= L E S E P R O B E N =

 > Geschichten schreiben ist eine Art, sich das Vergangene vom Halse zu schaffen. <

Kapitel 3: Krisen, Umbruch & Veränderungen >1969 – 1976< 

Mit dem Ende meines letzten Volksschuljahres 1969 an der Alexanderstraße ging für mich zugleich die schöne Zeit meiner zweiten, diesmal unbeschwerten Kindheit viel zu schnell vorbei. Ich wollte doch noch so viel nicht erlebte kindliche Lebensfreude und Jahre der Sorglosigkeit nachholen. Doch mir war schon früh klar, dass man Versäumtes nicht nachholen kann. Irgendwie hatte ich das Gefühl, zu schnell erwachsen geworden zu sein. Dabei hatte ich meine Jugend noch vor mir. 

London, Hyde-Park, 1966

Vor meinem geistigen Auge zogen Bilder einer späten Kindheit mit stabilen und belastbaren Beziehungen zu anderen Menschen vorbei. Es war eine Zeit der Fröhlich- und Leichtigkeit, der Geborgenheit, der Neugier und des Abenteuers, der emotionalen Stabilität, der Identitätsfindung, der Anerkennung, der ersten sexuellen Erfahrungen und der Selbstständigkeit. Was würde mir die Zukunft bringen? In den 60er Jahren und darüber hinaus habe ich insgeheim das Leben meiner Eltern, meiner Verwandten sowie der Eltern von Bekannten, die im öffentlichen Dienst beschäftigt waren, genau beobachtet. Ich habe beschlossen, diesen Weg der beruflichen und privaten Eintönigkeit auf keinen Fall zu gehen. Wie sah das Leben der meisten Menschen aus diesem kleinbürgerlichen Personenkreis aus?

Erst brav die Schulbank drücken, dann in eine Ausbildung stürzen. Danach folgte der heilige Dreiklang aus Beruf, Sparbuch und obligatorischer Ehe. Kinder? Maximal zwei. Während das Darlehen fürs Haus abbezahlt wurde, wurde die Gartenzwerg-Sammlung liebevoll gepflegt und in Reih und Glied aufgestellt. Einmal die Woche ging es zum Kegeln und einmal im Jahr zur Königsdisziplin, dem Schützenfest. Der Sommerurlaub führte selbstverständlich an den Wörthersee, und alle vier Jahre kam ein nagelneuer Opel Rekord >später ein Benz< in die Auffahrt. Zur Silberhochzeit wurde der Hochzeitstanz aus der Mottenkiste geholt.

Irgendwann hieß es dann: Alt werden, den Gartenzwergen zum Abschied winken und ganz bescheiden von der Bühne des Lebens abtreten. Und die Kinder? Sie spielen das gleiche spießige Spiel wie ihre Eltern. Und warum? Weil sie nicht anders können oder wollen? Mir war schon früh klar, dass ich kein solch monotones Leben führen will. Nicht jeden Tag die gleichen Wege, die gleichen Gesichter, die gleichen Abläufe, die gleiche Arbeit, die gleiche Unterforderung. Kurz: Die erlebte Monotonie von Maria im Tann schrie nicht nach Wiederholung!

In dieser Lebensphase suchte ich unbewusst die Nähe zu den etwas älteren Jungs. Zu denen, die schon Moped fuhren, die sich von ihren stockkonservativen Eltern nichts mehr sagen ließen, die ihren eigenen Modegeschmack nicht nur erfanden, sondern auch durchsetzten und damit die damalige Gesellschaft schockierten. Eine rebellische Jugend, die sich die Haare wachsen ließ, Joints rauchte und althergebrachte sexuelle Normen über den Haufen warf. Jugendliche, die sich wie ich nicht der Diktatur der Konsumindustrie und schon gar nicht die einer Hochleistungsgesellschaft unterwarfen.

