= L E S E P R O B E N =
> Wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein. <
Aller Anfang ist schwer. Womit anfangen? Wie lange wird es dauern? Wann hört es auf? Es ist gar nicht so einfach, einem Manuskript Leben einzuhauchen. Keine Ahnung, wie viele Seiten Papier voller Gedankenblitze und Erinnerungen am Ende dabei herauskommen werden. Schwere Krankheiten lassen sich heilen. Auch das Leid einer frühen Kindheit voller Brutalität, körperlicher, seelischer und sexueller Gewalt? Du und ich, wir werden es erleben. Oder auch nicht. Die Wurzeln meiner psychischen Störungen, aus denen ich kein Geheimnis mache, liegen mit Sicherheit in den Ereignissen und Erlebnissen meiner frühesten Kindheit. Ich bin mir sicher: Ich werde während des Schreibens oft seelische und psychische Schmerzen verspüren und sicherlich bei der einen oder anderen Erinnerung meinen jeweiligen Gefühlen freien Lauf lassen.

Klein-Mike & ? >um 1956<
Es sind die Schmerzen und Tränen eines kleinen Jungen und seiner >lange Zeit von ihm nicht wahrgenommenen< verletzten Seele, die ihm in Momenten absoluter Ruhe so viel zu sagen hätte. Momente, die mir mein unstetes Leben, meine innere Unruhe bisher verwehrt haben. Sicherlich werde ich aber auch auf meinen rückwärtsgewandten, in Gedanken versunkenen Reisen hier und da amüsiert schmunzeln und mir ein verschmitztes Lächeln nicht verkneifen können. Denn wie so vieles im Leben liegt es oft ganz nah beieinander: die Zwillinge Liebe und Abneigung, Weinen und Lachen, Freud und Leid, Ehrlichkeit und Lüge, Treue und Scheintreue, Vergangenheit und Zukunft, Angst und Mut, Gefangenschaft und Freiheit und so weiter.
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Allerdings gibt es auf meiner anstehenden Gedankenreise ein paar Probleme: Eines davon ist das Fehlen wichtiger Erbinformationen meiner biologischen Eltern, die unter Umständen Leben retten könnten. Eine weitere schwierige und bisher ungelöste Aufgabe ist der enorme Datenverlust meines Hippocampus aus den ersten beiden Lebensjahren. Anschließend gilt es, die dunklen Jahre von 1957 an bis 1962 in der Anstalt für kindliche und jugendliche ‚Balastexistenzen‘ namens ‚Maria im Tann‘ in Aachen-Bildchen zu ergründen und für mich aufzuarbeiten. Ich kenne niemanden, der mir die Beweggründe meiner mit mir genetisch verwandten Mutter Gertrud Anna Schröder, geboren am 26.07.1934, nennen kann, mich 1957 den Qualen und Leiden in dieser perfiden, emotionslosen, kinderfeindlichen und von religiösem Terror geprägten Zöglingsanstalt auszusetzen.
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Warum beginne ich gerade jetzt meine Spurensuche? Nach über 40 Jahren, in denen ein ganzer Ozean den Vater Rhein hinuntergeflossen ist, der Wunsch, das Ungewisse aus dieser Zeit der Dunkelheit ins Licht der Wahrheit zu bringen? Obwohl es für mich in der Regel wenig Sinn macht, in der Vergangenheit herumzukramen, erkenne ich erst jetzt, wie wichtig es ist, in Erfahrung zu bringen, was die Gründe für meine seelischen, körperlichen und zwischenmenschlichen Leiden sind. So fehlen mir beispielhaft relevante Auskünfte über die sozialen Verhältnisse meiner Eltern. Welchen Bildungsgrad sie hatten, waren sie arm oder lebten sie im Wohlstand? Hatten sie Berufe und wenn ja, welche? Liebten sie sich nicht nur körperlich? Welchen Feindseligkeiten waren sie ausgesetzt? Hat mich mein leiblicher Vater je gesehen oder gar in den Armen gehalten? Wem sah ich ähnlich?
Wer waren ihre Eltern, ihre Geschwister, meine blutsverwandten Großeltern? Wie sah ihr soziales Netz aus, hatten sie überhaupt eines? Nach welchen Werten lebten sie oder wie ausgeprägt war ihr religiöser Glaube? Fragen über Fragen, auf die ich wahrscheinlich nie eine Antwort bekommen werde. Eine Antwort, die ich mir geben kann, und das gilt für Vater und Mutter gleichermaßen, ist die ihrer Verantwortungs- und Rücksichtslosigkeit mir gegenüber. Woher sollten sie die auch nehmen? Waren doch beide selbst Ausgestoßene und Opfer einer erzkonservativen deutschen Nachkriegsgeneration mit einem kompromisslos katholischen, realitätsfernen und -fremden Glauben. Ein religiöses Bekenntnis, das mindestens so alt ist wie der Unglaube des Christentums, das Heidentum.
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Beginnen werde ich meine Spurensuche mit den gesicherten Daten zu meiner Person: Laut Geburtsurkunde, die mir erst 1978 von meinen Eltern ausgehändigt wurde, begann ich am 4. Februar 1955 gegen 23 Uhr im für Kölner und Kölnerinnen verbotenen Düsseldorf, im Industrieviertel Derendorf, Ulmenstraße 83, mit meinen ersten selbständigen Atemübungen. Im Lieferumfang enthalten war eine auf meinen Namen ausgestellte imaginäre Arschkarte. Unter obiger Adresse befindet sich heute eine Wohngemeinschaft für Mutter und Kind. Und wie passend: betrieben vom barmherzigen ‚Sozialdienst katholischer Frauen und Männer Düsseldorf e. V.‘. Dahinter verbirgt sich nichts anderes als die ‚Caritas‘, ein katholischer Ableger des geldgierigen Ausbeuterkartells mit Sitz in Rom. Im folgenden ‚Kapitel 1.1: Gedankensplitter I‘ werde ich meine Meinung über die Institution der katholischen Kirche sicherlich noch freien Lauf lassen.
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Hinter dieser Anschrift verbarg sich zur Zeit meiner Geburt das katholische Gertrudisheim, ein Säuglings- und Kleinkinderheim für außerehelich gezeugte Spei- und Gedeihquitschies. Für heutige Verhältnisse unvorstellbar: Unter 21-jährige, unverheiratete Mütter, die gesetzlich noch als Minderjährige galten, waren, wollten sie ihre Brut nicht irgendwo in einer der noch zahlreich vorhandenen Weltkriegsruinen zur Welt bringen, in Westdeutschland gezwungen, in eine dieser Einrichtungen den Ballast in ihrem Bauch loszuwerden. Genötigt von Kirche und Staat, musste meine 20-jährige berufslose Erzeugerin die strapaziöse Reise aus dem erzkatholischen und stockkonservativen Monschau in der Nordeifel, eingebettet an den Uferhängen der Rur, in die heutige Botox-, Blender- und Protzhauptstadt Nordrhein-Westfalens antreten. Mit welcher Art von Schwangerentransport sie diese Einrichtung erreichte, ist gleichfalls nicht überliefert.
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Sie schreibt weiter, dass sie mich genau an dem Tag, an dem sie volljährig wurde, am 26.07.1955, abholte und in ein Kinderheim nach Mechernich/Eifel brachte, wo sie im dortigen Krankenhaus arbeitete. Dann wird es suspekt: Ihrer Schilderung nach ging sie 1956 durch Heirat einem Herrn Herschbach auf den Leim, da ihr dieser versprochen haben soll, mich >wörtlich< ‚mit zu versorgen‘. Warum er dieses Versprechen nicht hielt und ich deshalb ab 1957 in ‚Maria im Tann‘ eingeliefert wurde, kann sie nicht erklären. Ihre erste Ehe wurde bereits nach zwei Jahren wieder geschieden. Waren ihre Entscheidungen mich betreffend auf ihre Naivität zurückzuführen? Warum behielt sie mich am Tag ihrer Volljährigkeit und meiner Befreiung aus der Aachener Zwangsresidenz nicht bei sich und heiratete den Tuppes erst nach einer angemessenen Probezeit? Stattdessen zog sie es vor, sich in dieser Zeit von ihm schwängern zu lassen. So kam ich, ohne es zu wissen, zu meiner halben Schwester.
