch und online mit englischen Vokabeln und lebensnahen Dialogen gefüttert. Parallel dazu sollen sie noch Tennis-, Geigen-, Schwimm-, Judo- und Yogaunterricht nehmen, das Kinderzimmer aufräumen, den eng getakteten Terminkalender einhalten und den Umgang mit Tablets und Videospielen lernen. Wenn diese Mustereltern des Schwachsinns dann mit viel Glück merken, dass ihr Kind mit all dem geistig überfordert und gestresst ist, betteln sie wochenlang beim nächstbesten kopfschüttelnden Kinderpsychologen um therapeutische Hilfe. Wäre es nicht sinnvoller gewesen, wenn sich die Eltern schon vor der Geburt von einem Psychologen hätten gutachterlich bestätigen lassen, dass sie mächtig einen an der Waffel haben?

Die Erziehungsmethoden heutiger Mittel- und Oberschichteltern und ein Übermaß an Zuwendung machen aus verweichlichten Jammerprinzen und -prinzessinnen krankhafte Egozentriker und Exzentriker. Diese auf Leistung getrimmten jungen Erwachsenen mit ihrem zur Schau gestellten übersteigerten Selbstbewusstsein, ihrer mangelnden Ausdauer und ihrer geringen Belastbarkeit werfen bei der kleinsten Herausforderung des Lebens das Handtuch. Aus meinen langjährigen Beobachtungen und Gesprächen mit Jugendlichen stelle ich fest, dass viele von ihnen unselbständiger sind als mein Jahrgang und nicht wissen, wie sie mit ihrem Frust und konstruktiver Kritik umgehen sollen. Mir graut davor, dass diese antiautoritär erzogenen Digitaltrottel in Zukunft in Politik und Wirtschaft das Sagen haben.

Freibad Voerde

Das Internet ist eine Informations-, Kommunikations- und Unterhaltungsquelle, die uns Millionen von Antworten auf nie gestellte Fragen bietet. Allerdings birgt es bei unkritischer, unsachgemäßer und oberflächlicher Nutzung gerade für Jugendliche, deren Gehirn sich noch im Umbau befindet, enorme Gefahren, die zu internetbasierten Störungen bis hin zu depressivem Verhalten führen können. Erziehungsbevollmächtigte haben im Umgang mit diesem Medium nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht [ohne die Privat- und Intimsphäre der Kinder und Jugendlichen zu verletzen] auf diese Gefahren für die mentale Gesundheit in aller Deutlichkeit hinzuweisen. Neben unseriösen und falschen Informationen besteht die große Gefahr, dass gerade junge Menschen aufgrund mangelnder Medienkompetenz den von mir genannten Risiken ausgesetzt werden und wir damit auf dem besten Weg sind, unsere Zukunft in den Weiten des Internets zu verlieren! Um Kinder künftig besser vor dem Online-Wahnsinn zu schützen, kann ich den Kultusministern der Länder nur dringend empfehlen, das Pflichtfach Digitale Ethik ab der 1. Klasse einzuführen.


Damit komme ich zu einem weiteren meiner vielen Reizthemen: der mit äußerster Vorsicht zu genießenden Berufsgruppe der Plüschologen. Es entspricht meinem Wahrheitsverständnis, dass ich aus meiner Zeit in der Schattenwelt des Höllengesindels der Schwestern vom armen Kinde Jesus jahrzehntelang nur sehr, sehr wenige und zudem durchweg negative Erinnerungen an meine fünfjährige Isolationshaft hatte. In dieser Zeit hatte ich mir einen für Außenstehende undurchdringlichen Panzer meiner kindlichen Seele zugelegt. Mit meiner so erworbenen Verschlossenheit trieb ich in den folgenden Jahren die Zunft der Daseinsberater und Psychotherapeuten oft ungewollt an den Rand des Wahnsinns. Wobei sich manche Vertreter dieses Berufsstandes gar nicht so sehr ändern müssen.

Was soll ich mit einem Psychiater, Psychosomatiker, Psychologen oder einem Psychotherapeut anfangen, der, wie es mir passiert ist, schon nach 15 Minuten das erste Mal auf die Uhr schaut und sich keine Notizen macht? Die Chemie zwischen uns schon bei der ersten Begegnung nicht stimmt und er mir das Gefühl gibt, nicht genügend Einfühlungsvermögen zu haben? Muss ich mich dann erneut auf die Suche nach einem geeigneten Therapeuten machen? Wieder ein halbes Jahr warten? Für viele verzweifelte Patienten ist eine Wartezeit von [nur] vier Wochen eine nicht hinnehmbare Zumutung. In dieser Zeit haben sie sich vielleicht schon längst für den Suizid oder einen erweiterten Suizid entschieden. Wie oft hören wir von Fällen, in denen psychisch Kranke Amok laufen, scheinbar wahllos Menschen töten oder schwer verletzen?

Sofern es sich nicht um eine Zwangseinweisung in eine Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie handelt, hat jeder Mensch die Möglichkeit, sich freiwillig für einen stationären Aufenthalt zu entscheiden. Bevor man diesen Schritt gehen will, sollte man sich einige Fragen stellen: Was erwartet mich dort? Dient es wirklich meiner körperlichen und seelischen Gesundheit, wenn mich jeden Tag wildfremde Menschen mit ihren detaillierten Schilderungen ihrer Psychosen belasten, mich mit ihren herzzerreißenden Geschichten über ihre schrecklichen Entzugserscheinungen als Alpha-, Beta-, Gamma-, Delta- oder Epsilon-Alkoholiker zu Tränen rühren? Will ich wirklich bei jeder Mahlzeit das Schmatzen, Rülpsen und Gurgeln von Borderlinern, Schizophrenen, Bipolaren, Zwangs- und Persönlichkeitsgestörten hören? Dass mich des nächtens ein Schlafwandler aus meinem zeitlich äußerst knapp bemessenen Schlaf reißt, weil er über mich hinweg eine Abkürzung zum Klo sucht?

