= L E S E P R O B E N =
„Überleben ist nicht das Ende der Geschichte – sondern ihr Anfang.“
Weil ich in den ersten Wochen vermutlich noch unter den Nebenwirkungen der mich betäubenden Medikamente litt, die mir die Zombie-Schwestern verabreicht hatten, entspringen einige der folgenden Erinnerungen meinem damals noch in Watte gepackten Gedächtnis. Andere beruhen auf den Erzählungen meiner neuen Familie, und wieder andere habe ich ganz klar und deutlich vor Augen.

Mike – Kommunion 1963
Durch die ‚Gefangenenbefreiung‘ meiner neuen, sonderpädagogisch ungeschulten Pflegeeltern wurde ich am 03.04.1962 abrupt den bösen Mächten der Verdammnis von ‚Maria, die Unbarmherzige‘ entrissen. Wie sollte ich künftig Gut und Böse unterscheiden können? Hatte ich doch bis zu diesem Tag nur das Schlechte, das Böse erlebt. Ich war zum Zeitpunkt meiner Abholung exakt sieben Jahre, zwei Monate und einen Tag alt. In Gedanken schlüpfe ich nun in die Rolle des kleinen Knirpses, der an jenem Tag nicht ahnen konnte, dass sein Leben eine schicksalhafte Wendung zum Guten nehmen würde. Ein blasses Kerlchen, mit dem Ehrenmakel der römisch-katholischen Kirche versehen, unzählige Male physisch, psychisch und sexuell malträtiert.
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Ein unschuldiger Knabe, dem Bildung, Toleranz, Verständnis, Respekt, Vertrauen, Courage, Zusammenhalt und vieles mehr vorenthalten wurden. Ein Siebenjähriger, der bis dahin nur Intoleranz, Unmenschlichkeit, Verachtung, Ekel und Brutalität erlebt hatte. Ein Erstklässler ohne jegliche Erfahrung im Umgang mit Fremden, ohne eine Vorstellung vom Leben und von der Zukunft. Wie wird sich dieses Kind ohne positive Erfahrungen mit einer oder mehreren sicheren Bezugspersonen zukünftig emotional, physisch, lebenslustig, optimistisch und kognitiv positiv entwickeln? Ein Knabe, der vom Ozean des Wissens ausgeschlossen wurde. Ein ehemaliger Zögling, der zum christlichen Glauben genötigt wurde und an dem sich später Generationen von Fachärzten für Gemüts- und Geisteskrankheiten die Zähne ausbeißen sollten. Kein irdisches Wesen konnte damals ahnen, ob dieses Häufchen Elend eine Chance haben würde, ein halbwegs funktionierendes Mitglied der Gesellschaft zu werden. Dafür ein Nichts, das den Glauben an den Allmächtigen längst verloren haben musste.
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Meine der traditionsverliebten Institution Kirche gleichfalls sehr kritisch gegenüberstehende Frau Mama, berichtete mir in späteren Jahren einmal, dass ich mit einer der schwarz-weißen Missgeburten der Frömmigkeit an der Hand >vermutlich handelte es sich dabei um die fettleibige Giftmischerin< am Haupteingang des Kinderkonzentrationslagers ungeduldig auf ihr Eintreffen wartete. Als es nach der Entlassung aus der Abschiebehaft und der Aushändigung meiner überschaubaren und für mich belanglosen Dokumente darum ging, in das wartende Auto einzusteigen, soll ich Zeter und Mordio geschrien haben. Warum das? Das kann ich mir beim besten Willen bis zum heutigen Tag nicht erklären. Ich hatte noch nie eine Antipathie gegen Automobile. Nur gegen Kuttenzombies.
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Wenn ich ehrlich bin, was mich in der Zöglingsanstalt Kopf und Kragen hätte kosten können, kann ich mich nur ganz, ganz vage an die Fahrt in meine künftige Heimat erinnern. Der Innenraum des Autos kam mir riesig vor, die ockergelbe Farbe des Autos fand ich ekelig und ich fühlte mich auf dem Rücksitz irgendwie verloren. Wahrscheinlich fühlte ich mich in diesem Moment wie der Teddybär von Margarete Steiff, der ursprünglich als Nadelkissen gedacht war und der anfangs, wie ich, zunächst keine Rolle spielte. Und den ich 1962 weder kannte, noch später mein Eigen nennen konnte. Statt eines Knopfes im linken Ohr sollte dieser erst 30 Jahre später in Form eines Ohrsteckers im rechten Ohr angebracht werden. In den Autos dieser Zeit gab es keine Kindersitze, keine Klimaanlagen, keine Nackenstützen und keine Sicherheitsgurte. Ein VW Käfer, Baujahr 1961 ‚beschleunigte‘ von 0 auf 100 km/h in 35 Sekunden! An so etwas wie ein Gespräch mit den mir unbekannten Menschen vor mir während der vielleicht zweistündigen Fahrt kann ich mich nicht erinnern. Dafür bin ich mir sicher, mich während der Fahrt nicht übergeben zu haben, womit ich meine Mitfahrtauglichkeit gleich unter Beweis stellen konnte.
Ich bin mir gleichfalls ziemlich sicher, dass es kurz vor Ostern gewesen sein muss, denn während der ganzen Fahrt klammerte ich mich an einen kleinen orangefarbenen Plüschhasen >den mir der Chef meiner Pflegemutter geschenkt hatte<. Ich soll ihn tagelang fest an mich gedrückt haben, weil ich Angst hatte, dass man ihn mir wieder wegnehmen würde. Dieses erste Geschenk meiner neuen Pflegeeltern sollte wenig später noch für eine amüsante Anekdote sorgen. Um bei den Fakten zu bleiben: Mir selbst ist nur dieser eine Moment der Übergabe vom Heimkind zum Pflegekind vor dem Heimgelände in Erinnerung geblieben. Vermutlich noch unter dem Einfluss der mir zuvor verabreichten Medikamente setzte mein ansonsten kolossales Erinnerungsvermögen erst einige Wochen später ein.
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Einen psychisch gestörten siebenjährigen, mit Essstörungen, mit Untergewicht, ein mit Minderwertigkeitskomplexen behafteten Jungen, der eine soziale Angststörung vor >fremden< Menschen hat und sich vor der Dunkelheit >Nyktophobie< fürchtet. Ein Pflegekind, das Panikattacken bekommt, wenn ein menschliches Wesen seinen schmächtigen Körper berührt oder im Zentrum der Aufmerksamkeit von Erwachsenen steht. Wobei letzteres noch im Alter von über 14 Jahren bei mir existent war. Ein geplagtes ehemaliges Heimkind mit einer ausgeprägten Agoraphobie, der Angst vor räumlich großen Plätzen mit Menschenansammlungen. Ein Junge, der in solchen Situationen noch heute, als Mittvierziger, Schweißausbrüche, Herzrasen und Panikattacken bekommt. Ein kleiner Junge mit einer Phobie vor Körperkontakt, der sich strikt weigert, seinen dürren Körper zu berühren. Der zurückschreckt, wenn fremde Erwachsene ihm zu nahe kommen. Ein Kind mit einer besonderen Gabe: die fast komplette Abschaltung von Gedächtnisinhalten der Vergangenheit in seinem Hippocampus. In gewisser Weise lässt sich dies mit einer über Jahre anhaltenden psychogenen Amnesie vergleichen.
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Auf die Frage an meine Mutter, ich war da schon im jugendlichen Alter, warum sie denn ausgerechnet mich als Pflegekind ausgewählt hätten, antwortete sie sinngemäß: Eigentlich wollten sie ja einen Säugling adoptieren. Doch dann kreuzten sich nicht nur unsere Wege, sondern auch unsere Blicke in der von dunklen Tannenwäldern umgebenen Kinderaufzuchtstation ‚Maria Brutalis‘ in Aachen-Bildchen. Dies ist für mich umso erstaunlicher, da ich es mir in den Heimjahren aus Angst vor Repressalien angewöhnt hatte, stets meinen Blick gen Erde gerichtet zu halten. Diese auffällige und merkwürdige Eigenart sollte ich noch Jahre nach meiner Befreiung aus den Fängen der Götzenanbeterinnen beibehalten.
Genau dieser ‚Augen-Blick‘ hätte sie tagelang verfolgt, sie hätte ihn bis in den Schlaf hinein begleitet. Noch nie in ihrem Leben, selbst in den hinter ihr liegenden Kriegsjahren, hätte sie bei mir in Kinderaugen geschaut, in denen sie die Spuren von fünf Liter Tränen, ausgelöst durch Missbrauch, Vergewaltigung, Demütigung, Hilflosigkeit, Melancholie und sonstigem erlittenen Leid, glaubte gesehen zu haben. Während meines Aufenthaltes in ‚Maria Satanus‘ stand ich genau vom 04.06.1957 bis zum 03.04.1962 unter Hausarrest und besonderer Beobachtung. Mir war es nie aufgefallen, dass die beiden mich bereits vor der Erlösung mehrmals besuchten und sich für mich interessierten. Dies ist umso erstaunlicher, da sie dafür einen weiten und mühsamen An- und Abfahrtsweg in Kauf nahmen. Immerhin war das Landstraßen- und Autobahnnetz Anfang der 60er bei weitem noch nicht so gut ausgebaut, wie es heutzutage der Fall ist.
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Meine erste Bleibe in meiner neugewonnenen Freiheit wurde ein schon etwas älteres, grau angestrichenes Haus an der Rahmstraße 49 in Voerde, Ortsteil Möllen. Dessen Besitzerin war eine Frau namens Bernhardine Duscha, die biologische Mutter meines neuen Versorgers und von diesem Tag an meine Oma Dine. Offiziell hieß sie Bernhardine Duscha, war eine verwitwete Schwarz, und geborene Josten. Zum Zeitpunkt meiner Ankunft war die kleine Immobilie bereits von ihr verkauft worden. Im Erdgeschoss ihres Hauses betrieb sie viele Jahre lang einen Tante-Emma-Laden. Dieses Ladenlokal hatte sie aus wirtschaftlichen Gründen zuvor aufgegeben und an einen Italiener vermietet. Und was betrieb dieser in den Räumen? Eine original italienische Eisdiele! Unglaublich: Eine Eisdiele unmittelbar unter meinen kleinen Füßchen! Nach meiner Ankunft hatte Oma wohl mit dem Eismann vereinbart gehabt, dass ich mir dort jeden Sonntagnachmittag eine Kinderportion Eis meiner Wahl abholen durfte. Ganz neu dabei war die positive Erfahrung, dass ich wegen einer zusätzlichen Portion Sahne nicht mehr mit einem Satz heißer Ohren sanktioniert wurde.