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Wer weiß, in welchen Bahnen mein Leben ansonsten verlaufen wäre? Und erst recht das meiner unzähligen Wegbegleiter? Vielleicht beantwortet die Zukunft meine diesbezüglichen Fragen, die ich ihr nicht stellen kann. Ich weiß ja noch nicht einmal, ob sie noch unter den Lebenden weilt. Nicht auszudenken: Wie anders wäre mein Leben verlaufen, wenn ich beispielsweise die Gene eines skrupellosen Drogenbarons, Diktators, Serienvergewaltigers, intriganten Kirchenfürsten, korrumpierbaren Politikers, islamistischen Selbstmordattentäters oder verlogenen Bänkers geerbt hätte? Vielleicht war es für mich eine Bestimmung, quasi das Glück im Unglück? Gleichwohl: ‚Ludi incipiant‘, die Spiele mögen beginnen.
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Diese ergaben, dass die im Jugendstil 1909 errichten Gemäuer zuerst als ‚Kaiser-Wilhelm-Genesungsheim für Männer‘, eine Lungenheilanstalt mit einer angegliederten Kapelle genutzt wurden. Im März 1945, ein paar Monate vor Ende des größten und blutigsten Kriegs der Menschheitsgeschichte, wurde das altehrwürdige Gebäude zunächst als ‚Kindererholungsstätte‘ betrieben. Eingenistet hatten sich seither die aus dem belgischem Exil zurückgekehrte Sekte der ‚Schwestern vom armen Kinde Jesus‘ >Entschuldigung, ich muss mich übergeben<. Diese waren >eigentlich< in den ersten Nachkriegsjahren mit der Aufgabe betraut worden, die durch den Zweiten Weltkrieg zu Halb- oder Vollwaisen gewordenen Kinder zu versorgen, zu betreuen, gemäß den gesetzlichen Bestimmungen zu erziehen und ihnen den Erwerb von Wissen zu ermöglichen. Doch was hatte ich überhaupt dort zu suchen? Ich war doch weder Halb- noch Vollwaise! Anna wollte mich da doch bestimmt nur für eine kurze Zeit auslagern! Oder?
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Selbst heute, nach knapp 40 vergangenen Jahren und intensiven Überlegungen, kann ich mich nicht daran erinnern, in dieser mitleidslosen Religionsgemeinschaft meinen eigenen, sicherlich minimal vorhandenen Sprachschatz angewendet zu haben. Stattdessen klingeln mir noch heute die von den Ordenshexen beleidigende und menschenverachtende, an den Kopf geschleuderte Schimpfwörter in den Ohren. Wörter, deren Bedeutung ich als Kind trivialerweise nicht verstand. Ausdrücke, die kein Kind in diesem Alter zu hören bekommen sollte. Kleine Auswahl gefällig? Du Taugenichts, dreckiger Bastard, Sohn einer Hure >alternativ: Sohn des Teufels<, Schwachkopf, Depp, Trottel, Missgeburt, Taugenichts, Volksschädling, Nichtsnutz, Idiot, Schmarotzer und so weiter und so fort.
Damit gaben sie uns Kindern verbal und nonverbal unmissverständlich zu verstehen, dass nur sie die Macht über uns haben und wir außerstande sind, dagegen etwas zu unternehmen. Zudem seien unsere Eltern für unser verkorkstes Dasein verantwortlich, wir seien Parasiten und eines Tages würde uns sowieso der Teufel holen. Wahrscheinlich hatte ich noch großes Glück, dass an mir nicht der Exorzismus praktiziert und mir keine Nummer auf dem Ärmchen tätowiert wurde, obwohl ich mir bei ersterem nicht so ganz sicher bin. Bei diesem abartigen, teuflischen und unchristlichen ‚Spiel‘ konnte ich nur eines: Verlieren. In nómine Patris, et Fílii, et Spíritus Sancti >Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes<. Scheiß drauf!
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11. November 1998: Ich hatte mich einige Tage davor gedrückt, mich mit dem bisher dunkelsten Kapitel meines Lebens auseinanderzusetzen. Unerwartete Gefühle von Ohnmacht und Hilflosigkeit stiegen in mir auf. Heute bin ich mir dessen bewusst. Aber ich spüre, dass ich diese Gefühle schon als kleiner Bengel hatte. Nur war damals niemand da, mit dem ich über meine Ängste und Nöte reden konnte. Über den multiplen sexuellen Missbrauch, die an mir ausgeübte körperliche und seelische Folter, den Mangel an Zuneigung, Respekt, Austausch von Zärtlichkeiten, die Beschimpfungen, das tägliche Gefühl, nicht gewollt zu sein.
Fluch und Segen zugleich ist die Fähigkeit von Kleinkindern, dass sie keine Dutzende von gedanklichen Wiederholungen benötigen, um Erlebtes im Unterbewusstsein abzuspeichern. Manchmal reicht für diesen Speicherprozess in unserem noch kleinen Gehirn ein einziges Erlebnis. Schön, wenn es ein gutes ist. Und wenn nicht? Dann habe ich ein Problem, mindestens eins. Will ich es wirklich zulassen, die abscheulichen Momente meiner Kindheit durch ein vertieftes Nachdenken wieder aus meinem Unterbewusstsein hervorzuholen? Meine eindeutige Antwort darauf lautet: Ja! Ermutigt, weiter an meinen Lebenserinnerungen zu schreiben, hat mich gestern Abend in einer E-Mail ein guter Bekannter mit den Worten: „Du möchtest die Liebe durch einen anderen genießen? Du willst leben, was du unter Leben verstehst? Gut, das wirst du. Das ist ein Versprechen. Es wird nicht lange dauern und du wirst es wieder erleben“. Leider sagte er mir nicht, wann dieses große Ereignis eintreten würde.
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Das Problem für mich war nie, dass ich in den 50er Jahren als wehrloser kleiner Hosenscheißer in ein Kinderheim abgeschoben wurde. In diesen Brutstätten physischer, psychischer und sexueller Gewalt und religiöser Verblendung herrschten schlecht oder gar nicht ausgebildete, gefühlskalte Hexen aus dem Klosterbunker und ebenso unprofessionelle Pseudoerzieherinnen rund um die Uhr über wehrlose Kinder und Jugendliche. Wobei die Prügelstrafe offensichtlich die beliebteste Abrichtungsmethode war.
Aus meiner stark vernebelten Erinnerung heraus, erfolgte diese ‚Abrichtung‘ zum überwiegenden Teil jedoch durch das perfide Halleluja- und Krampfadergeschwader. Jene Monster in Ordenstracht, die höchstwahrscheinlich selbst noch nie in ihrem Leben gekalbt haben, und wenn, dann haben sie ihre Brut ertränkt oder im Freien ausgesetzt. Muttergefühle und Mutterinstinkte hatten sie garantiert nicht! Dazu gesellte sich der eine oder andere unfähige, gleichgültige und pädophile Kuttenzombie und eine völlig versagende staatliche Kontrollinstanz.

‚Maria im Tann‘ – Aachen Bildchen
All das kannte ich zuvor auch nicht. Was ich aber zur Genüge kannte, das waren Zucht und Ordnung! Himmel und Hölle waren bei uns kein Spiel, sondern bittere Realität. Ich kann mich nicht einmal daran erinnern, Schuhe oder ähnliches besessen zu haben. So sehr ich mich auch bemühe, die Synapsen meines Langzeitgedächtnisses senden bei diesen Fragen keine Signale aus. Absolute Funkstille. Dabei rühme ich mich, ein Gedächtnis wie ein alter Elefantenbulle zu haben. Anscheinend wurde das aus gutem Grund während der Heimjahre von einer mir unbekannten Macht deaktiviert. Ich kann mir gut vorstellen, dass die Oberdruidin Schwester Rabiata uns als Versuchskaninchen für ihren Zaubertrank missbraucht hat. Nur machte uns das Elixier nicht übermenschlich stark, wie Obelix, der als Kind in einen Zaubertrank fiel, sondern schläfrig, phlegmatisch und auf unerklärliche Weise bewusstlos.