Nach diesem etwas ausführlicheren Ausflug in die Gaga-Welterlaube ich mir noch auf Folgendes hinzuweisen: Körper und Geist existieren nicht unabhängig voneinander, sondern beeinflussen einander. Frei nach dem lateinischen Sprichwort: Mens sana in corpore sano.“ Ein gesunder Geist in einem gesunden Körper. Ich selbst habe in den letzten Jahren gelernt, dass es möglich ist, mit meinem Gast in mir, mit meiner Seele zu kommunizieren. Dazu genügt es, die Augen zu schließen, sich für einen Moment in absolute innere Ruhe zu versetzen, leise Entspannungsmusik im Hintergrund zu hören, den Blick nach innen zu richten und in sich hinein zu lauschen. In diesem Zustand nimmst du sie wahr: deine Seele. Und glaube mir: Sie hat dir verdammt viel zu erzählen, sie ist deine einzige Verbündete und wird dich niemals anlügen! Überflüssige und zeitraubende Kirchgänge und Aufenthalte in fragwürdigen Beichtstühlen lassen sich auf diese Weise ebenfalls vermeiden.

Als letzten Gedankensplitter beim Schreiben dieses zweiten Kapitels hatte ich mir die hirnrissige Ideologie der heutigen Nazis notiert. Um die Zusammenhänge der mich interessierenden Themen besser zu verstehen, habe ich mir schon vor vielen Jahren angewöhnt, nach dem Kausalitätsprinzip vorzugehen: Ursache und Wirkung. Mit dem folgenden Beitrag möchte ich insbesondere die mir nachfolgenden Generationen ausdrücklich vor den Heilsbringern des nationalsozialistischen braunen Sumpfes [Hitler und seine Entourage] warnen! Da ich einer ungewissen glücklichen Bestimmung folgend, mein bisheriges Leben in einem demokratisch regierten Land verbracht habe, viele Länder dieser Erde [darunter auch einige sozialistische Bruderländer] besucht habe, fordere ich alle Populisten, Reichsbürger und Neonazis auf, ihre Koffer zu packen, die Bundesrepublik Deutschland endlich zu verlassen und ihre kranken Ideologien künftig in despotisch regierten Ländern zu verbreiten! Ich denke da an Länder wie Nordkorea, Syrien, Republik Tschad, Kuba, Russland, Jemen und viele mehr. Aber gebt vorher eure deutsche Staatsbürgerschaft ab!

Mir war aus den mir bekannten Personenkreisen nie zu Ohren gekommen, dass sich jemand dazu bekannte, überzeugter Nationalsozialist gewesen zu sein und Gräueltaten begangen zu haben. Neben dem Wiederaufbau des zerstörten Deutschlands waren es oft die alleinstehenden Kriegswitwen und alleinerziehenden Mütter, die zwei, drei und mehr Kinder unter meist erbärmlichen Bedingungen zu braven Staatsbürgern und Arbeitssklaven erzogen. Diesen Frauen gebührt unser aller Respekt. Trotz ihres Leids und vieler Entbehrungen ermöglichten sie oft ihren Kindern den Besuch von Schulen und das Erlernen von Berufen. Es war eine Generation von Frauen, die ohne moderne Haushaltsgeräte und -hilfen Tag und Nacht schuftete, nebenbei ihre zerbombten Wohnungen bewohnbar machte und sich spartanisch mit Möbeln meist unbekannter Herkunft einrichtete. Die zum Teil unter Lebensgefahr und nur mit ihrer Muskelkraft Steine und alles, was noch brauchbar war, aus den Trümmerlandschaften gruben. Frauen, die in den großen Städten provisorische Gleise legten, kleine Schienenfahrzeuge, sogenannte Loren, beluden und die schweren Lasten von Hand zu den dafür eingerichteten Sammelstellen zogen.

Bei den heutigen Neonazis, die sich zum Teil als Märtyrer der nationalsozialistischen Ideologie sehen, gehe ich davon aus, dass ihr historisch-politisches Bildungsniveau zu 97 % bei einem IQ von höchstens 80 bis 89 [unterdurchschnittlich intelligent] und 70 bis 79 [geistig zurückgeblieben] liegen dürfte. Diese Begriffslegastheniker ohne kritisches Wahrnehmungsvermögen flüchten sich in die Arme der verbleibenden 3 % an Rädelsführer, deren Intelligenzquotient gerade noch die 100er-Marke erreichen dürfte. Als Endlösung für dieses Gesocks könnte ich mir gut vorstellen, dass der Fall einer zehn Kilogramm schweren Enzyklopädie aus fünf Metern Höhe auf ihre glattrasierten Schädel durchaus hilfreich sein dürfte. Ich erlaube mir, dieses zweite Kapitel meiner Gedankensplitter mit einem Zitat des indischen Freiheitskämpfers Mahatma Gandhi [1869 bis 1948] abzuschließen: „Bevor ein Kind mit dem Alphabet und anderem Wissen von der Welt befasst wird, sollte es lernen, was die Seele ist, was Wahrheit und Liebe sind, welche Kräfte in der Seele schlummern. Wesentlicher Teil der Bildung müsste sein, dass das Kind unterwiesen wird, wie man im Lebenskampf Hass durch Liebe, Unwahrheit durch Wahrheit, Gewalt durch eigenes Leiden besiegt.“


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