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Da die Würfel bereits im Vorfeld zu meinen Gunsten gefallen waren, wurde am 03.04.1962 >meiner zweiten Geburt< auf eine für mich unergründliche Art und Weise, aus dem strengstens katholisch erzogenen Sozialwaisen Günther Michael Schröder ein Pflegefall. Falsch! Ein Pflegekind. Dieses an ein >unchristliches< Wunder grenzende Ereignis verdanke ich den bis dahin kinderlos gebliebenen Eheleuten Marieliese, geb. Bröder, Jahrgang 1925, ihres Zeichens ‚Minimal-katholisch‘ und Karl-Heinz >Kurzform K.-H.< Schwarz, Jahrgang 1933, seines Zeichens ‚Gelegenheits-Protestant‘. Der fürsorglichen, verantwortungs-, respekt- und liebevollen Erziehungsmethodik meiner kleinen Familie wurde ich mir erst spät, sehr spät bewusst. Ehrlicherweise mache ich mir erst jetzt über die Zeit meiner Kindheit in meinem neuen Zuhause tiefgründige Gedanken.
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An der Schnittstelle zwischen der Abkehr von den Prügelpinguinen und der Zuwendung hin zu den künftigen Erziehungsberechtigten, muss es bei meinen Eltern zu einem emotionalen Tsunami gekommen sein. Für mich war es jedenfalls der Beginn eines neuen Lebens. Die ersten Gespräche mit Mutter und Oma waren nur deswegen möglich gewesen, weil ich in weiten Teilen mein anfängliches Misstrauen und meine Verschlossenheit weitestgehend aufgegeben hatte. Für mich war es das erste Mal, mich mit Erwachsenen auf einer ruhigen, sachlichen und vertrauensvollen Ebene zu verständigen. Ein großer Vorteil dabei war sicherlich unsere gemeinsame west-germanische Sprache, die meines Wissens nach aus immerhin über 350.000 Wörtern >!< bestehen soll.
Diese neu erworbene Fähigkeit, mit Menschen zu sprechen, bedeutete jedoch nicht, dass ich meiner neuen Familie jemals etwas von dem erzählte, was hinter der Mauer des Schreckens geschehen war. Selbst meine Ex-Frau und meine beiden Söhne erfuhren nichts von meinen Kindheitserlebnissen. Von meiner Großmutter habe ich folgende Metapher aus dieser frühen Zeit mitgenommen: Sie hat mich einmal mit einer tropischen Perlauster verglichen. Die Perlauster ist die einzige Austernart, die nur in ganz, ganz seltenen Fällen unter einer massiven, dicken und scharfkantigen Schale eine kostbare Perle in sich trägt. Das klang schon viel besser als die zahlreichen Kraftausdrücke, die mir aus der dunklen Welt der 50er und 60er Jahre entgegenschlugen.
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Enorme finanzielle Ersparnisse ergaben sich außerdem dadurch, dass keine Checkliste für die reichhaltige Säuglingsgrundausstattung erstellt und diese zeitaufwendig gekauft werden musste. Zusätzlich entfielen die nicht unerheblichen Ausgaben für nicht mitwachsende Kleidung, eine Wickelkommode, eine Babymatratze, zahlreiche Decken, eine Babytragetasche, einen Kinderwagen und eine Babyschale mit Hosenträgergurt fürs Auto. Wobei letztere mit der Zeit gegen einen geeigneten Kindersitz ausgetauscht werden sollte. Eingespart wurden außerdem die Kosten für mehr oder weniger pädagogisch sinnvolles Kleinkinderspielzeug und sonstigem Klimbim. Die ersten Wutanfälle und Trotzphasen blieben ihnen ebenso erspart wie die Suche nach einer Tagesmutter und einem Kindergartenplatz mit angegliederter Krabbel-, Schrei- und Furzgruppe. Als Gesichtskomiker mussten mir meine neuen Familienmitglieder auch keine Wörter wie ‚Maaaama‘, ‚Paaaapa‘, ‚Omaaaa‘, ‚Teita‘ oder ‚Happihappi‘ hundertmal vorsagen. Wobei sie sicherlich vor Stolz geplatzt wären, wenn ihr Wunderknabe Laute von sich gab, die auch nur halbwegs der deutschen Sprache zuzuordnen waren.
Im fortgeschrittenen Babyalter ersparte ich ihnen den berüchtigten Ohrenkrebs, indem ich vor ihnen kein sinnentleertes ‚Habbahabba‘, ‚Mama lieb‘, ‚Baba‘, ‚Dutzidutzi‘, ‚Kaka‘, ‚Töfftöff‘ oder ein chinesisch klingendes ‚Dawauwau‘ vor mich hinbrabbelte. Erfreulicherweise musste auch niemand mein Erbrochenes vom Plattenspieler kratzen, Schmierereien mit Buntstiften von Tischen und Wänden entfernen und keine Kindersicherungen an allen in Griffnähe befindlichen Steckdosen und am Medizinschrank anbringen. Sie mussten sich auch keine Sorgen machen, dass ich in der Badewanne durch den Abfluss rutschen, die Kellertreppe hinunterfallen oder die heißen Herdplatten als Fußbodenheizung missbrauchen könnte. So konnten sie die Fenster im Obergeschoss beruhigt Tag und Nacht offen lassen, weil sie nicht befürchten mussten, dass ich meine erste Flugstunde kopfüber nehmen würde.
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Ob bewusst oder rein intuitiv: In den ersten Monaten haben mir Oma und Mama die Freiräume vor der Flimmerkiste gelassen. Natürlich nur mit sorgfältig ausgewählten und altersgerechten Kinderfilmen, von denen es nur wenige gab. In dieser relativ kurzen Zeit lernte ich, mich mit meiner neu entdeckten Fantasie in fremde, bisher unbekannte Welten entführen zu lassen. Einer meiner Favoriten wurde der Abenteuerfilm ‚Die Kinder aus Bullerbü‘, ein Zweiteiler von Astrid Lindgren, in dem mich besonders die Figur des neunjährigen Lasse durch seine körperliche Überlegenheit beeindruckte.
Es versteht sich von selbst, dass die drei Bullerbü-Bücher kurze Zeit später meine stetig wachsende Kinderbuchsammlung füllten. Nicht viel anders erging es den amerikanischen Tierfilmserien mit dem schwarzen Hengst ‚Fury‘ und dem Fernsehhund ‚Lassie‘, einer Langhaarcollie-Hündin und ihren Abenteuern. Meine neuen ‚Aufpasser‘ achteten zu meinem Wohl darauf, dass mich weder Fernsehen noch Literatur geistig überforderten und sprachen gerade beim Lesen hin und wieder ein gut gemeintes Machtwort, weil ich sonst sicher schon mal vergessen hätte, ausreichend zu schlafen.
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Für mich war es neu, meinen Gefühlen freien Lauf lassen zu können, ohne dafür sanktioniert zu werden. Oma hob mich sanft hoch, ging mit mir zu einem Sessel und setzte mich dann behutsam auf ihren Schoß, auf dem sicherlich locker noch drei weitere zu beruhigende Kinder meines Kalibers Platz gefunden hätten. Als ich mich halbwegs beruhigt hatte, erzählte ich ihr, dass ich Musik gehört habe. Der Titel der Platte lautete: ‚Das alte Haus von Rocky Docky‘, veröffentlicht im Jahr meiner Geburt und gesungen von dem Niederländer Bruce Low. Erst als ich den Text begriffen hatte, tauchte vor mir, für alle Zeit unauslöschlich, das Bild des Eingangsgebäudes von ‚Maria im Tann‘ vor meinem geistigen Auge auf.
Selbst jetzt, genau in dem Moment, in dem ich diesen Text schreibe, bekomme ich eine Gänsehaut, wenn ich an dieses unchristliche Lager für aussätzige Kinder denke. Oma Dine lächelte verlegen. Sie konnte ja nicht verstehen, warum mich das Lied so aufwühlte. Wie sollte sie auch? Es sind häufig gewisse Lieder, die mich an ganz bestimmte, unvergessliche Momente in meinem Leben erinnern. Nebenbei bemerkt, fällt mir ein, dass Oma mich bis zu Ihrem, für mich viel zu frühen Tod, ‚min Jung‘ nannte. Es war Oma Dine, die eines Tages, als ich wahrscheinlich wieder einmal ein wenig deprimiert war, auf ihrem Schoß saß, mein kleiner Schädel auf ihren Riesenmöpsen ruhend, zu mir sagte: „Min Jung, du büst to’n Leven baren“. Ich verstand es natürlich nicht, was ich ihr mitteilte. Sie übersetzte es mir auf Hochdeutsch: „Mein Junge. Du wurdest geboren um zu Leben.“ Ich verstand es trotzdem nicht.

Lumpi, ca. 1963
Auf eine meiner Trillionen von Fragen, warum sie keinen Mann hatte und ich damit keinen Opa, berichtete sie mir, dass sie an ihren beiden Männern nicht lange Freude gehabt hätte. Opa Schwarz starb bei einem Grubenunglück auf der Zeche Dinslaken-Lohberg, Opa Duscha, gleichfalls Bergmann auf dieser Zeche, verunglückte mit seinem Motorroller tödlich, als er sich auf dem Heimweg befand. Trotz dieser Schicksalsschläge, zweier erlebter Weltkriege, zwei zu versorgender Kinder und wirtschaftlicher Nöte, hatte sie die Gabe, die Ruhe, die Kraft und natürliches Talent, die richtigen Weichen für meine Zukunft zu stellen. Sie war eine starke Frau. Sie war offen und ehrlich. Und sie war genügsam. Außerdem war sie gesellig und immer in Bewegung, wenn sie nicht gerade schlief. In meiner an und für sich eigentlich unspektakulären pubertären Phase wurde mir erst so richtig bewusst, dass ich mich blind auf ihre Loyalität und Neutralität verlassen konnte. Ihr und meiner Mutter habe ich die Werte zu verdanken, die ich bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht kannte und die zu einem ständigen Wegweiser für meine weitere Zukunft werden sollten.
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In der Natur schien es nichts zu geben, über das mir Oma Dine bei unseren Ausflügen nichts zu zeigen und zu erklären hatte. Oft kam sie mir vor wie ein wandelndes Naturkunde-Lexikon. Ich bin mir sicher, dass mein großes Interesse an allem Neuen echt und nicht gespielt war. Den Schwestern der Scheinheiligkeit war es nicht gelungen mir meine natürliche, kindliche Neugier und Wissensdrang zu nehmen. Erst jetzt, inzwischen zu einem Großstadtmenschen mutiert, wird mir erst so richtig bewusst, welch großes Glück Kinder haben, die in einem freien Naturumfeld aufwachsen. Es gibt die Redewendung, wonach sich Füchse und Hase gute Nacht sagen. Von der Terrasse und dem Balkon meines künftigen Elternhaus aus, konnte ich zwar nie sehen, dass sich Füchse und Hase begrüßten, aber was ich direkt hinter dem Grundstück häufiger in den Abendstunden beobachten konnte, waren Rehe und Füchse.