Halbwüchsige, von den Eltern abwertend Halbstarke genannt, deren Interessen nicht materiell, nicht alltäglich waren. Junge Menschen, die sich nach einem anderen, lauten und eigenen Weg der gesellschaftlichen Teilhabe sehnten. Unpolitische Individualisten, die nicht gleich rot wurden, wenn sie in der Öffentlichkeit geräuscharm eruktieren >nicht zu verwechseln mit ejakulieren!< und flatulieren mussten. Jungs, die sich trotz der vom Elternhaus konservativ geprägten Werte früh und allmählich davon abnabelten.

Um ihrer natürlichen Jugend Ausdruck zu verleihen, brauchten sie keine Muckibuden, keine Produkte zur Erhaltung ihres natürlichen Aussehens, Tätowierungen, Sonnenstudios und schon gar keine ständig wechselnden Klamotten, die ihnen ihre Eltern finanzierten. Ihr größter Luxus war die Freiheit, die sie nach einem wohlverdienten Feierabend oder nach der Schule genießen durften. Ich war auf der Suche nach einer eingeschworenen Gemeinschaft, in der ich mich auf wenige enge, loyale und vertrauenswürdige Freundschaften verlassen konnte. Mit denen ich eine schöne Zeit verbringen wollte, in der wir uns in unserer Freizeit von den Zwängen und Pflichten des Alltags befreien konnten. Insgesamt eine wundervolle Zeit, die wir nicht einsam vor dem Fernseher verbracht haben, die wir nicht mit dem Austausch tausender unwichtiger Nachrichten über ein nervtötendes Handy oder mit einer selten dämlichen Beschäftigung in manipulativen und asozialen Netzwerken vergeudet haben.

Hendrik wohnte mit seiner alleinerziehenden Mutter ebenfalls in Voerde im Erdgeschoss eines alten Backsteinhauses an der Ecke Jägerstraße/Akazienweg. Rita lebte mit ihren Eltern im Obergeschoss des gleichen Gebäudes. Wegen seiner offensichtlichen körperlichen Behinderung und seines uns allen überlegenen Intellekts wurde er in der Handelsschule von den meisten Mitschülern, anfangs auch von mir, gemieden. Das änderte sich im wahrsten Sinne des Wortes schlagartig, als ein Mitschüler es offensichtlich lustig fand, ihm während einer Pause auf dem Schulhof ein Bein zu stellen, woraufhin Hendrik stürzte.

Keine Minute später bezahlte der Übeltäter mit einem Nasenbeinbruch, einem blauen Auge, Schürfwunden und einigen Prellungen. Irgendwann hört auch für mich der Spaß auf. Im Rückblick auf diese körperliche Auseinandersetzung kann ich mir beim besten Willen nicht erklären, warum ich angesichts von Ungerechtigkeit und Gewalt, die sich vor meinen Augen abspielt und an körperlich Unterlegenen und Wehrlosen verübt wird, so explodieren kann. In solchen Momenten brennt bei mir die Sicherung durch. Auch das ist wahrscheinlich noch ein Relikt aus meinen Heimjahren.

Womit ich bei den besonderen Leistungen dieser stets adrett gekleideten Dame der alten Schule angelangt bin: meine Klassenlehrerin, Fräulein Paul. Sie bestand auf der Anrede Fräulein, obwohl sie vom Alter her meine Großmutter hätte sein können. Neben ihrer eleganten Erscheinung, ihrer zuvorkommenden Art, ihren guten Manieren, ihrer modernen Einstellung und ihrem Respekt gegenüber Jugendlichen zeichnete sie sich dadurch aus, dass sie ein Gespür für ihre Problemschüler zu haben schien. Zu diesen zählte sie offensichtlich auch mich. So hatte sie es sich zur Aufgabe gemacht, meine schulischen Leistungen in eine Richtung zu lenken, die ihrem Idealbild entsprach und zu dem von ihr gewünschten Erfolg führen würde. Nach einer diskreten Beobachtung meines Verhaltens über mehrere Wochen hinweg bat sie mich schließlich zu einem Vieraugengespräch.

