Entschuldigt, dass es mich gibt!

Autobiografie eines ehemaligen Heimkindes [Band I: 1955 – 1976]

Eine etwas längere Ein[g]leitung

Essen, 26. Oktober 1998. In den Annalen der Geschichtsbücher wird es ein unbedeutendes Datum sein. Für mich hingegen ist dieser Tag der Zeitpunkt, endlich unverarbeitete [eine Ewigkeit zurückliegende] Schicksalsschläge aufzuarbeiten. Primär geht es mir bei meinen zeitgeschichtlichen Aufzeichnungen nicht darum, diese für die Nachwelt zu erhalten, sondern eher darum, endlich mehr über meinen Ursprung erfahren zu wollen und dadurch meine als negativ empfundenen Eigenheiten und Charakterzüge zukünftig zu beseitigen. Dazu bediene ich mich einer in meinem Denkapparat imaginär befindlichen Bibliothek. In einem der unzähligen dort zur Auswahl stehenden Bücher muss ich sie finden: Antworten auf meine biologischen, psychischen und sozialen Entwicklungsschritte als Kleinkind in prekären Verhältnissen. Antworten auf meine frühkindlichen Alltagserfahrungen, meine enormen Erinnerungslücken, meine Partizipations- und Handlungsmöglichkeiten.

Mit diesem Manuskript unternehme ich ein Experiment, um mithilfe dieser mir selbst verordneten Schreibtherapie Antworten und Erklärungen auf Fragen zu finden, die ich mir über meine frühe Kindheit so nie gestellt habe. Es wird der Versuch einer biografischen Rekonstruktion sein, eine ungewisse Reise zurück in meine frühkindliche dunkle Vergangenheit. Ein für mich wagemutiger Versuch, innere Altlasten zu verstehen und zu verarbeiten. Auslöser für den Entschluss, mein Inneres nach außen zu kehren, ist meine gegenwärtige Sinnkrise, die nichts mit einer alterstypischen Lebenskrise zu tun hat. Als deren Folge befinde ich mich seit geraumer Zeit in einer grotesken und existenzbedrohenden Sinnleere und Sinnlosigkeit. Ich beginne mit meinen literarischen Ergüssen, mit einer Handvoll verblasster frühkindlicher Erinnerungen.

Die ersten nebulösen Erinnerungen an die Zeit in Aachen-Bildchen, das nur aus ein paar Häusern entlang der Lütticher Straße bestand und dessen ehemaliger belgischer Grenzübergang fußläufig zu erreichen war, offenbarten sich mir erst ab meinem fünften, sechsten Lebensjahr. Jahre, in denen mir die für ein Kleinkind wichtigsten Veränderungsprozesse wie Lebensfreude, Vertrauen, Autonomie, Anerkennung, Geborgenheit, körperliche und seelische Wertschätzung, Sicherheit und elterliche Liebe auf grausamste Art und Weise vorenthalten wurden. Ob mir dieser Rückblick auf meine geraubte Kindheit gelingt? Das wissen nur Hel, die germanische Göttin der Unterwelt und Odin, der Gott der Weisheit. Mein Blick in längst vergangene Zeiten hat einen ernsten, tieferen Sinn: Ich möchte endlich die vielen ungelösten Rätsel um meine Herkunft lösen, nicht mehr im Dunkeln zu tappen, sondern Klarheit zu erlangen. Studien, mit unbekannter Herkunft, sollen nämlich belegen, dass Menschen, die ihre Herkunft kennen und verstehen, selbstbewusster und lebensfroher sind. Da bin ich ja mal gespannt.

Mangels eines Journalismus-, Germanistik- oder Literaturwissenschaftsstudiums werde ich dabei meinen eigenen, unverwechselbaren und plagiatsvorwurfsfreien Schreibstil entwickeln. Als ein Freund der westgermanischen Kultursprache lege ich großen Wert darauf, in Deutsch verfasste aufrichtige, authentische, schonungslose und selbstkritische Texte zu hinterlassen. In vielen meiner Passagen lasse ich den Gedanken erst ihren freien Lauf, um die mehrsträngigen, verzweigten und dir konfus vorkommenden Handlungen anschließend wieder in eine halbwegs verständliche und chronologische Reihenfolge einzuordnen. Bereite dich bitte darauf vor, dass ich mich dabei hin und wieder in Raum und Zeit verlieren werde. Entgegen den Richtlinien des Dudens und anderen Linguistikdiktaturen bekenne ich mich als ein Freund des Schachtelsatzes.

Wie es meinem Naturell entspricht, sind emotionale, rationale, humorvolle, tiefsinnige, sarkastische, zynische, nachdenkliche, mystische, satirische, visionäre, sozialkritische, logische und unlogische, hypertextuelle, interaktive und transparente Schreibeskapaden zu erwarten.


Hinweis

Ereignisse und Erkenntnisse, die sich im Laufe des Verfassens dieser Autobiografie nach 2000 ereigneten, wurden von mir nachträglich hinzugefügt und haben aber keinen Einfluss auf den Wahrheitsgehalt meiner Erzählungen.


Und jetzt wünsche ich dir, mein Freund der Zeit, gefühlvolle, zuversichtliche, frohe, nachdenkliche und sinnerfüllte Stunden beim Lesen dieser ungewöhnlichen Lektüre.


Kapitelübersicht

Kapitel 1: Im Kinderseelen-Vernichtungslager [1955 bis 1962]

Kapitel 2: Ein wundersamer Richtungswechsel [1962 bis 1969]

Kapitel 3: Krisen, Umbruch & Veränderung [1969 bis 1976]


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