Vielleicht wurden wir statt mit leckeren, bunten Schokolinsen mit weniger leckeren, aber ebenso bunten Transquilizer- und Hypnotikapillen mit Langzeitwirkung gefügig gemacht? Als Altnazi hatte sie da sicher reichlich Erfahrung. Härte, unbedingter blinder Gehorsam, ein militärischer Umgangston und drastische körperliche Züchtigung statt christlicher Nächstenliebe bestimmten den Alltag. Statt Empathie zu zeigen, wurde die natürliche Individualität in der wichtigen Entwicklungsphase meiner frühen Kindheit von den Betschwestern gewaltsam unterdrückt. Mit unabsehbaren Folgen. Irgendwie finde ich es jetzt spannend, dass ich mich nach Jahrzehnten des Verdrängens und Verleugnens mit der Aufarbeitung meines Kindheitstraumas beschäftige. Ich spüre, dass die alte Binsenweisheit „Glücklich ist, wer vergisst, was nicht zu ändern ist“ in meinem Fall nicht stimmt. Dinge, die ich in der Vergangenheit auf ein Abstellgleis geschoben habe, sind nur dem Zugriff meines Bewusstseins entzogen und in mein Unterbewusstsein verlagert worden. Verdrängt heißt aber nicht Vergessen.
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So vage kann ich mich noch erinnern, hier und da bei Pflegeeltern irgendwo in der Eifel gelebt zu haben. Anscheinend mochten sie mich, vielleicht hätten sie mich gerne adoptiert? Vielleicht. Aber es sollte über sechs Jahre dauern, bis Anna mich endlich zur Adoption freigab. Mich wieder in die Hände meiner Peiniger zu geben, muss diesen Pflegeeltern schwergefallen sein? Keine Ahnung. Keine Zeitzeugen. Ich habe eine verblasste Erinnerung an eine dieser Pflegefamilien, die einen Reifenhandel oder eine Autowerkstatt besaßen. Noch heute liebe ich den Geruch von neuen Autoreifen, ohne einen erotischen Gummifetischismus auszuleben.
Aus dieser Zeit stammt eine weitere Erinnerung: die an den weißen Michelin-Mann, die pummelige Kultfigur des französischen Autoreifenherstellers Michelin. Vielleicht liegen hier die Wurzeln meiner sündhaft teuren Vorliebe für PS-starke Limousinen? Merkwürdig: Selbst für die Zeit, die ich bei Pflegeeltern verbracht habe, weist mein Gedächtnis große Lücken auf. Noch vor wenigen Monaten habe ich mich gefragt, ob ich vor meiner Zeit in ‚Maria im Tann‘ nicht schon in anderen Kinderheimen untergebracht war. Die Antwort auf diese einfache Frage habe ich bereits durch die erwähnten Briefe meiner Kindesmutter erhalten.
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Eingebrannt in meinem Gedächtnis hat sich ein weiteres aus dieser Zeit stammendes Ereignis: Eine dieser Pflegeeltern schenkte mir zu Weihnachten, keine Ahnung wie alt ich da war, ein funkelnagelneues Kinderfahrrad. Mir! Dem Bastard, dem unwerten Leben, diesem Habe- und Taugenichts! Mit einem eigenen Fahrrad! Ich bin in diesem Moment bestimmt vor Glück und Freude halb wahnsinnig geworden. Dies sollte jedoch nicht allzu lange anhalten. Also die Freude, nicht der Wahnsinn. Etwas Eigenes zu besitzen war in einem Kinderheim der 50er Jahre ungefähr so unwahrscheinlich wie die Verleihung des Friedensnobelpreises an die Jahrhundertverbrecher namens Adolf Hitler, Jozef Stalin oder Mao Zedong. Ich erinnere mich noch ganz genau an die Farbe des kleinen Drahtesels: Bordeauxrot. Ob es Stützräder, eine Klingel oder Licht hatte oder nicht, daran kann ich mich nicht erinnern. Es wurde in der Folge unwichtig, völlig unwichtig. Mit diesem Fahrrad durften alle Kinder dieser Unterbringungsanstalt fahren, nur eines nicht: ICH!
Die Heimleitung, samt der unseligen Schwester Rabiata und der noch unheiligeren Schwester Brutalina, hatten es so angeordnet und das Zweirad zum Allgemeineigentum der ungeliebten Brut Gottes in dieser gottverdammten Institution erklärt. In der Selbstreflexion der damaligen Vorgänge läuft in mir immer wieder der gleiche Film ab: Ich sitze allein auf einem Mäuerchen im Zustand der Vernebelung meiner optischen Wahrnehmung, erkenne mein vorbei schlingerndes Fahrrad, sehe das feist grinsende Gesicht eines Artgenossen, der nicht ahnt, was ihn gleich erwartet. Bei diesem Anblick springe ich wutentbrannt auf, renne ihm hinterher und schubse den Plumpsack wortlos von ‚meinem‘ Fahrrad. Wie von Sinnen sprang ich anschließend minutenlang auf das am Boden liegende Rad, bis es für niemanden mehr zu gebrauchen war.
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Jedes Kind baut mal Mist, nörgelt und quengelt, macht Streiche, widersetzt sich, ist ungehorsam. In solchen Situationen muss ein in Freiheit, mit Verständnis und mit Liebe erzogenes Kleinkind nicht mit harten Strafen rechnen. Ganz anders in der Anstalt ‚Maria im Tann‘. Selbst für Kleinigkeiten wurde ich von den Zuhälterinnen im Namen Christi für diese kindliche Normalität verprügelt! Ja, richtig gelesen: verprügelt! Daher kommt der Begriff ‚Prügelnonnen‘. Klar: Eine strenge Zurechtweisung, eine kurze Strafpredigt, vielleicht noch ein Klaps auf den Hintern oder im schlimmsten Fall von mir aus noch eine Backpfeife hätten es auch getan. Diese Teufelsweiber hatten die uneingeschränkte Befehls- und Erziehungsgewalt über uns. Dabei steht doch im Alten Testament >Jeremia 22<: „Übt Recht und Gerechtigkeit und rettet den Beraubten aus der Gewalt des Bedrückers! Fremdlinge aber, Waisen und Witwen bedränget nicht, und vergewaltigt nicht und vergießt nicht unschuldiges Blut an diesem Orte“. Wie bitte?
Im zarten Alter von ungefähr vier, fünf Jahren empfand ich eine Ohrfeige schon als harmlos und war wahrscheinlich sogar bereit, mich dafür noch höflich und mit einem Diener zu bedanken. Auch an die fast tägliche Tracht Prügel und das Gebrüll hatte ich mich irgendwie gewöhnt. Sie gehörten zum Alltag und zu den Absurditäten und launischen Erziehungsmaßnahmen der ehemaligen KZ-Aufseherinnen. Allerdings achtete man wohl sehr darauf, sich mit den Rohrstockschlägen auf durch Kleidung gut zu verdeckende Körperteile zu konzentrieren. Bereiche des kindlichen Körpers die für Außenstehende und Kontrollinstanzen nicht sichtbar waren. Diese Übergriffe führten oftmals dazu, hinterher nicht mehr auf dem roten, gestriemten Hintern sitzen zu können und in Seitenlage einschlafen zu müssen. Frei nach dem Motto: roter Po, statt Haribo. Innere Verletzungen oder katholische Elfmeter waren zwar schmerzhaft, hinterließen aber dafür keine sichtbaren Spuren. Geplatzte Trommelfelle hingegen schon.
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Gerade jetzt denke ich daran, wie viele solcher Verliese es in diesen Gebäuden noch gegeben haben muss. Es kann nicht sein, dass meine Zelle ausgerechnet dann frei gewesen ist, wenn ich wegen einer begangenen Verfehlung meine Haft antreten musste. Bei dem Gedanken gruselt es mich schon wieder. Gab es vielleicht tote Kinder, Kinder die niemand vermisste, die nicht so Leid erprobt und widerstandsfähig waren wie ich? Sie einfach spurlos verschwinden zu lassen, dürfte für diese ehemaligen Hitlerfaschistinnen mit ihrer jahrelangen KZ-Erfahrung und noch existierenden Seilschaften kein wirkliches Problem gewesen sein. Mit ihrer Perversion würde ich es ihnen sogar zutrauen, dass wir nichtsahnend auf einem Kinderfriedhof spielten.