Dort wo sich in meiner Kindheit Wiesen, Felder, Äcker und ein kleiner, selten genutzter Spielplatz befindet, stehen jetzt wieder Wälder. Ein weiteres großes Bestimmungsglück in meinem Leben war, dass ich an eine Oma geriet, die vielen meiner Gedanken, Wünsche und Hoffnungen Raum zur Entfaltung bot. Ob ich meine robuste Gesundheit meinen Genen oder meiner Oma verdanke, kann ich nicht beurteilen. Jedenfalls ließ sie es zu, dass ich in der freien Natur durch meinen unbändigen Forscherdrang Dinge in den Mund nahm, die bei heutigen Großstadtmuttis einen Herzstillstand auslösen würden. In solchen Momenten erinnere ich mich noch gut an ihre Worte: „Dreck reinigt den Magen.“ Tatsächlich bin ich davon überzeugt, dass ‚Dreck‘ zwar nicht den Magen reinigt, aber dazu beiträgt, dass Kinder, die in ländlichen Regionen aufwachsen, deutlich weniger Allergien und Unverträglichkeiten haben als ihre immungeschwächten Altersgenossen in der Großstadt.
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In Sachen Datenschutz war Oma ihrer Zeit weit voraus. Zumindest gegenüber meinen Pflege-, später Adoptiveltern. Bei ihr blieben die Geheimnisse, die ich ihr anvertraute, das, wofür sie bestimmt waren: geheim. Selbst von meinen späteren jugendlichen Verfehlungen erfuhren meine Eltern dank ihr nichts. Ich behalte sie in bester Erinnerung als eine ruhige, nie griesgrämige, enkelunerfahrene, uneigennützige und stets freundliche ältere und rustikale Landfrau. Kurzum: Sie war es, die mir zusammen mit Marliese >Kurzform des Vornamens meiner Mutter< meine moralischen Wertvorstellungen, meine Verhaltensweisen und meine grundlegende Weltanschauung vermittelt hat. Zu diesen alten Werten, an denen ich mich bis heute orientiere, gehören unter anderem: Zuverlässig-, Verbindlich-, Pünktlich- und Achtsamkeit, sowie Optimismus, Loyalität, Sorgfalt und Hilfsbereitschaft. Eingebrannt in meinem Gedächtnis hat sich ihr Satz: „Vriendelijkheid kost geen Geld .“ Freundlichkeit kostet kein Geld.
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Erstmalig in meinem jungen Leben verbrachte ich eine behütete, beschützte und gewaltfreie Kindheit. Bis zum Ende der Sommerferien 1962 blieben wir in dem alten Haus von Oma Dine wohnen. Anzumerken ist noch, dass das Schuljahr bis 1966 immer zu Ostern begann und erst 1967 auf den 1. August umgestellt wurde. Zwischen dem ersten Tag in Omas altem Haus und meinem ersten Tag in der neuen Lernvollzugsanstalt lagen mithin nur wenige Monate. Diese extra für mich verlängerte Überbrückungszeit nutzten in erster Linie meine Oma und ich zusammen. Sofern sie dafür Zeit hatten, gesellten sich abends und am Wochenende die Eltern dazu. Dann war es Mutter, die mich mit Fragen löcherte: Was hast du heute Schönes erlebt? Wo wart ihr? Hast du schön gespielt? Hast du was dazugelernt? Und so weiter. Halt Fragen, die eine Mutter einem kleinen Kind stellt. Irgendwann im Herbst fühlte Mutter vorsichtig vor, ob ich denn jetzt so langsam bereit wäre, den Rest der heuchlerischen Anverwandten kennenlernen zu wollen. Obwohl ich mit Begriffen wie Onkel und Tante, Opa und Urgroßeltern, Neffe und Nichte, sowie Cousin und Cousine nichts anzufangen wusste, stimmte ich gehorsam zu. In späteren Jahren hielt ich mir die Sippschaft nach Möglichkeit vom Leib. Mit einer Ausnahme, auf die ich gleichfalls noch zu Schreiben komme.
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Aus der Düsternis der Gemäuer der Heimstatt der kriminellen marianischen Vereinigung, wurde nach meiner Ankunft in Möllen fast über Nacht eine entspannende, anregende, wärmende und mich befreiende Lichtquelle. Nach meinem Einzug lernte ich noch einen Mitbewohner kennen, der mangels zweibeiniger Alternativen, in der Probezeit mein erster, bester und eigenwilliger Freund wurde und gleichfalls unvergessen bleibt. Ihm schenkte ich von Anfang an mein Vertrauen, was er mir dadurch dankte, dass er mich nie gebissen hat: Lumpi. Der Hund muss bei unserer ersten Begegnung genauso dumm aus der Wäsche geschaut haben wie ich. Der Unterschied lag wohl darin, dass der Hund zwar an Menschen gewöhnt war, ich aber bis zu unserer Begegnung noch keine Tiere kannte. Weder Hund noch Katze, weder Vogel noch sonstiges Getier.
Lumpi war ein typischer reinrassiger Straßenköter, wahrscheinlich haben wir uns deshalb von Anfang an so gut verstanden, wir waren im Volksmund ja beide Bastarde. Lumpi, der Lump, sah aus wie eine Kreuzung zwischen einem Fuchs und einem Kurzhaardackel. Neben seinem struppigen, rotblonden Fell mit einem weißen Fleck am Hals ähnelte er auch von der Statur her sehr einem Rotfuchs. Dabei wusste ich bis dahin nicht einmal, was ein Fuchs ist, geschweige denn, wie so ein Tier aussieht. Woher auch? Schienen doch Kinder- und Malbücher in der katholischen ‚Kinder-Aufzuchtstation‘ als pornografische Literatur verteufelt zu werden. Auch hier kann ich mich nicht erinnern, jemals eines dieser Bücher im Heim in der Hand gehabt zu haben. Sicher waren die Nonnen bemüht, meinen Wissens- und Bildungsstand so niedrig wie möglich zu halten. Denn viel Wissen bedeutet auch viel Macht und setzt Allgemeinbildung sowie fundierte Kenntnisse voraus.
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Naiv wie ich war, ließ ich die Leine erst lockerer und dann ganz los. Ratlos schaute ich mich in der näheren Umgebung um, konnte allerdings keinen Notausgang, aus dem er mir hätte entkommen können, entdecken. Was, stellte ich mir die Frage, wenn es sich hier um einen Fuchsbau handelt und er mit diesem um Leben und Tod kämpft? Dieser Gedanke schürte mir die Kehle zu. Ich wartete, wartete und wartete. Irgendwann wird er schon im Rückwärtsgang den vermeintlichen Fuchsbau wieder verlassen, dachte ich. Schon bald wandelte sich mein Optimismus jedoch in ein Gefühl des Unbehagens. Nach einer Weile, die mir wie eine Ewigkeit vorkam, stand ich auf und rannte laut schreiend und mit den Armen gestikulierend zurück zu Oma.
Ich war in diesem Moment fest davon überzeugt, dass sich Lumpi da schon im Hundehimmel befand. Oma drückte mich mal wieder an ihre fetten Möpse und meinte nur: „Der taucht schon wieder auf.“ Und so war es dann letztendlich. Am nächsten Tag saß Lumpi frühmorgens winselnd vor der Haustür. Eines seiner Schlappohren war eingerissen und von verkrustetem Blut gezeichnet. Bis zu seinem nächsten Einsatz wurde er dann liebevoll von mir und dem Rest der Familie gesundgepflegt. Auf eine für ein Kind unverantwortliche Art und Weise wurde Lumpi zwei, drei Jahre nach diesem Vorkommnis in meinem Beisein auf dem elterlichen Grundstück von meinem Vater begraben.
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Mutter zog mich, ich werde es gleichfalls nie vergessen, in einen großen Konsumtempel. Es handelte sich um das Hertie-Kaufhaus, aus dem inzwischen die ‚Neutor-Passage‘ entstanden ist. Vor der Tür blieb ich stur wie ein Esel stehen und weigerte mich dieses Riesengebäude zu betreten. Noch nie zuvor hatte ich so viele Menschen auf einem Haufen gesehen, geschweige denn ein derart riesiges Warenangebot. Ich hatte Angst und glaubte, das Warenhaus wäre der Schlund zur Unterwelt. Mutter erklärte mir mit einer Engelsgeduld, was mich hinter den breiten Eingangstüren erwarten würde. Nachdem sie mir die weltbeste Currywurst mit Pommes versprach, ließ ich mich von ihr überreden. Ohne zu wissen, was da kulinarisch auf mich zukommen sollte. Doch ohne Fleiß kein Preis. Also zog mich Mutter bis zur Kinderbekleidungsabteilung hinter sich her.
Noch immer von Unterwerfung geprägt, ließ ich es über mich ergehen, dass sie mir für den Schulanfang einen blau-weiß gestreifter Matrosenanzug mit einer dazu passenden kurzen und langen Hose kaufte. Ja, richtig gelesen: Matrosenanzug! Das war für die ehemaligen Gebärmutterpartisanen aus vornehmen Haushalten in jener Zeit wohl der letzte Modeschrei. Als Lektion lernte ich daraus den Begriff ‚Modeschrei‘, wobei die Betonung hier zweifelsohne auf ‚Schrei‘ liegt. Als mir Jahre später beim unerlaubten Stöbern durch die Schubladen des elterlichen Wohnzimmerschrankes, ein Bild mit dem kleinen Micha, samt diesem von mir so ungeliebten Anzug, in die Hände fiel, führte ich dieses Foto ungefragt der endgültigen Vernichtung zu. Viele andere Kindheitsbilder, mit meinem von mir als unfotogen empfundenen Konterfei, erlitten dabei das gleiche Schicksal. Es dauerte viele Jahre, sehr viele Jahre, bis ich mich selbst nicht mehr als attraktivitätsbehindert wahrnahm.
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Für mein Erstlingswerk erhielt ich von meinen Ersatzeltern Lob und Anerkennung, womit ich anfangs nichts anzufangen wusste, da ich bis dato noch nie erlebte, gelobt zu werden. Ich kannte ja nur vom Gebabbel der Quälnonnen her ein ‚Gelobt sei Jesus Christus‘. Wer auch immer damit gemeint war. Auf jeden Fall waren meine nicht sonderlich christlichen Eltern mächtig erleichtert, als sie nicht nur aufgrund meiner kleinen Baumaßnahmen erkannten, dass ich offensichtlich als Säugling weder zu heiß gebadet, noch zu heiß gepudert worden war. Darüber hinaus stellten sie mit Stolz fest, dass ihr künftiger Sohnemann über eine gewisse Form von kindlicher Intelligenz, logischem Denken und Kreativität verfügte. Was sie da noch nicht ahnten: Diese und andere Fähigkeiten sollten in späteren Jahren für sie noch zum Fluch und Segen zugleich werden.