Allein diese Sonderbehandlung fand ich zunächst etwas befremdlich, da es so etwas in den Schuljahren zuvor kein einziges Mal gegeben hatte. Im Laufe des Gesprächs erklärte sie mir, dass ich auf sie nicht den Eindruck von Minderintelligenz machen würde, sondern dass ich mich selbst durch meine mangelnde Motivation in meinen schulischen Leistungen ausbremsen würde. Womit sie in meinem Fall voll ins Schwarze getroffen hatte. In einem zeitnah anberaumten Folgegespräch schilderte ich ihr unter anderem in Kurzform meine Herkunftsverhältnisse, soweit sie mir zu diesem Zeitpunkt bekannt waren. Über meine Erlebnisse aus den Kinderheimjahren ging ich nonchalant hinweg. Nach diesem Gespräch fühlte sie sich berufen, mir bei der Überwindung meiner schulischen Lerndefizite zu helfen. Dankbar und erstaunt nahm ich dieses kostenlose Angebot an.

Wir schreiben das Jahr 1971: Willy Brandt ist Bundeskanzler, die erste E-Mail wird verschickt, ein halber Liter Bier kostet umgerechnet 37 Eurocent, im kanadischen Vancouver gründen Friedensaktivisten die Umweltschutzorganisation Greenpeace, erstmals wird in der BRD das Wort des Jahres >es lautete aufmüpfig‘< gewählt und Bundesinnenminister H-D. Genscher ordnet an, dass alle unverheirateten weiblichen Beschäftigten in verantwortlichen Positionen mit Frau statt mit Fräulein anzusprechen sind. Coco Chanel stirbt und in China fällt ein Sack Reis um. Und ich?

Mit 16 hatte ich die Handelsschule so gut wie hinter mir. Dutzende Bewerbungsschreiben, Lehrstellenmangel, feste und maximale Arbeits- und Pausenzeiten, Vorpraktikum, ärztliche Erstuntersuchung, Anspruch auf geeignete Ausbilder, Mindestlohn und Tarifverträge blieben mir als Berufsanfänger >zum Glück< erspart. Dafür hieß es damals noch: Lehrjahre sind keine Herrenjahre. Das heißt, man hatte sich während der Ausbildung unterzuordnen. Leider ist das Unterordnungs-Gen bei den jungen Leuten im Laufe der Jahre verlustig gegangen. Mir hat es jedenfalls mein ganzes Leben lang nicht geschadet. Da ich der Überzeugung bin, dass nur derjenige dominieren kann, der auch in der Lage ist, sich unterzuordnen. Das ist jedoch nicht mit Unterwerfung zu verwechseln!

Meine erste Ausbildungswoche stand allerdings unter keinem guten Stern. Dazu muss ich sagen, dass der Betrieb in unmittelbarer Nähe der damals nach Fäkalien stinkenden Emscher lag. Um zu verhindern, dass größere Gegenstände in den Rhein gelangten, war an dieser Stelle ein Wehr errichtet worden. Dieses diente quasi als grobmaschiges Sieb. Als ich am zweiten Tag mit dem Fahrrad immer noch auf der Suche nach dem kürzesten Arbeitsweg war, gelangte ich über einen Feldweg zum Stauwehr und hielt für eine Zigarettenpause direkt auf der schmalen Fußgängerbrücke, die über die Emscher führte. Bei dieser Gelegenheit blickte ich zufällig hinunter auf den bestialisch stinkenden Fluss und was sah ich?

Direkt unter mir trieb eine Wasserleiche, männlich, wie sich später herausstellte. Als Rettungsschwimmer war mir sofort klar, dass diesem Mann nicht mehr zu helfen war. Kurz darauf informierte ich vom Büro aus die Polizei. Von Arbeitskollegen erfuhr ich, dass mein grausamer Fund kein Einzelfall war und auch nicht bleiben würde. Wenn ich mich umbringen wollte, dann doch nicht in dieser Kloake! Natürlich konnte nicht ausgeschlossen werden, dass es sich bei der Leiche nicht um das Opfer eines Gewaltverbrechens handelte. Schließlich floss die Emscher durch einige Ruhrgebietsmetropolen, die damals wie heute als kriminelle Hochburgen bekannt und berüchtigt waren.