Diese frühkindlichen Erlebnisse begründen nicht nur meine Angst vor Dunkelheit und Alleinsein, sondern auch eine lebenslange Agoraphobie, besser bekannt als Platzangst. Meine Angst vor körperlicher Nähe und das Gefühl, eben nicht zum Abschaum unserer Gesellschaft zu gehören, konnte ich im Laufe der Jahre überwinden. Diese Aphephosmophobie >Umarmungs- und Berührungsangst< erklärt wohl auch meine Aggressivität gegenüber anderen Menschen, wenn sie mich trotz Vorwarnung bewusst oder unbewusst an meiner körperlichen Bewegungsfreiheit hindern wollen. Bis zu einem gewissen Grad kann ich damit umgehen. Aber wehe, wenn für andere völlig unerwartet dann bei mir die Sicherung durchbrennt.

Schlafsaal [Abb. ähnlich]
Eingebrannt in mein Gehirn hat sich folgende Situation: Durch einen schmalen Spalt unter der Tür sah ich, dass die dezente Flurbeleuchtung eingeschaltet wurde. Dann hörte ich zwar keine Schritte mehr, dafür sah ich aber den Schatten von einem Schuhpaar. Mir stockte der Atem, mein kleines Herz fing an zu rasen und ich meinte ersticken zu müssen, als ich das Geräusch des sich im Schloss drehenden Schlüssels vernahm. Bis zu diesem Augenblick war ich es gewohnt, in der Nacht in der Kammer meine Ruhe zu haben. Eine gespenstische Ruhe. Wie in Zeitlupe öffnete sich leise quietschend die Tür und ich erkannte die Silhouette eines Mannes, eines großen Mannes, eines dicken Mannes, eines verdammt dicken, keuchenden schwarzen Mannes. In meiner kindlichen Wahrnehmung muss das Schwarz sein Schatten gewesen sein. Oder der Leibhaftige, der mich holen würde, womit uns die keuschen Schwestern immer wieder drohten.
Ich hatte diese Bestie in Menschengestalt bis dahin noch nie wahrgenommen. Statt einer Hose trug er einen langen, fast bis auf den Boden reichenden schwarzen Rock und einen schwarzen Hut mit einer breiten Krempe, der zwar sein Gesicht, aber nicht seine silberglänzende Kette mit einem Kreuzanhänger auf seiner Brust verbarg. Seine massige Statur verhinderte, dass die spärliche Flurbeleuchtung bis in meinen winzigen Kerker eindringen konnte. Aus heutiger Sicht würde ich ihn optisch als zu Fleisch gewordenen Obelix bezeichnen. Nur mit dem Unterschied, dass ich über dieses widerliche Scheusal nicht lachen konnte. Selbst wenn ich gewollt und gekonnt hätte, ein Entkommen war schier unmöglich. Und ich ahnte nicht, was diese Kreatur mit mir vorhatte. Instinktiv wusste ich, dass mich in jedem Fall nichts Gutes erwartete.
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Mir drang während seiner Aktionen zusätzlich der Geruch von übel riechendem Schweiß in mein empfindliches Geruchsorgan. Meine Ohren vernahmen dabei ein immer heftiger werdendes Grunzen, dessen Bedeutung ich mir nicht erklären konnte. Kannte ich doch bis dato weder das Grunzen von Schweinen, geschweige denn Begriffe wie Masturbation oder Orgasmus. Irgendwie gelang es dieser Kreatur nebenbei noch, mich meiner spärlichen Bekleidung zu entledigen, um meinen dann nackten Oberkörper abzutasten. Danach streichelte er mich nicht mehr von vorne nach hinten, sondern von oben nach unten. Bis in den Schritt, wo er kurz verweilte und dann anfing, mein Pippi-Männchen und meine Eierchen zu erforschen. Der kurze harte Gegenstand, den er mich mit brutaler Gewalt zwang, mit meinen Händchen zu berühren, spuckte nach einer gefühlten Ewigkeit eine mir unbekannte klebrige Flüssigkeit aus. Natürlich wusste ich damals nicht, dass das harte Etwas sein Geschlechtsteil und die Flüssigkeit Sperma war. Aber eines ahnte ich: Es war kein Akt der Dreifaltigkeit.
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Es traf mich wie ein Blitz, obwohl ich das Gefühl, vom Blitz getroffen zu werden, nicht kenne, als ich ihn auf dem Exerzierplatz der Anstalt im Gespräch mit einer der teuflischen, den Rosenkranz betenden Nebelkrähen sah. Mir fiel sofort auf, dass er sich umgezogen hatte und neben seinem merkwürdigen schwarzen Rock, jetzt wieder den unverkennbaren Hut mit der Krempe trug. Den Kopf leicht nach vorne geneigt, um jeden Blickkontakt zu vermeiden, betrachtete ich seine mächtigen Pranken, die er auf seiner fetten Wampe parkte. Ekel überkam mich bei dem Gedanken, dass mich diese grapschenden und nach Weihrauch stinkenden Hände mehrfach unsittlich berührt hatten. Was mir als Vorschulkind natürlich noch nicht bewusst war. Es muss Sommer gewesen sein und obwohl ich nur mit einer kurzen Hose und einem weißen Unterhemdchen bekleidet war, fühlte ich mich nackt. Vielleicht war es ja das Gefühl des nackten Grauens? Da ich mir aus der Moralpredigt des ehrwürdigen Herrn Lustpfarrer eigentlich nur das Wort ‚Satan‘ merkte, nannte ich ihn ab sofort für mich so. Ohne zu wissen, wer oder was ein Satan überhaupt ist.
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Abgesehen von den einfachen Fragen, die ich bereits gestellt habe, finde ich selbst keine natürliche Erklärung für die Tatsache, dass ich mich trotz intensiven Nachdenkens nicht daran erinnern kann, auch nur mit einem einzigen meiner 30, 40 oder mehr anwesenden ‚Geschwister‘ gespielt, interagiert, geschweige denn eine engere Bindung aufgebaut zu haben. Dabei heißt es doch Kinderheim! Wo und wer waren diese Kinder? Warum waren sie an dem Ort, an dem auch ich war? Warum erinnere ich mich nicht an körperliche Auseinandersetzungen wie Schubsen, an den Haaren ziehen, treten, beißen oder kratzen? Wo war der ohrenbetäubende Lärm, den so viele Kinder erzeugen mussten, aber in meiner Erinnerung nicht erzeugten? Wo waren die Spiele, die Kinder gerne spielen? Wieso sprangen, hüpften, rannten und kletterten meine Leidensgefährten in meiner bildlichen Vorstellung nicht?
Warum spielte keines von ihnen mit einem Ball oder einem Seil? Wo war das Quietschen und Schreien, das fröhliche Singen, Lachen und Weinen dieser Kinder? War ich vielleicht gar nicht im ‚Kindererholungsheim‘, sondern auf dem Friedhof der Kuscheltiere? Schlimmer noch: Ich hörte in diesen Jahren kein Vogelgezwitscher, kein Rauschen der Blätter an den Bäumen, kein Hundegebell, keine Geräusche von vorbeifahrenden Autos, Lastwagen oder Motorrädern. Waren das Nebenwirkungen von illegal verabreichten Medikamenten? Ich werde es nie erfahren. Ich rechne auch nicht damit, dass es jemals zu strafrechtlichen Ermittlungen, geschweige denn zu Schmerzensgeldzahlungen, in Bezug auf Medikamentenmissbrauch und die anderen begangenen Straftaten gegen die männlichen und weiblichen Klerikalfaschisten der katholischen Kirche kommen wird.