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Das Wenige, woran ich mich an diese Wochenenden erinnere, ist die in schwarz-weiß ausgestrahlte Fernsehsendung ‚Ohnsorg-Theater‘ aus Hamburg mit Heidi Kabel und Henry Vahl und Holzkreuzen an den Wänden. Gott sei gelobt, getrommelt und gepriesen: zum Glück kein stinkender Weihrauchgeruch. Statt mir etwas Leckeres zu kochen, servierte sie mir jedes Mal Erdnüsse, Salzstangen und Kraneberger >Leitungswasser<. Wenn mir die Augen zufielen, erwachte ich morgens auf ihrem Sofa, zugedeckt mit einem Stück wärmendem Stoff. Auf ein Frühstück mit trockenem Brot und Marmelade verzichtete ich dankend, mit dem Argument, keinen Hunger zu haben. An ihr habe ich bei weitem nicht so viel bildliches Vorstellungsvermögen wie bei Oma Dine. Ich weiß noch, dass sie ziemlich alt wurde, so um die 85, und dass ich nur widerwillig an ihrer Beerdigung teilnahm. Zu Lebzeiten strahlte sie für mich eine unerklärliche Kälte aus. Aus Rücksicht auf meine Mutter und weil sie es nicht wert war, habe ich es all die Jahre vermieden, mit ihr zu streiten. Schließlich hatte ich schon gelernt, dass der Klügere nachgibt.
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Sommer 1962: Als ich mich eines Tages geistesabwesend in dem mir zugewiesenen Freigehege im hinteren Bereich des Grundstücks mit der Nachbildung unserer zukünftigen Behausung beschäftigte, passierte es: Meine erste Begegnung mit einem zweibeinigen Wesen, so eines mit dem Puppenwagen-Gen. Mädchen genannt. So ein richtiges, von der kleinen, ängstlichen, zickigen Sorte. Diese plärrenden, stimmgewaltigen Engelchen mit Zöpfchen, Röckchen und Plappermäulchen. Als ehemaliges Heimkind waren Mädchen für mich bis dahin unbekannte, mystische Wesen und ich war den Umgang mit ihnen nicht gewohnt. Ich war geistesabwesend mit meinem Häuschen beschäftigt, als mir jemand von hinten auf die Schulter tippte. Ich drehte mich vorsichtig um, als sie mir die Fragen stellte, was ich denn da machen würde und wie ich denn hieße.
Völlig verdattert musterte ich sie mit meinem Scannerblick von oben nach unten und wieder von unten nach oben ab und gab ihr auf beide Fragen keine Antwort. Worauf sie sich nach einer Weile des Schweigens mit piepsiger Stimme dahingehend äußerte, ihr Name sei Annette und sie fände mich doof. Brüskiert drehte sie sich um und entschwand aus meinem Blickfeld. Ich schreibe es meiner anfänglichen Schüchternheit zu, dass ich während meiner mittleren Kindheit unbewusst Distanz zu den Mädchen wahrte. Wie sich wenige Tage später herausstellte, war Annette die älteste der drei Töchter unserer künftigen direkten Nachbarn linker Hand und zugleich die jüngere Schwester des ersten männlichen Nachkommen der Familie F. namens Helmut.
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Der 1. August 1962 war gekommen und der Schrecken nahm seinen Lauf. Ich hatte meinen ersten peinlichen Auftritt in der Schule: in dem blöden Matrosenanzug mit den kurzen Beinen, mit meinem zarten Körperbau, im Vollbesitz der bereits erwähnten Phobien, mit einer schwarzen Hornbrille, die mein Gesicht entstellte, mit Gläsern dick wie Glasbausteine, mit einer ‚50-Pfennig-Pisspottfrisur‘ und einem neuen Tornister. Als wäre das nicht schon Grund genug gewesen, vor Scham im Boden zu versinken, blamierte mich Mutter zusätzlich, indem sie mich wie einen Erstklässler ins Klassenzimmer führte. Was in dieser Situation noch fehlte, war eine prall gefüllte Schultüte. Am Nachmittag entschuldigte sich Mutter nicht nur dafür, dass sie mich in diese äußerst peinliche Situation gebracht hatte, sondern auch dafür, dass sie nachholen wollte, was mir >wahrscheinlich< als Schulanfänger bei der Einschulung in Aachen verwehrt geblieben war.
Schon beim Betreten des Klassenzimmers war ich dem schallenden Gelächter meiner Mitschüler ausgesetzt und hätte mich am liebsten in Luft aufgelöst. Mir fiel schon dort auf, dass sie irgendwie andere, ärmliche Kleidung trugen. Meine Mutter erklärte mir kurz darauf ohne jegliche Überheblichkeit, dass die Eltern sich teure Kleidung finanziell nicht leisten könnten und froh seien, wenn die Zeit der Saisonschlussverkäufe käme. Diese Zeiten der Rabattschlachten dauerten jeweils 12 Werktage und hießen Winter- und Sommerschlussverkauf, abgekürzt WSV und SSV. Damals wurden wir Kinder in den Schulen noch fein säuberlich nach Konfessionen getrennt. Die evangelische Volksschule befand sich auf dem Nachbargrundstück, das durch Gebäude, Hecken und Zäune von uns ‚Andersgläubigen‘ abgeschirmt war. Trotzdem gab es unter den Kindern immer wieder Sticheleien und Beschimpfungen wegen der jeweiligen Konfessionszugehörigkeit. So riefen die katholischen Kinder: „Evangelische Ratten, in der Pfanne gebraten, mit Schnittlauch garniert, dem Teufel serviert.“ Die Antwort der evangelischen Kinder lautete: „Katholische Mäuse, die haben Läuse, die muss man vernichten, zu Müllhaufen aufschichten.“ Häufig führten solche Provokationen zu kleineren Rangeleien, wobei versucht wurde, dem Gegner den Schulranzen, die Schuhe oder im Winter dessen Mütze oder Schal zu entreißen und damit zu entkommen.
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Gleich in der ersten Stunde des neuen Schuljahres in Voerde begann ich als wissbegieriger Zweitklässler unauffällig die Köpfe meiner neuen Mitschüler zu zählen. Dabei fiel mir auf, dass viele abstehende Ohren und kurz geschorene Haare hatten. Da ich nicht blöd sterben wollte, fragte ich noch am selben Tag meine Oma. Des Rätsels Lösung: Die meisten Kinder waren westslawischer Abstammung. Bis zum nächsten Schulwechsel hatte ich nun drei Jahre Zeit, mir alle Namen und Gesichter meiner Leidensgenossen einzuprägen. Aus dieser konservativ geprägten Schulzeit sind mir jedoch nur eine Handvoll Namen und Gesichter ehemaliger Lehrer und Schüler im Gedächtnis geblieben. So habe ich mir zum Beispiel den Namen meiner ersten Klassenlehrerin gemerkt: Fräulein, darauf legte man damals noch Wert, Ottersbach. Auf Schülerseite fällt mir spontan Wolfgang P. >katholischer als der Papst< ein. Auf Wolfgang komme ich sicher noch zurück, wenn die Zeit reif dafür ist und ich es nicht vergesse.

Schule, um 1965
Als Schüler mussten wir auf ergonomische Stühle und Bänke verzichten. Dafür mussten wir nicht nur aufrecht und gerade sitzen, sondern die Füße parallel zueinander parken. Die Hände mussten gut sichtbar für den Zuchtmeister auf dem Tisch liegen. Eine aktive Mitarbeit der Schüler war nicht erwünscht, damit der strenge Schulmeister ungestört sein Programm im Frontalunterricht abspulen konnte. Gelehrt wurde nach der Methode ‚friss oder stirb‘. Begriffe wie Lernspiele, Primar- und Sekundarbereich, Projektwoche, Lernstoffverdichtung, Ganztagsschule oder Gruppenarbeit kannte meine Generation nicht. Stattdessen wurden Betragen, Fleiß, Ordnung und Aufmerksamkeit im ‚Führungszeugnis‘ und die Pflichtfächer im ‚Leistungszeugnis‘ benotet. Und das bis zum Ende meiner Volksschulzeit! Meine dokumentierten Schulnoten sind mir irgendwo in meinen rund 85 Milliarden Nervenzellen und Billionen Synapsen mit der Zeit verloren gegangen.
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Im Sportunterricht stellte der Sportlehrer schnell fest, dass ich in der Leichtathletik schnell an meine körperlichen Grenzen stieß und ich nicht einsah, warum ich mir bei einem sinnlosen Hürdenlauf meine noch im Wachstum befindlichen Knochen brechen sollte. Sozialkundlich-philosophische Fächer wurden in der Schule nicht angeboten und zum Glück auch kein idiotischer Religionsunterricht. Dafür belegte ich mit großem Interesse die Fächer Geschichte, Erdkunde, Chemie, Biologie und Deutsch, die von den Paukern allerdings wenig lustig, dafür aber äußerst einschläfernd vorgetragen wurden, was sich dann auch in den wenigen guten Noten auf meinem Zeugnis niederschlug. Meine Motivation für den an Sadismus grenzenden Mathematikunterricht hielt sich ab der fünften Klasse in Grenzen. Um zum Beispiel zu differenzieren, brauche ich keine Mathematik, sondern eine gute Menschenkenntnis. Die Integration wurde mir schon als Kleinkind zur Genüge eingeprügelt, und für die Wurzel ziehen ist bei mir der Zahnarzt zuständig.
Nach einer ‚kleineren‘, versehentlich von mir im Chemieraum herbeigeführten Verpuffung, mit drei Leichtverletzten, wurden meine Eltern aus mir völlig unverständlichen Gründen zu einem klärenden Gespräch mit Direktor Heinrich Sch. und der namenlosen Schnepfe von Klassenlehrerin vorgeladen. Im allseitigen Einvernehmen durfte ich diese Schule wegen ‚guter Führung‘ nach nur eineinhalb Jahren wieder verlassen. Nach diesem kurzen Intermezzo landete ich mitten im 6. Schuljahr wieder in meiner alten Volksschule, worüber meine Freunde und Mitschüler hocherfreut waren. Ob dieses unverhoffte Wiedersehen Freude bei meinen alten Lehrkräften auslöste, wage ich hingegen stark zu bezweifeln.