Mit 15, Terrasse am Elternhaus

Ich habe schon in jungen Jahren, mit 21, gemerkt, dass Geld nicht das ist, was mich wirklich glücklich macht. Natürlich ist es schön, wenn man beim Einkauf der Dinge des täglichen Bedarfs nicht auf den Preis achten muss, aber mit steigendem Einkommen steigen auch die Ausgaben proportional. Was ich damit sagen will: Wer 1.500 Euro netto im Monat verdient, hat auch nur diesen Betrag >sofern er sich nicht verschulden muss< für seine Ausgaben zur Verfügung. Aus eigener Erfahrung weiß ich: Wer 10.000 Euro verdient, hat am Monatsende genauso wenig Geld zur Verfügung wie im Beispiel mit den 1.500 Euro.

Der Unterschied besteht lediglich darin, dass sich der Besserverdiener eine edle Uhr für 1.000 Euro leisten kann und der Geringverdiener nur eine für 150 Euro. Dieses Rechenbeispiel gilt letztlich für alle Konsum- und Gebrauchsgüter. In späteren Jahren war es nicht das Geld, das mich unternehmerisch erfolgreich machte, sondern die Ideen dahinter. Mit ihnen gelang es mir 1981 und 1990, verbraucherunfreundliche und überteuerte Produkte der Branchenriesen in einem begrenzten Radius um meinen Firmensitz zum Wohle meiner Kunden deutlich zu verbilligen. Für mich war es ein Kampf wie David gegen Goliath.

An einem Samstagabend saßen wir mit einem halben Dutzend Kumpels im Zimmer des dicken Peter W., von dem jeder wusste, dass sein Tagesablauf nur aus Fressen, Saufen, Kiffen, Musikhören und Schlafen bestand. Die einzige anwesende Frau war Trümmerwalli, die direkt neben mir saß. Als ich schon reichlich Restblut im Alkohol hatte, Joints und Trips die Runde machten, flüsterte sie mir ins Ohr, dass sie schon seit Wochen total in mich verknallt sei und alles für mich tun würde. Aus Jux versprach ich ihr, wohl Ali’s Aussage im Hinterkopf, dass sie für mich anschaffen gehen könne. Statt sich mit dem Ausdruck tiefsten Entsetzens von mir abzuwenden, bekundete sie ernsthaftes Interesse daran, sich für mich dem horizontalen Gewerbe für die überwiegend türkische Kundschaft hinzugeben. Als sie mir bei unserer Unterhaltung zu nahe kam, machte ich ihr unmissverständlich klar, dass ich ihre Gefühle nicht erwidern könne und wolle. Ein Fehler, wie sich bald herausstellte.

Wie aus dem Nichts begann das Nilpferd plötzlich, hysterisch zu schreien und mit Selbstmord zu drohen. Mir wurde das ganze Theater zu bunt und so verließ ich, nichts Gutes ahnend, kurz darauf das Haus. Kaum auf dem Bürgersteig angekommen, sah ich, dass sie am offenen Fenster stand und drohte, sich in die Tiefe zu stürzen, wenn ich nicht sofort zurückkäme. Ich sagte im Vorbeigehen nur lapidar: „Dann spring doch“! Und tatsächlich sprang sie. Offensichtlich hatte sie im LSD-Rausch nicht gemerkt, dass sie sich im Erdgeschoss befand. Dumm gelaufen. Während sie draußen vor dem Fenster im Blumenbeet wie ein Maikäfer auf dem Rücken zappelte, ging ich kommentarlos und grinsend meiner Wege. Was dann geschah, erfuhr ich nur aus den späteren Erzählungen meiner Kumpels.