‚Kind Jesu Kapelle‘
Aachen-Bildchen
Gegessen wurde immer mit Blick auf die Wanduhr, denn wir hatten gefühlte zehn Minuten Zeit, um das Essen herunterzuwürgen. Und wehe dem, der es wagte, Essensreste mitzunehmen. Angeschimmeltes und trockenes Brot galt offenbar als Delikatesse. Als weitere Foltermethode wurde uns Bälger in unregelmäßigen Abständen unter Gewaltanwendung ekelhaft schmeckender Lebertran verabreicht. Vor jeder der drei Mahlzeiten sah sich eine der Vorbeterinnen genötigt, mit monotoner Stimme ein Tischgebet herunterzuleiern und erwartete dann aus Dutzenden von Kinderkehlen das obligatorische, himmelhochjauchzende ‚Amen‘. Zum Glück wurde erst danach die Zeit gestoppt. Gespräche waren wohl streng verboten, denn nach meiner Erinnerung strahlte der Speisesaal während der Raubtierfütterung außer dem Klappern des Blechgeschirrs eine unheimliche, gespenstische Stille aus. Mit der war es dann aber nach dem Erklingen eines Glöckchens abrupt vorbei.
Zum ‚üppigen‘ Frühstück gereichte man uns Brot mit Marmelade, oder alternativ Konfitüre mit trockenem Brot. Nur zu besonderen Anlässen, wobei mir entfallen ist, welche das gewesen sein könnten, wurde großzügig mal eine abgezählte Scheibe Wurst, Rübenkraut, eine warme Milchsuppe, mit obenauf schwimmenden Gurkenscheibchen, kredenzt. Höhepunkt der Woche war dann ein Schälchen Reis- oder Griespampe mit einem Klecks Zimtpulver. Käse und Eier in jedweder Form, sowie Butter lernte ich erst nach meiner Entlassung im Jahr 1962 kennen. Um die fade schmeckende ‚Überlebens‘-Nahrung leichter durch die trockenen Kinderkehlen würgen zu lassen, standen in Eimer zubereitete Getränke wie kalte oder warme, laktosetolerante Milch, lauwarmes, mit Waldbeeren angereichertes, naturbelassenes Wasser oder ungesüßter Hagebuttentee auf den Tischreihen. Die besondere Betonung liegt hier bei dem Wort ‚oder‘. Grundsätzlich erhielten wir Kinder, unabhängig vom Alter und individuellem Geschmack, einheitliche Essensrationen, die keinen Raum für persönliche Empfindlichkeiten zuließ.
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Zum Mittagessen erhielten wir in dem ‚Feinschmecker-Restaurant‘ eine sich gleichfalls ständig wiederholende Nahrung, wie zum Beispiel fad schmeckende Suppen, in denen immer mehr Augen hinein- als herausschauten. Für den Fall, dass Fisch oder Fleisch auf dem äußerst übersichtlichen Speiseplan stand, müssen diese Lebensmittel an meinem Teller vorbeigeflogen sein. Um einer Monotonie vorzubeugen, gab es Eintöpfe, für die wir uns in Reih und Glied anzustellen hatten. Zu den Gaumenkitzlern gehörten abwechselnd Nudeln in Tomatensauce, Gemüse, Reis oder Kartoffeln. Nur selten standen Pell- oder Bratkartoffeln auf dem Speiseplan. An einer gesunden und ausgewogenen Ernährung lag offensichtlich nicht im Interesse der Kochmonster. Klingt ja auch logisch: Wer überwiegend eingesperrt ist, verbraucht auch weniger Kalorien. Das Paradoxe daran ist, dass ich das Gefühl Hunger gleichfalls nicht kannte. Lag es daran, dass man dem Essen Appetithemmer hinzufügte?
Das eingesparte Geld für das nicht servierte Fleisch, Fisch, Käse, Eier, Milch und Butter dürfte mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht auf einem der unzähligen Schwarzgeld-Konten des Istituto per le Opere di Religione, Institut für religiöse Werke >Vatikanbank< gelandet sein. Beim Abendessen gab es dann das Gleiche wie beim Frühstück, nur statt der Milch erhielten wir dann köstliches Eifel-Wasser und lauwarmen Tee. Das Ganze wurde uns auf verbeulten Blechtellern und -bechern nicht gerade freundlich serviert, dafür aber in Portionsgrößen, die den unbestreitbaren Vorteil hatten, dass ich mir zum Thema Übergewicht in jenen Jahren keine Sorgen zu machen brauchte. Äpfel, Birnen, Pflaumen, Stachelbeeren und Kirschen waren eine jeweilige Saisonrarität und wurden nur bei guter Führung und abgezählt ausgehändigt. Fleisch, Fisch, Geflügel, Aprikosen, Erdbeeren, Ananas, Orangen, Teilchen, Eis, Kuchen, Bonbons und die anderen Leckereien waren aus der Sicht der Anstaltsleitung für uns unwertes Leben Teufelswerk und verschwand gleichfalls und höchstwahrscheinlich in dunkle Kanäle.
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Wer sich dem ständigen Drill der unbarmherzigen Betreuerinnen zuvor nicht gebeugt hatte, ging kulinarisch oftmals völlig leer aus. Doch damit nicht genug: Schlafentzug war, neben den anderen drangsalierenden Erziehungsmethoden, eine der weiteren unangenehmen sadistischen Praktiken. Hatte ich zur Nachtzeit das große Glück, nicht in Beugehaft in meinem kleinen Verlies verbringen zu dürfen, war mir der Aufenthalt in meinem nach Urin und Schweiß stinkenden Metallbettchen dennoch untersagt. Dafür durfte ich die Nacht über dann halbnackt, stehend und ohne Bettzeug in dem dunklen Flur vor dem Schlafsaal verbringen. Nach geraumen Zeit versagten meine kleinen Beinchen ihren Dienst und der stets nach Bohnerwachs stinkende Linoleumboden wurde zu meiner Schlafunterlage. Bis mich irgendwann und irgendwer vom christlichen Bodenpersonal aus dem Reich der Träume riss und mich zwang, mich wieder hinzustellen. Wenn es dem Kindeswohl diente?
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Ich bin davon überzeugt, dass ich in den Jahren im Heim zu einem sehr introvertierten Jungen geworden bin. Wenn ich heute an die Zeit vor meiner Heimentlassung zurückdenke, sehe ich mich als klein, schüchtern, gehemmt, still, misstrauisch, abweisend, gedemütigt, verachtet, eingeschüchtert, hässlich wie eine Filzlaus unter einem Magnetresonanzmikroskop und von meiner Umgebung isoliert. Kurzum: ungeliebt und unerwünscht in meinem kleinen Kinderkosmos, in dieser Welt. Ein Häufchen Elend, das mehr als genug Tadel, aber nie Lob erfahren hat. Ein masochistisch gequältes Kind, das sich für Dinge entschuldigte, für die es sich nicht zu entschuldigen brauchte. Nach dieser frühen, respektlosen und schutzlosen Entwicklungsphase brauchte ich Jahre, um meine eigenen Überzeugungen nicht nur zu entwickeln, sondern auch durchzusetzen.
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Wahrscheinlich kriegte ich mich in diesem Augenblick vor lauter Freude gar nicht mehr ein und quietschte vor Vergnügen wie ein kleines Ferkel. Das muss der Grund dafür gewesen sein, weshalb ich mir dafür von einer der Aufseherinnen eine kräftige Backpfeife einhandelte. Das fand ich dann natürlich als Reaktion auf meine kindliche, unbändige Freude und Neugier nicht sonderlich erfreulich. Was aus nachvollziehbaren Gründen dazu führte, dass sich der kindliche Glanz meiner Augen in Krokodilstränen verwandelte. Als ich diese mit dem Ärmel meines minderwertigen, dünnen Jäckchens zu trocknen versuchte, erhielt ich prompt die nächste Backpfeife von der scheinheiligen Schwester Rabiata. Gekauft, geschweige denn verschenkt, wurde natürlich nichts.