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In diesem verhältnismäßig kurzen Stadium der Eingewöhnung in meinem neuen Umfeld, hatte ich das erste Mal das Gefühl, ein glücklicher, wenn auch noch zurückhaltender, aufgeweckter, kreativer, optimistischer und zufriedener Bengel zu sein. Ich bin mir darüber im Klaren, dass sich in dieser Zeit mit Riesenschritten meine künftige Persönlichkeitsentwicklung abspielte. Es sollte nicht die einzige bleiben. In diesem zweiten Lebensabschnitt, der zugleich der erste gravierende Wendepunkt in meiner Biografie war, meinte es das Leben wirklich gut mit mir. Für den Fall, dass in meinem Leben graue Wolken aufzogen, ich mich in einer bedrückten, düsteren Stimmung befand, ließ ich manchmal die Bilder der Glückseligkeit aus dieser Zeit vor meinem geistigen Auge Revue passieren. Diese Methode wende ich hin und wieder noch an und meistens ist für mich die Welt erst einmal wieder in Ordnung. Meistens.
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Als gegen 16 Uhr ein Glöckchen auf dem Flur ertönte, war ich ganz still, weil ich nicht wusste, was mich erwartete. Dann ging meine Zimmertür auf und jemand verkündete, dass jetzt Bescherung sei. Wobei ich mit dem Wort ‚Bescherung‘ nichts anfangen konnte. Wir gingen die Treppe hinunter ins Wohnzimmer. Mit weit aufgerissenen Augen und einem ungläubigen Gesichtsausdruck fiel mein Blick zuerst auf eine Weihnachtskrippe, die unter dem Weihnachtsbaum aufgebaut war. Es war ein filigranes, dreidimensionales Meisterwerk erzgebirgischer Weihnachtskunst. Oma nahm mich an die Hand und versuchte mir die christliche Bedeutung der einzelnen aus Holz geschnitzten Menschen- und Tierfiguren zu erklären. Zum Glück merkte sie recht bald, dass mich die biblischen Geschichten wenig bis gar nicht interessierten.
Auf dem Boden lagen noch mehr kleine und große Pakete, weihnachtlich verpackt. Misstrauisch beäugte ich den vor mir stehenden, bis zur Decke reichenden Tannenbaum, den der Choleriker kurz zuvor aufgestellt haben musste, denn ich konnte sein Krakeelen trotz laufendem Fernseher bis in mein Zimmer hören. Frohe Weihnachten! Das konnte ja heiter werden. Der Baum erinnerte mich an etwas, das ich schon einmal gesehen hatte: Draußen, in der Kälte, vor dem Café in Aachen, einsam, gedemütigt und frisch gezüchtigt. Der Baum meiner Eltern war über und über geschmückt mit silbernem Lametta, meinen Bastelarbeiten, ein paar Strohsternen, roten Holzäpfeln und Dutzenden brennender roter Kerzen, die eine heimelige Atmosphäre schufen. Im Hintergrund lief eine Schallplatte mit stimmungsvoller Weihnachtsmusik.
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Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wie alt ich war, als ich mich zum ersten Mal intensiver mit dem Wurmfortsatz zwischen meinen Beinen beschäftigt habe. Aber eine Begebenheit aus dem Jahr 1964, ich war damals neun Jahre alt, ist mir in Erinnerung geblieben. Irgendwie hatte ich für eine Mark eine Schachtel Zigaretten der Marke ‚Ernte 23‘ und eine Schachtel Streichhölzer ‚organisiert‘. Es war die Zeit, als Zigaretten noch einzeln verkauft wurden oder drei Stück in einer Schachtel für einen Groschen. Mit meinem Kumpel Lothar, dem erwähnten Dusseldier, der mir inzwischen treu ergeben war, gingen wir in ein Waldstück, das etwas weiter von meinem Elternhaus entfernt lag und von dem ich wusste, dass es dort einen Försterstand gab. Wir stiegen hinauf, wissend, dass wir so beim Rauchen nicht gesehen und unangenehm überrascht werden konnten.
Vorsichtig öffnete ich die Packung, als wäre es der Heilige Gral, und zum ersten Mal in diesem frühen Entwicklungsstadium zogen wir nicht an einer Schokoladenzigarette. Und dann: Himmel, Arsch und Zwirn! Uns wurde schlecht! Wir husteten und spuckten uns die Seele aus dem Leib. Die angebrochene Zigarettenschachtel überließ ich abends, Bonbons lutschend, großzügig meinem Vater und behauptete, sie gefunden zu haben. Zum Glück schöpfte er keinen Verdacht. Überhaupt hatte ich inzwischen schnell gelernt, um Ausreden nicht verlegen zu sein. Wahrscheinlich ein Erbe aus meiner Heimzeit, um der körperlichen Züchtigung zu entgehen. Diese Angewohnheit habe ich in den folgenden Jahren beibehalten und perfektioniert. Mit etwa 13 Jahren begann ich, regelmäßig und heimlich zu rauchen. Und nicht nur das.

Buschmannshof – Voerde >Abb. ähnlich<
Ich war mit Dusseldier und seinem Bruder Kurt auf dem Rückweg vom Schlittenfahren, wir waren durchgefroren, erschöpft und hungrig. Grundsätzlich musste ich im Winter spätestens mit Anbruch der Dunkelheit zuhause sein und so machten wir uns rechtzeitig auf den Weg. Unterwegs, wir befanden uns in Buchholtwelmen auf dem Waldheideweg, kurz vor dem dortigen Wasserwerk, als wir wegen eines Schneesturms kaum noch etwas von unserer Umgebung sehen konnten. Als wir endlich auf der Höhe des Wäldchens vor dem Wasserwerk angekommen waren, sah ich etwas, das mitten auf der Straße lag und nur schemenhaft zu erkennen war. Es bewegte sich im Rhythmus des Sturms. Mal nach links und mal nach rechts. Nicht ruckartig. Es gab keine Geräusche von sich. Jedenfalls keine, die an meine eiskalten Ohren drangen.
Ich machte die beiden auf meine Entdeckung aufmerksam und wir blieben stehen. Jetzt sahen sie es auch. Wir flüsterten nur noch. Das Atmen fiel uns allen schwer. Ich war sicher nicht der Mutigste, aber ich wollte wissen, was es war. Wir gingen noch ein paar Schritte weiter, ohne zu merken, dass wir uns inzwischen zeitlich an unseren behandschuhten Händen festhielten. Von den Umrissen her war es kein Mensch, der Kopf war zu spitz, die Schultern waren viel zu breit und es hatte keine Beine. Ein Tier konnte es nicht sein. Es trug kein Fell und die Umrisse waren gezackt. Ganz langsam tauchten zwei grelle Lichter aus dem Kopf dieser angsteinflößenden Kreatur auf und schienen uns anzustarren. Mich fröstelte es nicht nur wegen der Kälte, ich fing an zu zittern, als ich ahnte was es war: „Ein Monster, ein schwarzes Monster,“ fing ich an zu schreien. Schlagartig fielen mir meine zahlreichen Albträume aus dem Schlafsaal im Kinderheim ein.
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Zu unserem ungeschriebenen Ehrenkodex gehörte es zum Beispiel, bei Prügeleien den am Boden liegenden Gegner nicht weiter zu attackieren. Wenn ein Kampf verloren war, dann war er verloren. Ohne Wenn und Aber. Waffen jeglicher Art waren tabu. Durch die Clique lernte ich >schlecht< Fußball spielen, fluchen, masturbieren und saufen. Im Prinzip verstanden wir uns als homogene Gruppe Gleichaltriger und als eine Art Vollkaskoversicherung auf Gegenseitigkeit. Dieses Kinderkollektiv hat mir entscheidend dabei geholfen, die schrecklichen Erlebnisse in der ‚Kinderkaserne‘ tief in meinem Unterbewusstsein zu vergraben. Kurzum: Es war die Zeit einer wunderbaren Kindheit, geprägt von einer bis dahin nicht gekannten Freiheit. Ich durfte in diesem neuen Lebensabschnitt nicht nur lernen, was altersgemäße Spiele sind, sondern auch, dass Freiheit Grenzen hat. Mein heutiges Freiheitsverständnis bedeutet, dass ich unter Beachtung gesetzlicher Regeln in meinem Wollen und Handeln frei bin.
Ich überlege gerade angestrengt, warum mich die Fülle der Erinnerungen an die ersten zwei, drei Jahre nach meiner Entlassung aus der Zuchtanstalt nun schon so lange beschäftigt. Was vorher gar nicht oder nur verschwommen in meinem Unterbewusstsein schlummerte, wird plötzlich zu einem wahren Tsunami an Erinnerungen. Zeiten, Menschen, Ereignisse, Landschaften und sogar Gerüche aus meiner Vergangenheit tauchen auf, die ich vorher in dieser Intensität nicht für möglich gehalten hätte. Liegt es vielleicht daran, dass ich mich plötzlich nicht mehr auf der Schattenseite des Lebens befand? Was ich allein in dieser kurzen Zeit in Voerde an Abenteuern erlebt, an Wissen und Vertrauen und Freiheiten gewonnen, an Ängsten verloren, an Gefühlen gezeigt, an Problemen bewältigt, an neuen Ideen entwickelt und an Freundschaften geschlossen habe, ist schier unglaublich. Dafür hätte ich, wäre ich nicht adoptiert worden, 666 Jahre in der gottverlassenen Sklavenkolonie Aachen gebraucht. Falls ich mir dort nicht schon vor der Pubertät mein junges Leben genommen hätte.
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Häufig erst mit Einbruch der Dunkelheit gingen wir ausgehungert, oft mit Blessuren versehen und völlig verdreckt nach Hause. Wer von den Nachbarskindern wusste, dass er in seiner Familie zu spät zum gemeinschaftlichen Abendessen eintreffen würde, war clever genug, mich bei Oma Dine abzuliefern. Durch diese kleine ‚Heldentat‘ konnte man sicher sein, von ihr noch ein mit Liebe geschmiertes ‚Bütterken‘ mit Wurst oder Käse auf die Hand gedrückt zu bekommen. Ich bin davon überzeugt, dass ich dank dieser unvergesslichen Kindheit auf spielerische Art und Weise gelernt habe, mein Vorstellungsvermögen zu erweitern, kreative Ideen zu entwickeln, zu kooperieren, Konflikte zu lösen und mit Kritik umgehen zu können. Ich bin stolz darauf, mich als ein ‚Kind der Straße‘ bezeichnen zu können und dass ich diese aufregende Zeit der Kindheit mit Altersgenossen verbringen durfte, die gleichfalls mit widrigen Lebensumständen und traumatischen Biografien zu kämpfen hatten.