Meine ersten Erfahrungen mit illegalen, halluzinogenen Drogen machte ich bereits 1970, als ich gerade mal 15 war. Wie und warum es dazu kam, möchte ich im Folgenden erklären. Neben meinem Religions-Ressentiment, das sich insbesondere gegen die römischen Katholiban richtet, glaube ich, wie 80 % der Deutschen, nicht an Horoskope. Meine weise Oma Dine hat mir als Kind beigebracht, dass Glauben Nichtwissen bedeutet. Ungeachtet des mir fremdbestimmten Sternzeichens als Wassermann kann ich meine positiven Wesenszüge ohne Hokuspokus selbst definieren. Dazu gehören zum Beispiel Neugier, Hilfsbereitschaft, Aufrichtig-, Gesellig- und Zuverlässigkeit, Originalität, Kreativität, Einfühlungsvermögen, meine unbändige Freiheitsliebe, Apfelkuchen mit und ohne Sahne und ich vermisse heute Omas selbstgemachte Frikadellen. Viele meiner Abenteuer hätte ich nicht erlebt, wenn ich nicht besondere Eigenschaften hätte: meine unbändige Neugier und meinen beibehaltenen kindlichen Erkundungsdrang. Vor allem die Neugier auf >fast< alles Neue. Trotz meiner körperlichen Einschränkungen bin ich heute noch genauso neugierig und entdeckungsfreudig wie früher.

Die erste Tragödie traf diese Familie, als ihre 16-jährige Tochter R. >aus Pietätsgründen nenne ich ihren Vornamen nicht<, die ich nur vom Sehen kannte, am helllichten Tag in unmittelbarer Nähe ihres Elternhauses vergewaltigt und ermordet wurde. Der Tatort lag am Rande des Sternbuschs, eines kleinen Waldgebietes inmitten der Stadt Voerde. Dieser wird von der Bahnlinie Emmerich-Oberhausen, der Bahnhofstraße und dem Sternbuschweg begrenzt. Das Opfer befand sich in den frühen Morgenstunden auf dem Weg zur Arbeit, als der Täter an einer von allen Seiten gut einsehbaren Stelle zuschlug. Der Tatort befand sich nur fünf bis sechs Meter hinter einem der Tore des alten Bolzplatzes an der Bahnhofstraße.

Dieser Weg diente vielen Anwohnern als Abkürzung zum Bahnhof, sodass der Täter immer mit unerwartet vorbeikommenden Passanten rechnen musste. Zum Verhängnis wurde dem Täter, dass der ermittelnde Duisburger Kommissar etwa sechs Wochen nach der Tat zufällig den Tatort erneut inspizierte. Ihm fiel ein Mann auf, der sich etwa 80 Meter vom Fundort der Leiche entfernt verdächtig verhielt. Es heißt, dass es den Täter immer wieder an den Tatort zurückzieht. In diesem Fall stimmte das hundertprozentig. Nach dessen Festnahme stellte sich heraus, dass es sich um einen mehrfachen Familienvater aus Bocholt handelte. Als Verkaufsfahrer eines bekannten Direktvertriebs für Tiefkühlkost und Eis war seine Tarnung perfekt.

Mein erster VW-Bully, 1974

Nach diesen unglaublichen Geschichten erinnere ich mich gerade an ein kleines Missgeschick mit einer BMW-Isetta 250, im Volksmund Knutschkugel genannt, ein Rollermobil, eine Mischung aus Auto und Motorrad. Es gehörte einem Studenten, eine Ausnahme in dieser Arbeitersiedlung, zu dem niemand aus unserer Clique eine persönliche Beziehung hatte. Aus einer Laune heraus und unter Alkoholeinfluss beschlossen wir eines Nachts, unsere jugendlichen Kräfte an diesem Gefährt zu messen und dem Studi einen Streich zu spielen.

Und so hieß es: Vier Mann, vier Ecken und den rund 350 Kilogramm schweren Kleinwagen dem Blickfeld seines Besitzers entziehen. Am nächsten Tag erfuhren wir, dass wir durch unsere unbedachte Aktion ungewollt zum Totalschaden des Fahrzeugs beigetragen hatten. Nachdem der arme Student am Mittag sein gestohlen geglaubtes Auto hinter der nächsten Straßenecke entdeckt, eingestiegen und die Zündung betätigt hatte, löste er einen Vergaserbrand im Heck aus. Obwohl uns niemand auf frischer Tat ertappte, war es für uns Ehrensache, uns bei ihm als Verursacher zu melden. Den Zeitwert von 500 DM, den wir uns kameradschaftlich teilten, übergaben wir einige Tage später dem verdutzt dreinblickenden Opfer.