Wir Zöglinge kannten ja kein Geld und unserem Gottvater war bestimmt daran gelegen, dass sich daran in den nächsten Jahren nichts ändern sollte. Davon abgesehen, kann ich mich beim besten Willen nicht daran erinnern, dass es während meiner gesamten Haftzeit in dieser unchristlichen Züchtigungsanstalt zum Fest der Liebe weihnachtliches Gebäck, Christstollen, einen mit Engelchen geschmückten Adventskranz, einen Weihnachtsbaum, Weihnachtslieder, geschweige denn eine milde Gabe gegeben hätte. Zum Ausgleich dafür gab es dann für die Kinderapokalypse kein festliches Essen. Es sollte allerdings noch schlimmer kommen: Halleluja, Gloria Patri et Filio et Spiritui sancto, stille Nacht, heilige Nacht, Bimbam, Heiliger Stuhlgang und betrübliche Weihnachten!

Speisesaal >Abb. ähnlich<
Wow, vielleicht ist das Leben doch nicht so schlimm, dachte ich wohl in diesem Moment. Obwohl ich beim Anblick der Tasse Kakao den vorherigen Fehler mit Freude und Glanz in den Augen wiederholte, blieb die erwartete Ohrfeige diesmal aus. Aber nicht lange. Nachdem ich mich und die Tischdecke mit dem edlen Gebräu bekleckert hatte, gab es zur Stärkung des Gedächtnisses die nächste Backpfeife. Diesmal gesponsert von der kräftigen Schwester Zuchtizia. Doch ehe ich mich versah, durfte ich bei Minusgraden das Café und die illustre Gesellschaft darin bis zur Rückkehr ins Kinderparadies durch ein Schaufenster von außen betrachten. Und so lernte ich, dass man den Tag nicht vor dem Abend loben soll. Trotzdem muss ich heute noch schmunzeln, wenn mich eine Kellnerin fragt, ob sie den Kakao mit oder ohne Sahne servieren darf. Und noch etwas habe ich aus diesem unwürdigen Vorfall gelernt: eine tiefe Abneigung gegen Weihnachten zu entwickeln.
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Nur in den seltensten Fällen wurden in der Geschichte der Menschheit Religionskriege aus religiösen Gründen geführt. Die Hauptursache war fast immer das Streben nach finanziellem Reichtum und Macht von autoritären, gewissenlosen und über Leichen gehenden Betrügern und/oder Institutionen. Der religiöse Glaube basiert ausschließlich auf dem Vertrauen in diese Machthaber und auf historisch bis heute nicht belegbaren Tatsachen. Millionen Unwissende sind darauf hereingefallen und haben ihren Glauben mit dem Leben bezahlt. Als Beispiele nenne ich die Expansionskriege des Islam, die acht Hugenottenkriege von 1562 bis 1598, den Dreißigjährigen Krieg von 1618 bis 1648, die Bürgerkriege im Libanon und in Irland. Und wer ernsthaft glaubt, dass beim Jüngsten Gericht der Menschensohn in seiner Herrlichkeit und alle Engel auf Erden erscheinen werden, der glaubt auch, dass man mit Faltencreme Wellblech glätten kann.
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Jetzt taucht eine weitere Erinnerung aus den Tiefen meines Unterbewusstseins auf: Es muss Herbst, Ende der 50er Jahre gewesen sein. Es ist stockfinster im Schlafsaal, ein gewaltiger Orkan zieht auf, es blitzt, es donnert und ich mache mir vor Angst in die Hose >falls ich eine anhatte< und damit verbunden gleich mit ins Bett. Schatten, Dämonen, mit hässlichen Fratzen huschen an den gardinenlosen, verschlossenen Fenstern vorbei. Ihre Fangarme greifen nach mir. Die Wände scheinen zu vibrieren, ich fange an zu schreien, die Naturgewalten versetzen nicht nur mich in Panik. Ich ziehe mir die muffige, nach Schweiß und Urin stinkende Decke über den Kopf, der ganze Körper bebt. Ich höre jetzt die anderen verängstigten, namen- und gesichtslosen Kinder in diesem Raum, ihr Gewinsel, ihr Heulen und Schluchzen, ihre Schreie, lauter, immer lauter. Irgendwann, nach einer gefühlten Ewigkeit, höre ich auf zu schreien, ich wimmere nur noch, ich zittere am ganzen Körper.
Das Schlimmste in dieser Nacht: Es ging nicht einmal die Tür auf, es wurde kein Licht angemacht. Das Heimregime hat sich einfach nicht dafür interessiert. Es kam niemand, der mir meine Angst nehmen wollte oder konnte. Mein Glück im Unglück: Es kam auch niemand, um mich erneut religions-pädagogisch und im Namen des Allmächtigen zu züchtigen. Nach und nach, gefühlt nach einer halben Ewigkeit, verstummten die Geräusche vor und hinter den Fensterscheiben. Noch heute, Jahrzehnte später, habe ich zwar keine Angst mehr vor ähnlichen Wetterkapriolen, allerdings muss ich manchmal an eben diese eine Nacht des Grauens zurückdenken.

‚Schwester Rabiata‘ [mein Albtraum]
Als kleiner Knirps habe ich dieses Spiel des Lebens nie wirklich verstanden. Wie sollte ich auch? Ich habe dieses perverse Spiel von der Herrschaft über meine Kinderseele nie gewollt. Niemand hat mir die Spielregeln für diese ersten sieben Lebensjahre erklärt. Zu diesem Spiel des Lebens bin ich gezwungen worden. Und für mich sind erzwungene Spiele schlechte Spiele. Spiele die ich als Kind und Jugendlicher nicht verstehen wollte und als Erwachsener nicht verstehen konnte. Erst durch die Aufarbeitung des in den Jahren von 1957 bis 1962 Erlebten, war ich bereit, es verstehen zu wollen. Die Erforschung und Aufarbeitung meiner Jahre im Heim der Gewaltherrschaft war in meiner späteren Familie ein Tabu. Sie stellten nie Fragen zu diesem Thema und ich erzählte ihnen nichts davon. Von meiner Entscheidung, meine Lebenserinnerungen aufzuschreiben, wissen meine Eltern nichts. Aber das kann sich ja noch ändern. Wenn ich den Mut dazu finde.
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Und jetzt weiß ich noch eines: Ich werde dieses Kapitel so allmählich beenden. Es hat mich viel Kraft, Tränen, Zeit, Bier und Wodka als Nervenstabilisator gekostet. Vielleicht kommt die Zeit, in der viele der Hunderttausenden von rechtlosen Opfern über ihre brutalen Heimerfahrungen in den 50er, 60er und 70er Jahren berichten werden. Von heißen und eiskalten Körperwaschungen, Fesselungen, Knebelungen, Beschimpfungen, Schlägen, sexuellem, seelischem, körperlichem und finanziellem Missbrauch, Essenszwang und -entzug, Züchtigungen, massiven Hygienemängeln, Geschwistertrennungen, unterlassener Hilfeleistung, Isolationshaft, Peitschenhieben und Schlägen. Die Verantwortlichen in meinem Fall werden wegen Verjährung oder ihres Todes nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden. Mögen sie am Ort der ewigen Verdammnis schmoren! Aber vielleicht denken die verantwortlichen Arbeitgeber und Institutionen, und hier in erster Linie die katholische Faktenverdrehungsanstalt in Rom, Weltmeister im Vertuschen, Täuschen und Unterdrücken, eines Tages an Wiedergutmachung bei den Opfern! Viele von ihnen würden sich vielleicht schon über eine aufrichtige Entschuldigung freuen.
Bei meinen nachfolgenden Gedankensplitter I werde ich das Vergangene aus diesem Kapitel noch einmal der Reihe nach durchdenken und mit meinem heutigen Wissensstand verknüpfen.
Es ist die Kunst – zu leben!