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Eine unserer ungeschriebenen Bandenregeln war, dass jede ‚Beute‘ gerecht unter den Beteiligten aufgeteilt wurde. So wurde Manfred stolzer Besitzer des Schädels samt Stahlhelm, Bernd erhielt die Pistole und ich bekam das metallische Etwas. Dann trennten sich unsere Wege. Stolz präsentierte ich, Zuhause angekommen, ausgerechnet meinem gerade im Garten beschäftigten Vater meine Beute. Bis zu diesem Augenblick hatte ich noch nie ein Gesicht gesehen, das einer Totenmaske glich und in Sekundenbruchteilen mit Schweiß bedeckt war. Er wusste was ich in Händen hielt: Eine Handgranate! Das sagte mir nichts, aber aufgrund seiner Reaktion war mir klar, dass es sich dabei um ein lebensgefährliches ‚Überraschungsei‘ handeln musste. Er flehte mich an, was ich von ihm bis dahin gar nicht kannte, die Handgranate vorsichtig, ganz vorsichtig auf dem Rasen abzulegen.
Ich entsprach seiner Bitte und danach bewegten wir uns im Rückwärtsgang vorsichtig durch die geöffnete Terrassentür ins sichere Wohnzimmer. Charly stattete kurz seiner Hausbar einen Besuch ab, genehmigte sich einen Schluck aus einer Cognac-Flasche und informierte telefonisch die Polizei. Diese erschien binnen kürzester Zeit mit Blaulicht und Martinshorn, sicherte den Gefahrenbereich provisorisch und weiträumig ab und bat uns auf den Kampfmittelräumdienst zu warten. Wenig später trafen Mutter und Oma Dine ein und ich konnte von Glück reden, zwar nicht von der Granate in Stücke zerrissen, dafür aber von den beiden beinahe zu Tode gedrückt worden zu werden. Nachdem am nächsten Tag die Gefahr gebannt war, wurde ich nicht nur innerhalb der Familie, gegen meinen Willen, zum ‚Held‘ erklärt. Wie sich später anhand einer Erkennungsmarke herausstellte, handelte es sich bei dem Skelett um einen gefallenen Wehrmachtsoldaten, erst 17 Jahre jung.
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Um ein vollwertiges Mitglied werden zu können, hatte jede Bande ihre eigenen Aufnahmeregeln, ihren eigenen Ehrenkodex und ihr eigenes Aufnahmeritual. Dazu gehörten in erster Linie eine oder mehrere Mutproben die unter den Augen von Zeugen zu bestehen waren. Um in die Gruppe aufgenommen zu werden, musste auch ich ganz am Anfang eine für mich sehr peinliche und schmerzhafte Prozedur über mich ergehen lassen: Puller raus und aus kurzer Entfernung mindestens drei Sekunden an den elektrischen Weidezaun von Bauer Möltgen pinkeln. Nicht weniger schmerzhaft war es, mit kurzen Hosen oder hochgekrempelten Hosenbeinen durch ein Brennnesselfeld zu stapfen. Das Resultat: Brennen, Jucken und tagelange Quaddeln auf der Haut. Eklig war die Aufgabe, Regenwürmer auszugraben, in den Mund zu stecken und hineinzubeißen. Manfred führte vor unseren Augen dieses nicht gerade tierfreundliche Experiment auch einmal mit einem lebenden Frosch vor.
Um Stärke und Mut zu beweisen, konnte es auch vorkommen, dass ein Kandidat eine halbe Stunde in einem Mülleimer mit geschlossenem Deckel verbringen oder ein Knäuel nasses Zeitungs- oder Klopapier in den Auspuff eines Mopeds oder Autos stopfen musste. Eine weitere Mutprobe bestand darin, dass sich das zukünftige Bandenmitglied vor einem von uns zuvor ausgespähten Wohnhaus, einen alten Kartoffelsack über den Kopf ziehen musste. Sobald der Kandidat kurz darauf vor der Eingangstür stand, musste er sich durch mehrmaliges Klingeln bemerkbar machen. Wenn sich die Tür öffnete, musste er dreimal laut ‚Buh, Buh, Buh‘ rufen und dann blitzartig wegrennen. In anderen Fällen musste der Prüfling einen kleinen Karton vor die Haustür unseres Opfers ablegen. Darin befand sich ein in viel Zeitungspapier eingewickelter Hundehaufen. Um diesen für den Öffnenden nicht sofort als solchen erkennbar zu machen, wurde der Haufen mit reichlich Bohnerwachs übergossen und angezündet.
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In diesem Augenblick raste rechts von mir ein Pkw mit niederländischem Kennzeichen vorbei, dessen Fahrer offensichtlich im Begriff war, ein anderes Auto zu überholen. Als dieser den stehenden Roller bemerkte, war es auch schon zu spät. Ich hörte zwei ungewöhnliche Geräusche. Das erste waren die Geräusche einer Autovollbremsung und das zweite Geräusch stammte von der Kollision. Dann sah ich nur noch zwei Personen ohne Helm durch die Luft fliegen, von denen eine wie eine Schaufensterpuppe kopfüber auf dem Radweg aufschlug. Da ich in diesem Moment in Schockstarre verharrte, wusste ich nicht, wo sich die zweite Person, der Roller und das Unfallauto in diesem Moment befanden. Mein ansonsten logisch funktionierender Verstand muss in diesem Augenblick ausgesetzt haben, denn wie in Trance fuhr ich mit meinem Rad über zersplitterte Gehirnmasse, Schädelknochen und Unmengen von Blut eines der Unfallopfer und über Trümmerteile.
Ich befand mich mitten in einer Szene eines Horrorfilms und sah, dass sich Hirnreste, die aussahen wie dicke, kurze, hellbeige Würmer, noch bewegten. Nicht nur die Reifen meines Fahrrads waren voller Blut, sondern auch der Rahmen und Teile meiner Kleidung. Mein Zeitgefühl schwankte zwischen Dehnung und Stillstand. Zu Hause angekommen, sperrte ich mich in mein Zimmer ein und entledigte mich meiner Kleidung. Diese habe ich am nächsten Tag, bis auf die Schuhe, unbemerkt entsorgt. Ich hatte nächtelang schreckliche Albträume und machte das grauenhafte Erlebnis über Tage hinweg zu meinem Geheimnis. Später erfuhr ich, dass es sich bei den Unfallopfern um ein Ehepaar mittleren Alters aus unserer Siedlung handelte. Die Frau, über deren Leichenteile ich gefahren war, und den Mann sah ich Monate später einmal einbeinig im Rollstuhl vor seinem Haus sitzen. Die Geschwindigkeitsbegrenzung außerhalb geschlossener Ortschaften wurde 1972 eingeführt und die Helmpflicht für Motorradfahrer erst 1976. Beides hätte das Leben dieser Frau retten können. Aber ‚euer‘ Gott der Gerechten wollte es offensichtlich anders.

Mike, mit 11, 12 Jahren
Manchmal gerät man im Leben in Situationen, so wie die Mutter Jesu, verehrte Jungfrau Maria, die wahrscheinlich durch ihr Ohr das göttliche Ejakulat in ihre Gebärmutter eingepflanzt bekam. Über zwei Milliarden Christen können sich nicht irren und glauben die Mär von der Menschwerdung des späteren ‚Balken-Jupp‘. Durch meinen Freund Bernd T. hatte ich häufiger auch Kontakt zu seinem zwei Jahre älteren Bruder Manfred. So ergab es sich, ich war gerade 13 geworden, als er mich bei seinen Ladendiebstählen hin und wieder als Komplize einsetzte. Da hatte ich noch kein richtiges Unrechtsbewusstsein, zumal er von mir ja nicht erwartete, dass ich Dinge selbst stehlen sollte. Ich musste nur vor den Läden Schmiere stehen, und wenn Gefahr in Verzug war ihn durch Husten oder Räuspern warnen. Anfangs bestand seine Beute nur aus Süßigkeiten, Getränken und Obst. Ehrlich gesagt: ich bewunderte ich ihn für seinen Mut, seine Dreistigkeit und sein Geschick.
Im Sommer sagte ich ihm mal beiläufig, dass ich mir wünschte, dass mein Drachen im bevorstehenden Herbst von allen am höchsten steigen sollte. Ich dachte mir nichts dabei, als er wenige Tage später mit mir ein Schreibwarengeschäft auf der Bahnhofstraße in Voerde aufsuchte. Wir gingen in den Laden, ich stand wie immer Schmiere und Manfred übergab der Kassiererin völlig abgebrüht das Geld für ein Groschenprodukt. Über dieses Eigentumsdelikt bewahrte ich Stillschweigen. Nicht aus Angst vor Prügel, sondern aufgrund des ungeschriebenen Gesetzes, niemals jemanden aus unserem Freundeskreis zu verraten. Später, an unserer Bude angekommen, kramte er unter seinen Klamotten alles aus, was man so für den Drachenbau benötigt. Ich schaute ihn ungläubig an, als er mir die Sachen ohne Kommentar schenkte. Jedenfalls flog mein Drachen im Herbst am höchsten, bestimmt 250 Meter. Als Manfred jedoch anfing, Spirituosen und Zigaretten zu stehlen, zog ich mich mit fadenscheinigen Argumenten von ihm zurück. Manfreds kriminelle Aktivitäten wie Raub, Diebstahl und schwere Körperverletzung brachten ihn mit 16 Jahren zum ersten Mal hinter Gitter. Als wir uns Jahre später, ich war Mitte 20, zufällig wiedersahen, hatte er bereits über fünf Jahre Haft auf seinem Ganovenkonto.
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Wie versprochen, möchte ich etwas ausführlicher über meine Pubertät berichten, die ich nicht als Krankheit, sondern als zweiten wichtigen Wendepunkt, als zweiten Siebenjahreszyklus in meinem jungen Leben empfunden habe. Sie dauerte nach meiner Erinnerung etwa von 1966 bis 1968. Ich bin bis heute noch davon überzeugt, dass ich während meiner biologischen Übergangsphase bis zur Geschlechtsreife, zur Freude meines sozialen Umfeldes, kein typisches pubertäres Verhalten an den Tag gelegt habe. Die in dieser sensiblen Lebensphase bei Jungen üblichen Verhaltensauffälligkeiten wie Aggressivität, Stimmungsschwankungen, Machtdemonstrationen, Schulprobleme, hochnotpeinlicher Körpergeruch, Antriebslosigkeit oder Schlafstörungen blieben mir und der Allgemeinheit, soweit ich mich erinnern kann, weitgehend erspart. Den körperlichen Veränderungen wie Stimmbruch, Bartwuchs, fettigen Haaren, der Chaos-Phase im Gehirn, Reifung der Geschlechtsorgane und der ersten Ejakulation maß ich keine besondere Bedeutung bei. Die Zunahme der Muskelmasse und gelegentliche nächtliche Krämpfe in den Beinen führte ich auf meine sportlichen Aktivitäten, das Schwimmen, zurück und nicht auf den Wachstumsschub.