Apropos käufliche Liebe: In der prüden, von strenger katholischer Sittenlehre geprägten Gesellschaft meiner Zeit war es uns alles andere als freigestellt, uns an der Darstellung des menschlichen Geschlechtsaktes in Fotografie und Film zu erfreuen. Teils aus reiner Neugier, teils wegen des Drucks in der Leistengegend und weil wir auch nur Männer waren, zog es Teile unserer Clique an den Wochenenden gelegentlich in die Bordelle von Oberhausen, Duisburg oder Essen. Um meine mühsam aufgebaute Fassade als Hetero zu wahren, blieb mir nichts anderes übrig, als einige dieser Ausflüge mitzumachen. Dort angekommen, musste ich mein schauspielerisches Talent einsetzen, um meinen Kumpels nicht stattgefundene unzüchtige Handlungen vorzutäuschen. Tatsächlich habe ich noch nie in meinem Leben Geld für solche Dienstleistungen ausgegeben. Eine unserer Expeditionen führte uns ins Düsseldorfer Rotlichtmilieu. Dort passierte etwas, was mich wenig später zum Gespött meiner Begleiter machen sollte. Nicht in, sondern vor einem dieser Etablissements.

Ich wurde auf dem Bürgersteig von einer rassigen, dunkelhaarigen, lateinamerikanisch aussehenden Schönheit angesprochen, ob ich nicht Lust hätte, mit ihr ein wenig Spaß zu haben. Aufgrund der Situation blieb mir nichts anderes übrig, als ihr in einen dunklen Hausflur in unmittelbarer Nachbarschaft zu folgen. Nachdem ich ihre Brüste berührt hatte, griff ich ihr in den Schritt. Und? Völlig perplex hatte ich plötzlich männliche Genitalien in der Hand! Vom Dorf kommend, hatte ich keine Ahnung, dass es neben Mann und Frau noch ein drittes Geschlecht gibt. Völlig verblüfft zog ich meine Jeans hoch und lief panisch in die Arme meiner Freunde, die vor der Tür standen und auf aufgeilende Nachrichten warteten. Gerade als ich ihnen von dem Vorfall berichten wollte, öffnete sich die Haustür und das besagte Wesen der für mich unheimlichen Art trat heraus: perfekt frisiert, geschminkt, gekleidet und erhobenen Hauptes.

Augen- und Ohrenzeugen berichteten übereinstimmend, dass Gunnar ihn mehrfach wild gestikulierend aufgefordert habe, mit dem Unsinn aufzuhören, zumal sich seine Zigaretten und sein Feuerzeug im Boot befänden. Wolfgang ignorierte diese Warnungen und das Boot kenterte. Gunnar, und das ist das eigentlich Tragische an diesem vermeidbaren Unglück, war nur etwa fünf Meter vom rettenden Ufer entfernt, als er um sein Leben kämpfte. Und das alles vor den Augen Dutzender Badegäste, von denen keiner den Ernst der Lage erkannte. Als ein in der Nähe befindliches Patrouillenboot der DLRG am Unglücksort eintraf, war es für Gunnar bereits zu spät. Er starb im Alter von nur 20 Jahren. R.I.P. Nach diesem Unglück wandte sich Wolfgang, der sich seiner nicht wieder gutzumachenden Schuld bewusst war und später wegen fahrlässiger Tötung verurteilt wurde, von der Gruppe ab. Im Nachhinein habe ich mir schwere Vorwürfe gemacht, dass ich an diesem Tag nicht mitgefahren bin. Ich kenne die Gefahren, die von Baggerlöchern ausgehen, und als ausgebildeter Rettungsschwimmer hätte ich mit großer Wahrscheinlichkeit seinen sinnlosen Tod verhindern können.