Bevor ich schildere, was mir beim Schreiben dieses ersten Kapitels durch den Kopf schoss, teile ich >ohne vorgreifen zu wollen< mit, dass mir aufgrund einiger Recherchen und persönlicher Gespräche mit einigen der damals Beteiligten zahlreiche Informationen aus den Jahren meiner Knechtschaft zugänglich gemacht wurden. Diese Informanten aus meinem Verwandten- und Bekanntenkreis sind mit der Zeit wieder aus meinem Leben verschwunden. Für diese erneuten Trennungen habe ich keine Erklärung. Das Mystische daran ist, dass sie exakt dann in mein Leben traten, wenn ihre Zeit dafür gekommen war. So wurden beispielsweise viele, aber bei weitem nicht alle Fragen nach meiner genetischen Mutter von einigen ihrer zahlreichen Geschwister beantwortet. Neben meinen wenigen eigenen Erinnerungen an diese Zeit trat plötzlich und unerwartet ein Werner K. aus dem belgischen Lüttich in mein Leben. Für mich ein weiterer Beleg dafür, dass es keine Zufälle gibt, sondern eine nicht erklärbare Fügung des Schicksals.
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Im Jahr 2011 habe ich mich schriftlich an die ehemalige Kinderaufbewahrungsanstalt ‚Maria im Tann‘ gewandt und um Zusendung von Unterlagen >falls noch vorhanden< über meinen Zwangsaufenthalt in dieser Einrichtung gebeten. Mit Datum vom 12.12.2011 wurden mir diese dann auch tatsächlich und unerwartet zugesandt. Der beglaubigten Abschrift meiner Geburtsurkunde Nr. 133, ausgestellt am 07. Februar 1955 vom Standesamt Düsseldorf Nord, konnte ich entnehmen, dass meine Mutter zum Zeitpunkt meiner Geburt mit vollem Namen Gertrud Anna Schröder hieß. Außerdem war vermerkt, dass sie berufslos und katholisch war. Ihre Meldeadresse und der Name des Kindsvaters wurden nicht genannt. Der Eintrag in das Geburtenregister erfolgte aufgrund einer mündlichen Anzeige einer Fürsorgerin namens Marie Hilmer, die sich wohl zur Unterschrift berufen fühlte.
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Ich unternehme noch einmal eine kleine Reise in die Vergangenheit. Dabei geht es mir in erster Linie um die Ursachen, die zu den damaligen Missständen in den Lehranstalten der Unmenschlichkeit geführt haben. Zu meiner Zeit galten unehelich gezeugte Kinder gesellschaftlich noch als biologisch minderwertig und wegen ihrer zu erwartenden Armut, Verwahrlosung und eines angeblich angeborenen Verbrechergens als moralische Bedrohung des konservativen Bürgertums. Erst viel später erfuhr ich, dass uneheliche Kinder minderjähriger Mütter, die offiziell als sittlich und moralisch nicht gefestigt galten, noch bis 1969 unmittelbar nach der Geburt von den Jugendämtern unter Amtsvormundschaft gestellt wurden. Dies trug wohl wesentlich dazu bei, dass meine Abstammungsmutter und ich physisch, emotional und räumlich getrennt wurden.
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Meine nächste kleine Zeitreise führt mich gedanklich in die Eifel der 50er Jahre. Trotz der Nähe zur Kaiser-, Königskrönungs- und Printenstadt Aachen, hinkte diese Region der wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung im Nachkriegs-Deutschland um Jahrzehnte hinterher. In dem Eifeldorf Monschau war die Zeit um 1900 herum einfach stehen geblieben. In meinem Geburtsjahr feierten die knapp tausend Monschauer den 50. Jahrestag des aufrechten Gangs. Mütter unehelicher Kinder galten in den Gemeinden noch als Gespielinnen des Teufels, was diese armen Kreaturen demzufolge täglich zu spüren bekamen. So ist mir exemplarisch überliefert worden, dass meine Mutter sowohl vom Dorfarzt, als auch vom Dorfpfarrer regelrecht dazu gezwungen wurde, mich abtreiben zu lassen. Hier rechne ich es hier hoch an, sich diesen Repressalien nicht unterworfen zu haben und mir dadurch mein Leben schenkte. Ob zum Vor- oder Nachteil der Gesellschaft lasse ich mal dahingestellt sein.
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Schlimm genug, dass sich die eigenen Eltern nicht um das Wohl ihrer Kinder gekümmert haben, oder nicht kümmern konnten; aber über die damaligen Missstände müssen Staats- und Kirchendiener, Ärzte, Arbeitgeber und viele andere mehr Bescheid gewusst haben. Angeblich haben bis heute selbst die noch lebenden direkten Anwohner von Konzentrationslagern ja auch nichts von den Gräueltaten der Nazis mitbekommen und hüllen sich in Schweigen. Historisch belegt ist, dass viele der über 3.500 KZ-Aufseherinnen nach Kriegsende Zuflucht im Schoße der katholischen Ordensgemeinschaft suchten und fanden. So gelang es ihnen in einigen Fällen, ihrer gerechten Strafe zu entkommen.

Anni, meine leibliche Mutter
Ich betone ausdrücklich, dass ich keine Abneigung gegen religiös Gläubige hege. Solange ihr Glaube ihrem und dem Weltfrieden dient und keine Menschenseele gezwungen wird, es ihnen gleichzutun. Tatsächlich ist es aber so, dass in einigen Religionen versucht wird, andere durch Gewalttaten einzuschüchtern und zu beherrschen, etwa durch die systematische Verbreitung von Angst und Schrecken durch Bombenanschläge oder Morde. Als Nichtgläubiger bin ich davon überzeugt, dass es nicht Gott war, der den Menschen erschaffen hat, sondern dass der Mensch einen Gott erschaffen hat, an den er glauben kann. In allen Kulturkreisen dieser Erde und seit Urzeiten hilft der Glaube, das Leben der Menschen erträglicher zu machen. Selbst der Atheist lernt bekanntlich zu beten, wenn er in einem abstürzenden Flugzeug sitzt. Nein, mein Zorn, meine Wut und meine Hilflosigkeit richten sich ausschließlich gegen das weltweit agierende römische Inkompetenzzentrum, dessen Opfer ich geworden bin.
Statt die Bibel als Maß aller Dinge zu betrachten und irgendwelche Psalmen auswendig zu lernen, könnte sich jeder Christ die Zeit nehmen, sich einmal gründlich mit der Geschichte und den Strukturen dieses Glaubensvereins zu beschäftigen. So wie ich es in meinem nicht christlichen Leben getan habe. Du wirst erstaunt sein, wenn du dich einmal ernsthaft mit der moralisch fragwürdigen Vergangenheit einiger längst verstorbener satanischer Exemplare namens Stellvertreter Jesu Christi beschäftigst.
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Wer meinen bisherigen und künftigen Ausführungen über die Geschehnisse in den totalitär geführten Kinderheimen der 50er und 60er Jahre keinen Glauben schenken will, hat die Möglichkeit, sich in Bibliotheken, Buchhandlungen, bei Zeitzeugen und über seriöse und historisch belegte Quellen im Internet umfassend über dieses Thema zu informieren. Natürlich kann ich nur meine Erinnerungen wiedergeben, wenn ich über die unterdrückenden und herrschsüchtigen Kuttenhuren aus ‚Maria Tyrannei‘ schreibe. Ich schließe nicht aus, dass es Kinderheime gegeben haben mag, die wirklich nur das Kindeswohl im Auge hatten und ihre Aufgaben mit Leib und Seele vorbildlich erfüllten und sich ihrer enormen Verantwortung bewusst waren. Allerdings ist mir bis heute ein solcher Fall nicht zu Ohren gekommen.
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Noch heute, außer zu Karneval, überfällt mich ein Brechreiz, wenn ich in ‚Pinguin-Optik‘ gekleidete ‚Dienerinnen Gottes‘ erblicke. Dies ist ganz sicherlich ein weiterer Grund für mein gestörtes Verhältnis zu diesem zwielichtigen Clan, die Cosa Nostra des Christentums, mit seinem allerhöchsten Chefstrategen auf Erden und der über Jahrhunderten alten Firmenzentrale namens Vatikan. Dessen Krampfadergeschwader im Operationsgebiet des Refugium der sadistischen Schwestern hat mir nicht nur meine frühe Kindheit gestohlen, sondern dürfte auch für mein in späteren Jahren gezeigtes dissoziales Verhalten in der Gesellschaft verantwortlich gewesen sein. Aber wie immer wähnten sich die römischen Mafiosi und deren Ableger in christlicher Un-Schuld!