Während dieser Zeit musste ich dank meines exzellenten Erbguts keine medizinischen, pflegerischen oder kosmetischen Eingriffe zur Beseitigung der oft bei pubertären Jungen auftretenden Akne oder eine Penisvergrößerung durchführen lassen. Irgendwie war das Thema zwar da, aber für mich damit auch schon wieder erledigt. Während des Turnens, Schwimmens und bei anderen Gelegenheiten habe ich natürlich bemerkt, dass ich zur Gruppe der Frühpubertären gehörte. Aber ich habe nicht viel darüber nachgedacht, geschweige denn mit jemandem darüber gesprochen. Aus meiner Sicht war es etwas völlig Normales. Manche erleben es früher, andere später. Kein Drama. Dass ich in der Pubertät war, merkte ich eher an den dummen Sprüchen meiner buckligen Verwandten und anderer Erwachsener: „Mein Gott, Junge! Was bist du groß geworden!“ Ich antwortete in der Regel mit: „Warum? Sollte ich schrumpfen“? Die dämlichste aller Fragen war: „Hast du schon eine Freundin?“ Warum hat mich nie jemand gefragt, ob ich nicht schon einen Freund habe?
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Die Fummelbunker waren oft nur mit schummriger Beleuchtung, provisorischen Sitzgelegenheiten und selbstgebastelten Lichtorgeln ausgestattet. Zigarettenqualm, verschwitzte Körper, Stimmengewirr und Musik sorgten bei den Partys für eine Atmosphäre, wie wir sie erst einige Jahre später in den Zappelbuden rund um Voerde wiederfanden. Auf einem Kassettenrekorder konnte jeder seine original bespielten oder selbst zusammengestellten Kompaktkassetten >in miserabler Tonqualität< abspielen. Zur Musik der Stones, Monkees, Kinks, Beatles, Beach Boys und was damals sonst noch so populär war, gab jeder durch seine mehr oder weniger rhythmischen Bewegungen, die oft wie epileptische Anfälle aussahen, sein Bestes.
Für den Fall der Fälle hatte der eine oder andere Lümmeltüten dabei. Da den meisten das Geld für Kondome fehlte, kam es durchaus vor, dass bereits benutzte Pariser erst gründlich ausgewaschen, getrocknet und dann mit Körperpuder oder Vaseline überzogen, wiederverwendet wurden. Und sei es nur, um sich beim Masturbieren einen zusätzlichen Lustgewinn zu gönnen. Heute würde man dieses Verfahren als nachhaltig bezeichnen. Die Älteren unter uns ließen auch schon mal die Bier- und Schnapsflasche und den einen oder anderen Joint kreisen. Viele von uns lernten an diesen Orten nicht nur das rhythmische Tanzen zu Beatmusik, das Knutschen, den Umgang mit Haschisch, sondern auch die knallharte Realität weiblicher Rundungen kennen. Wobei es in den allermeisten Fällen bei der sexuellen Stimulation blieb, nicht aber bei der geschlechtlichen Vereinigung. Petting statt Pershing >US-Raketen mit Atomsprengköpfen< lautete damals die Devise.
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Erst jetzt, am Ende des zweiten Kapitels meiner retrospektiven Erinnerungen, frage ich mich, obwohl ich ein unschuldiges Heimkind war >mit den typischen Symptomen des Hospitalismus<, warum ich in meiner ‚neuen Welt‘ wieder missachtet, schikaniert, angegriffen, geärgert, diskriminiert und ausgegrenzt wurde. Mit Ausnahme von Mutter, Oma Dine und im begrenzten Umfang auch durch Karl-Heinz. Die gefühlte Zurückweisung meiner Person erfolgte zuerst durch die engsten Verwandten mütterlicherseits, den Erwachsenen in meiner Nachbarschaft und später auch von einigen Lehrern. Warum diese Ablehnung, die manchmal mit aggressivem und übertriebenem Verhalten einherging? Lag es an der Nachkriegszeit? An den Vorurteilen, die es damals noch gab? An den sozialen, religiösen, wirtschaftlichen und politischen Veränderungen der 50er und 60er Jahre? Bei der Frage nach den Gründen für ihr Verhalten klammere ich bewusst das Verhalten der Kinder in meiner heutigen Umgebung aus. Sie sind in meinen Augen nur ein Spiegelbild ihrer eigenen Erziehung und Umwelt und damit genauso unschuldig wie ich es war. Dennoch ist es ein unangenehmes Gefühl, das ich nie ganz abschütteln konnte.
Hinweis:
Heute, als Mittvierziger, der die Weisheit nicht mit Löffeln gefressen hat und schon gar nicht mit dem goldenen Löffel im Mund geboren wurde, bin ich zu der Erkenntnis gelangt, dass es für alle Erziehenden dieser Welt eine ebenso einfache wie geniale Formel gibt: Vorbild + Liebe = Erziehung. Meine Überzeugungen beruhen nicht auf >oft dubiosen< wissenschaftlichen Erkenntnissen, sondern allein auf meinen langjährigen Beobachtungen und Lebenserfahrungen. Die weiterführenden Gedanken, die sich beim Schreiben dieser Biografie ergeben haben, habe ich im Laufe der Jahre in schriftlicher Form aufbewahrt und unter ‚Gedankensplitter II‘ im folgenden Kapitel zusammengefasst.
Zeit ist nur das, was man von der Uhr abliest.
Ich betone, dass es mir bei meinen zahlreichen Ausführungen nicht darum geht, die Dinge, die unser aller Leben betreffen, nur zu kritisieren und in den Schmutz zu ziehen. Vielmehr möchte ich den Ursachen >Wurzeln< auf den Grund gehen, um dann über den einen oder anderen geeigneten Lösungsansatz nachzudenken. Ich bitte alle Eltern vorab um Entschuldigung, dass ausgerechnet ich es als offen schwul lebender Vater wage, meine Einstellungen zu Erziehungsfragen über die Unterschiede zwischen meiner späten Kindheit und frühen Jugend und der ‚Jugend von heute‘ zu äußern. Ich würde gerne wissen, warum stattdessen niemand die ‚Eltern von heute‘ und ihre oft missratene >V<erziehungsmethodik kritisiert. Schließlich sind ihre Kinder >hoffentlich< das wundervolle Resultat ihrer Liebe und das Spiegelbild ihres eigenen Tuns und Unterlassens. Ich denke, dass es nicht richtig ist, sich negativ über das Verhalten von Kindern und Jugendlichen zu äußern. Vielleicht wäre es sinnvoller, sich einmal an die eigene Nase zu fassen? Ich habe bei der Erziehung meiner eigenen Kinder sicherlich nicht alles richtig gemacht, aber vielleicht kann ich ja trotzdem ein paar hilfreiche Anregungen zu der einen oder anderen Erziehungsfrage geben.
Bei aller mehr oder weniger großen Freude über die Geburt eines Kindes ist den wenigsten bewusst, dass jeder von uns schon lange vor seiner Geburt die Welt verändert. Sei es durch sein Handeln oder durch sein Nichthandeln. Gleichzeitig ist es aber auch der Beginn einer Reise durch das Leben bis hin zum unausweichlichen Tod. Mir graut davor, wenn ich nur daran denke, mit welchen zukünftigen wirtschaftlichen und politischen ‚Führungseliten‘ wir leben dürfen, wenn deren schwangere teutonische Bruthennen die von christlichen Hilfswerken gesteuerten und manipulierten ‚Babylotsinnen‘ in Anspruch nehmen. Diese nehmen, selbstverständlich auch auf Kosten homosexueller Unterhaltsverweigerer und unchristlicher Steuerpflichtiger, bereits vor der Geburt Einfluss auf die Entwicklung der Kinder. Vaterunser, Hosianna und Halleluja! Warum nicht >neben der rechtzeitigen Sicherung eines Krippenplatzes für das ungeborene Kind< gleich über einen Terminvereinbarungsbevollmächtigten einen solchen beim nächstgelegenen Kinderpsychotherapeuten ausmachen?

Vater und ich – Camping ‚Lido de Jesolo‘ / Italien 1966
Insgesamt sehen sich die Babyboomer als eine recht zufriedene Generation, die den Kalten Krieg, den Höhepunkt des Wirtschaftsbooms der Nachkriegszeit bis 1966, den Vietnamkrieg, den ersten Ölpreisschock 1973 und die erste bemannte Mondlandung 1969 erlebt hat. Im Allgemeinen werden sie als kritisch, kreativ, ehrgeizig, zielstrebig, ausdauernd, konservativ, aber auch friedlich beschrieben. Als Schüler und Studenten waren die Boomer maßgeblich an der Entwicklung der Friedens- und Umweltbewegung beteiligt. Übrigens war ich schon 1969, also mit 14 Jahren, bei einer Großdemonstration in Düsseldorf dabei. Wir protestierten gegen den Bau eines Steinkohlekraftwerks ohne Rauchgasreinigung direkt am Rhein in Voerde. Mit Erfolg: Die Dreckschleuder wurde 54 Jahre später für viel Geld abgerissen. Ohne uns gäbe es heute zum Beispiel keinen PC, kein Smartphone, keine Techno-Musik, keine Diskotheken, keine DVDs, keine Grünen, keine gelben Grinsemännchen und keine Datenautobahnen. Es ist bedauerlich, dass meine Generation durch den besorgniserregenden Klimawandel, die enorme Staatsverschuldung, das marode Rentensystem, Kriege, die negativen Folgen der exzessiven Desinformation in den sozialen Medien und viele andere Versäumnisse mitverantwortlich ist für den Generationenkonflikt und den damit oft verbundenen ‚Weltschmerz‘ der heutigen Jugend.
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Mir graut bei dem Gedanken an künftige Entscheidungsträger, deren spät gebärende, künstlich befruchtete 44-jährige Frau Mama in aller Öffentlichkeit ihre Euter auspackt, um ihr inzwischen vier-, fünf- oder sechsjähriges zweibeiniges Kälbchen an den Zitzen saugen zu lassen. Oder vor dem Abteilungsleiter, der als inkontinenter Analphabet bis kurz vor der Einschulung >oder darüber hinaus< in Wegwerfwindeln und daumenlutschend Mamas Windeltonne füllte. Das von der Mutter unbeaufsichtigte Kind, das sich bei einem Sturz beide Knie aufgeschlagen hat und wie am Spieß schreit, während die Mutter geistesabwesend direkt daneben stehend minutenlang unbekümmert mit ihrem mobilen Zweithirn beschäftigt ist?