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Im Zusammenhang mit Robert und der Prügelanstalt in Aachen ereignete sich ein Jahr nach Offenlegung meiner bis dahin bestens gehüteten Geheimnisse ein rätselhafter Vorfall, für den es keine natürliche Erklärung gibt: Fast 30 Jahre nach meiner Entlassung aus diesen Gemäuern des Grauens, überfiel mich als Beifahrer in Roberts Auto, wir befanden uns auf der Rückfahrt von Maastricht über Aachen mit Ziel Köln, der Wunsch, diesem ehemaligen Kindergefängnis einen Besuch abzustatten. Ob der Gedanke daraus entstand, dass wir zuvor in Maastricht ausgiebig gekifft hatten, oder ich einer inneren Bestimmung folgte: Ich kann es nicht sagen. Ich schließe jedoch Gottes Fügung aus und schiebe es mal in meine Gedankenschublade, in denen ich meine paranormalen Erlebnisse aufbewahre.
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Lange Zeit war ich sogar davon überzeugt, ein emotionales Wrack zu sein. Ein gefühlloser Stein. Heute weiß ich, dass ich schon als Kind unbewusst eine Schutzmauer gegen meine Gefühle errichtet hatte, die ich bis zu dem oben erwähnten einschneidenden Ereignis von niemandem durchbrechen ließ. Als es Robert schließlich gelang, mich von meinem Kindheitstrauma zu befreien und die Tränen in Strömen flossen, war es für mich, als sei ein virtueller Staudamm in mir gebrochen wäre. Ich habe in diesen Momenten einen seelischen und psychischen Schmerz empfunden, den keine Macht der Welt wiedergutmachen kann. Heute bedauere ich zutiefst, dass ich durch diese emotionalen Blockaden einigen meiner Weggefährten unermessliches Leid zugefügt habe, wofür ich mich aufrichtig und in aller Form entschuldige und um Verzeihung bitte.
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Natürlich bin ich nicht so naiv zu glauben, dass es sexuelle Übergriffe nur in den 50er und 60er Jahren gegeben hat, sondern dass es sie seit Bestehen der Menschheit gegeben hat und auch in Zukunft geben wird. Deshalb konzentriere ich mich in meinen folgenden Ausführungen nur auf die Zeit der 50er und 60er Jahre, die Wirtschaftswunderjahre, in denen wir Kinder im wahrsten Sinne des Wortes unser blaues Wunder erleben durften. Unsere Kindheit wurde uns gestohlen von Menschen, die Gnade, Güte, Glaube, Liebe, Hoffnung und Barmherzigkeit predigten. Aber genau das Gegenteil wurde an den wehrlosen Kindern praktiziert. Pervers finde ich die Tatsache, dass dieses Prügelheim in Aachen-Bildchen mit dem so wohlklingenden Namen ‚Maria im Tann‘ auf der Internetseite ‚Euregio aktuell‘ als ehemaliges Kindererholungsheim bezeichnet wird. Offensichtlich durfte sich der unterbelichtete Verfasser des Artikels ‚100 Jahre Maria im Tann‘ dort als Kind nicht bei den Prügelnonnen erholen!
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Persönlich erinnere ich mich wie durch eine Nebelwand an sexuelle Übergriffe, als ich gerade mal fünf oder sechs Jahre alt war. Und ich war wohl bei weitem nicht das einzige Opfer dieser Übergriffe. Aber ich erinnere mich dank meiner eigenen Aufarbeitung an die seelischen und körperlichen Grausamkeiten, die mir von Ordensschwestern, bei deren Anblick ich mich heute noch innerlich übergeben muss und übergriffigen Klerikern zugefügt wurden und die ich in meiner Autobiografie unter großen seelischen Schmerzen und Tränen für mich verarbeiten konnte. Gut erinnere ich mich, dass wir Kinder immer wieder von den Schwestern ins Heim getrieben wurden, weil in und vor dem angrenzenden dunklen Tannenwäldchen, das mir immer Angst machte, geisteskranke, wild masturbierende Kinderschänder ihr Unwesen trieben. Inzwischen habe ich gelernt, dass nur wer Angst empfindet, auch Mut entwickeln kann. Eine Fähigkeit, die mich in der gruseligen Erlebniswelt, in der jeder Widerstand im Keim erstickt wurde, Kopf und Kragen hätte kosten können. Herr, dein Wille geschehe?
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Viel schlimmer aber ist die Vertuschung des sexuellen Missbrauchs in den katholischen Kirchen und Orden, die erst in den letzten Jahren medienwirksam ans Licht gekommen ist. Wobei ich fest davon überzeugt bin, dass dies nur die Spitze eines Eisberges ist. Die kriminellen Machenschaften, nicht nur der katholischen Geistlichen, auf die ich mich aber in den folgenden Ausführungen ganz bewusst konzentrieren werde, offenbaren nun einer schockierten internationalen Glaubensgemeinschaft ein hinterhältiges, verlogenes Abwehr- und Unterdrückungsregime der höchsten Würdenträger dieser Kinderficker-Sekte. Fast täglich werden derzeit pädophile Übergriffe von skrupellosen Priestern aufgedeckt, die teilweise die Frechheit besitzen, ihre begangenen Schandtaten in der Presse nicht zu leugnen. Oder hämisch darauf hinweisen, dass ihre abscheulichen Taten längst verjährt sind. Dass sich die Taten ein Leben lang in die Psyche der Opfer eingebrannt haben, interessiert diese Seelsorger einen absoluten Scheißdreck!
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Natürlich weiß ich, dass es Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche seit ihrem Bestehen gegeben hat und bis zu ihrem hoffentlich baldigen Ende geben wird. Aber es ist doch völlig egal, ob ein zölibatärer Priester in der Vergangenheit sexuelle Kontakte mit seiner Haushälterin hatte, Bordelle besuchte, Nonnen vergewaltigte oder hemmungslosen Sex mit dem einen oder anderen dummen Schaf seiner Gemeinde hatte. Schließlich sind auch sie, wohlwollend betrachtet, biologisch gesehen nur Menschen wie du und ich, denen es auch mal im Schritt juckt. Genauso klar ist mir aber auch, dass diese Zölibatsverletzungen nicht nur in den unteren Rängen dieser religiösen Ausblender, Wegschauer, Tatsachenverdreher und Abwehrer passiert sind. Ich frage mich: Warum scheint erst jetzt endlich die Zeit reif zu sein, die schmutzige Lüge dieser geld- und raffgierigen Institution medienwirksam aus den satanischen Tiefen des Vatikans in das strahlende Licht der Wahrheit der Weltöffentlichkeit zu zerren?
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Wer kennt nicht die Fälle in katholischen Einrichtungen, in denen die Polizei Kinderpornografie beschlagnahmt hat? Wer kennt nicht den Fall des deutschen Priesters, der sich an Jungen verging und sie nach Brasilien verkaufte? Wer kennt nicht die Berichte über Abtreibungen von Kindern, die von Priestern gezeugt wurden? Wer kennt nicht die Fälle, in denen Bischöfe rechtskräftig verurteilte Priester nach Verbüßung ihrer Haftstrafe wieder in den Pfarrdienst einsetzten? Weitere Beispiele sexueller Übergriffe auf Schutzbefohlene und verursachte Skandale durch alle möglichen Mitarbeiter der katholischen Kirche erspare ich mir, denn auch dieses Thema würde sicherlich ein ganzes Buch füllen.
Die Zeit scheint reif, weil alle es satthaben, dass sich die Kirche für ihre Priester entschuldigt, wenn diese vor weltlichen Gerichten überführt, angeklagt und verurteilt werden. Sie kann aber nicht garantieren, dass es nicht auch weiterhin zu sexuellen Übergriffen aus den eigenen Reihen kommt. Um dem in Zukunft zu entgehen, empfehle ich Dir, lieber Jupp Ratzi: „Löse Deinen Verein einfach auf, verbringe mit Deinem Vereinsvorstand noch ein schickes Wochenende im größten Bordell Europas und verteile das dann noch vorhandene Restvermögen Deiner verlogenen und kinderfickenden Institution.“
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