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Die >fragwürdige< Bildungspolitik der Nachkriegszeit zielte darauf ab, kinderreiche Familien zu fördern. Die meisten Eltern meiner Klassenkameraden hatten kein Interesse daran, ihren Söhnen und Töchtern den Zugang zu höherer Bildung zu ermöglichen, da sie als Arbeitskräfte und für ihre Altersversorgung fest eingeplant waren. Einige von ihnen wären sicher froh gewesen, wenn sie Eltern gehabt hätten, die ihre schulische Ausbildung ernster genommen, ihr Lernen gefördert und später auch finanziell unterstützt hätten. Ich möchte mir gar nicht ausmalen, wie viel geistiges und wirtschaftliches Potenzial der BRD durch die damals schon verfehlte Bildungspolitik verloren gegangen ist. Die meisten Mädchen wurden während meiner gesamten Volksschulzeit von den Eltern und der ‚Altnazi-Lehrerschaft‘ noch weitgehend unwissend >ungebildet< gehalten. Ihr ‚Verwendungszweck‘ bestand später hauptsächlich darin, als Frauen sparsam mit dem Haushaltsgeld umzugehen, möglichst einmal im Monat die Beine breitzumachen, dem Manne untertan zu sein und sich um die Brut und den Haushalt zu kümmern.
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Woran ich mich aus meiner Kindheit und Jugend weder in meinem sozialen Umfeld noch in Zeitungen oder im Fernsehen erinnern kann, sind Berichte über Tötungen und lebensbedrohliche Verletzungen von Kindern an Kindern. Die Verbreitung von gewaltverherrlichenden Videos über das Internet spielt dabei heute sicherlich eine große Rolle. Niemand von uns wäre damals in einer analogen Welt auf die sinnbefreite Idee gekommen, anderen in epischer Breite den gestrigen Tagesablauf, eventuelle Verdauungsprobleme oder die Konsistenz des morgendlichen Stuhls zu schildern. Wir klingelten, riefen oder pfiffen einfach lautstark an den Haustüren unserer Spielkameraden, die meist schon in den Startlöchern standen. Wir konnten nicht alle drei Minuten zum elektronischen Laberknochen greifen, um uns über Belanglosigkeiten auszutauschen, wie die heute zu beobachtenden Lebewesen der aus dem TÜV-geprüften, stufenlos höhenverstellbaren, gepolsterten Premium-Laufstall entwachsenen Generation des Handhochfrequenzfernsprechgerätes.
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Damit komme ich zu einem weiteren meiner vielen Reizthemen: der mit äußerster Vorsicht zu genießenden Berufsgruppe der ‚Plüschologen‘. Es entspricht meinem Wahrheitsverständnis, dass ich aus meiner Zeit in der Schattenwelt des Höllengesindels der ‚Schwestern vom armen Kinde Jesus‘ jahrzehntelang nur sehr, sehr wenige und zudem durchweg negative Erinnerungen an meine fünfjährige Isolationshaft hatte. In dieser Zeit hatte ich mir einen für Außenstehende undurchdringlichen Panzer meiner kindlichen Seele zugelegt. Mit meiner so erworbenen Verschlossenheit trieb ich in den folgenden Jahren die Zunft der Daseinsberater und Psychotherapeuten oft ungewollt an den Rand des Wahnsinns. Wobei sich manche Vertreter dieses Berufsstandes gar nicht so sehr ändern müssen.
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In einem anderen Fall, ich war gerade 14 Jahre alt, erhielten meine Eltern einen Gerichtsbeschluss. Darin wurde ich aufgefordert, mich auf Anordnung eines Richters bei einem darin genannten Hirnklempner zur Begutachtung vorzustellen. Dieser Aufforderung kam ich nach. Nach dem Gespräch, das keine 30 Minuten dauerte, sagte mir der gute Mann, dass ich ihn überfordern würde! Ich ihn! Mit 14 Jahren! Vielleicht lag es nur daran, dass der gute Mann mit einem offensichtlichen Tourette-Syndrom, das sich bei ihm in unkontrollierten Kopfbewegungen, Grimassen, Körperzuckungen und der Imitation exotisch klingender Tierlaute äußerte, mich beim besten Willen nicht auf sich hat aufmerksam machen können? Mit diesem Krankheitsbild würde ich an seiner Stelle beruflich alles werden wollen, aber sicher kein Kinder- und Jugendpsychoonkel.
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Statt den Patienten in der Psychiatrie Raum, Zeit und ein offenes Ohr zu geben, werden sie allzu oft mit süchtig machenden Antidepressiva, Psychostimulanzien, Neuroleptika, Schlafmitteln, Stimmungsaufhellern und Antidementiva bis zur Entlassung ruhiggestellt. Die finanzschwache Pharmaindustrie reibt sich die Hände. Und dann? Werden dem immer noch psychisch Kranken genau die gleichen Medikamente verschrieben >mit der Bitte um Einnahme nach Vorschrift<. Die Behandlung der auftretenden Nebenwirkungen wie Veränderung des Blutbildes und der Leber-, Magen-, Darm- und Herzwerte dürfen dann die Fachärzte übernehmen. Die wiederum was >zur Freude der Pharmariesen< tun? Weitere Medikamente verschreiben, die wozu führen? Zu weiteren Nebenwirkungen. Zum Glück gibt es für die Opfer einer falschen und oft völlig unsinnigen psychotherapeutischen Behandlung noch die zahlreichen psychosomatischen Kliniken. Das Karussell der skrupellosen, industriellen Pillendreher muss sich schließlich zum Wohle der armen Aktionäre weiter drehen.
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Beim Schreiben der bisherigen Kapitel bin ich mehrfach auf die hirnrissige Ideologie der heutigen Nazis gestoßen. Um gegenwärtige Ereignisse besser zu verstehen, habe ich mir bereits vor geraumer Zeit eine Vorgehensweise angewöhnt, die auf dem Kausalitätsprinzip basiert: Ursache und Wirkung. Im Folgenden möchte ich insbesondere die mir nachfolgenden Generationen vor den angeblichen ‚Heilsbringern‘ des nationalsozialistischen braunen Sumpfes warnen, wobei ich mich auf Hitler und seine Entourage beziehe. In Anbetracht meiner bisherigen Lebensführung in einem demokratisch regierten Land, meiner zahlreichen Reisen in verschiedene Länder dieser Erde >darunter einige sozialistische Bruderländer< sowie meiner kritischen Haltung gegenüber Populismus, Reichsbürgern und Neonazis fordere ich diese Gruppierungen auf, die Bundesrepublik Deutschland zu verlassen und ihre kranken Ideologien künftig in despotisch regierten Ländern zu verbreiten. Ich denke dabei an Länder wie Nordkorea, Syrien, die Republik Tschad, Kuba, Russland, den Jemen und viele mehr. Aber gebt vorher eure deutsche Staatsbürgerschaft ab!
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Wer auch nur mit dem Gedanken spielt, sich rechtsextremen Gruppierungen anzuschließen, sollte sich folgernder Tatsachen bewusst sein: Millionen und Abermillionen Kinder erlebten zwischen 1939 und 1945 eine Kindheit, die geprägt war von Luftangriffen, Hunger, Kälte und Todesangst. Vorausgegangen war eine Gehirnwäsche, die den deutschen Kindern den Krieg als großen Abenteuerspielplatz vorgaukelte. Hitler wollte mit seinen wahnsinnigen Vorstellungen ein deutsches Weltreich schaffen und die in seinen Augen ‚minderwertigen Rassen‘ vernichten. Am Ende waren 60 Staaten wegen eines einzigen Geisteskranken in diesen Krieg verwickelt. Weltweit starben etwa 60 Millionen Soldaten und vor allem Zivilisten. Die meisten davon, schätzungsweise 26 Millionen, waren Russen. Hitler und seine Gefolgsleute schickten etwa 5,2 Millionen deutsche Soldaten, über eine Million deutsche Zivilisten, sechs Millionen Juden und über 250.000 Sinti und Roma in den sinnlosen Tod.
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Als Kind, das den Fängen ehemaliger Nazibräute entrissen worden war, fielen mir in meiner späten Kindheit hier und da Kriegsversehrte auf, denen Beine und/oder Arme amputiert worden waren. Einen Zusammenhang zwischen ihren offensichtlichen Verletzungen und den Kriegserlebnissen kannte ich da aber noch nicht. Auch einige Väter meiner Spiel- und Schulkameraden waren ehemalige Angehörige der Wehrmacht, darunter auch Kriegsversehrte und Spätheimkehrer. Aber es war, wie in den allermeisten Familien, ein Tabu, mit ihnen darüber zu sprechen. Mir war aus den mir bekannten Personenkreisen nie zu Ohren gekommen, dass sich jemand dazu bekannte, überzeugter Nationalsozialist gewesen zu sein und Gräueltaten begangen zu haben. Neben dem Wiederaufbau des zerstörten Deutschlands waren es oft die alleinstehenden Kriegswitwen und alleinerziehenden Mütter, die zwei, drei und mehr Kinder unter meist erbärmlichen Bedingungen zu braven Staatsbürgern und ‚Arbeitssklaven‘ erzogen.
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Bei den heutigen Neonazis, die sich zum Teil als Märtyrer der nationalsozialistischen Ideologie sehen, gehe ich davon aus, dass ihr historisch-politisches Bildungsniveau zu 97 % bei einem IQ von höchstens 80 bis 89 >unterdurchschnittlich intelligent< und 70 bis 79 >geistig zurückgeblieben< liegen dürfte. Diese Begriffslegastheniker ohne kritisches Wahrnehmungsvermögen flüchten sich in die Arme der verbleibenden 3 % an Rädelsführer, deren Intelligenzquotient gerade noch die 100er-Marke erreichen dürfte. Als ‚Endlösung‘ für dieses Gesocks könnte ich mir gut vorstellen, dass der Fall einer zehn Kilogramm schweren Enzyklopädie aus fünf Metern Höhe auf ihre glattrasierten Schädel durchaus hilfreich sein dürfte. Ich erlaube mir, dieses zweite Kapitel meiner Gedankensplitter mit einem Zitat des indischen Freiheitskämpfers Mahatma Gandhi >1869 bis 1948< abzuschließen: „Bevor ein Kind mit dem Alphabet und anderem Wissen von der Welt befasst wird, sollte es lernen, was die Seele ist, was Wahrheit und Liebe sind, welche Kräfte in der Seele schlummern. Wesentlicher Teil der Bildung müsste sein, dass das Kind unterwiesen wird, wie man im Lebenskampf Hass durch Liebe, Unwahrheit durch Wahrheit, Gewalt durch eigenes Leiden besiegt.“
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