Anlässlich seiner Beisetzung auf dem Kommunalfriedhof in Voerde, an der Wolfgang nicht teilnahm, ging ich anschließend, innerlich noch tief aufgewühlt und traurig, allein über den Totenacker. Mit Entsetzen stellte ich dabei fest, dass zu diesem Zeitpunkt bereits viele meiner Freunde und Bekannten allein auf diesem Friedhof ihre letzte Ruhestätte gefunden hatten. Ich selbst war zu diesem Zeitpunkt gerade mal 17 oder 18 Jahre jung. Jeder ihrer Grabsteine, an dem ich einen Moment verweilte, erinnerte mich an sie und ihre Todesursache. Es waren alles Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene, etwa 20 an der Zahl, von denen keiner seinen 22. Geburtstag hat feiern können. Junge Menschen, gestorben an Krebs, anhand von Drogen, ertrunken, erstickt beim Schnüffeln, verbrannt in Polizeigewahrsam, erwürgt von ihrem Mörder, an den Folgen von schweren Verkehrs- und Arbeitsunfällen, schweren Körperverletzungen und Selbsttötungen. Als ich so um die 21 Jahre alt war, riss diese unheimliche Serie von Todesfällen in meinem Bekannten- und Freundeskreis für mehr als zwei Jahrzehnte abrupt ab. Ich habe keine Antwort auf die Frage, warum Gevatter Tod in meiner Jugend so oft mein Begleiter war.

Es ging bergab, die Straße war sehr kurvig und forderte meine volle Aufmerksamkeit. Um den Sonnenstrahlen kurz zu entkommen, schaute ich in den Rückspiegel, schüttelte meinen damals noch nicht weises Haupt und blickte wieder verdutzt in das Spiegelbild. Hinter mir, keine 100 Meter entfernt, standen mindestens drei Uniformierte mit Maschinengewehren im Anschlag. Intuitiv machte ich sofort eine Vollbremsung, legte den Rückwärtsgang ein und fuhr im Schritttempo auf die Zöllner zu. Den Grenzübergang von Andorra nach Frankreich hatte ich dummerweise wegen der tief stehenden Sonne und vermutlich noch unter dem Einfluss von Restalkohol übersehen. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn ich nicht zufällig in den Rückspiegel geschaut hätte. Nach knapp drei Stunden gründlicher Fahrzeugdurchsuchung inklusive einer unbekleideten Leibesvisitation und dem Aus- und Einräumen des umfangreichen Gepäcks durften wir weiterfahren. Bis zur Einberufung zur Bundeswehr hatte ich ab da nun noch drei Tage Zeit.

Zu den Höhepunkten dieses Überlebenstrainings gehörten das Ausheben von tiefen Fäkaliengruben im gefrorenen Boden, das Bauen von Donnerbalken und das Kochen und Verzehren einer sogenannten Notverpflegung aus einem Appetitzüglerpaket >kurz EPA = Einpersonenpackung<. Ohne Mampf kein Kampf! Von meinem Lieblingskameraden Ede, auf den ich sicher noch einige Male zurückkommen werde und der meiner Meinung nach ein Nachfahre der Berserker war, habe ich bei dieser Gelegenheit unter anderem gelernt, wie man ein sibirisches Scheißhaus benutzt: „Mit einer Hand den Balken festhalten, mit der anderen Wölfe und Bären abwehren“. Da ich durch Oma Dines Niederrhein-Platt sprachlich vorbelastet war, fiel es mir relativ leicht, Ede zu verstehen, denn „In de Lümborger Heid ward Platt snackt“. Ohnehin herrschte unter den Bundeswehrkameraden ein manchmal schwer verständliches babylonisches Dialektgewirr, das aber bei den gemeinsamen Saufgelagen keine Rolle mehr spielte. Am Rande sei noch erwähnt, dass so mancher erst durch die BW zum Alkoholiker wurde. Selbst aus Abstinenzlern wurden innerhalb weniger Wochen Kampftrinker.

Chaotentruppe Bundeswehr Munster1975

Unter anderen Umständen wäre eine Kaserne mit Hunderten von hübschen jungen Männern ein ideales Jagdrevier für chronische Erbgut-Weiterleitungs-Verweigerer gewesen. Zu meiner Zeit gab es keine weiblichen Soldaten und auch keine homosexuellen Handlungen, von denen ich gehört oder gesehen hätte. Obwohl ich ein sehr vertrauensvolles Verhältnis zu Ede hatte, wagte ich mich auch ihm gegenüber nicht, mich zu meiner >vermeintlichen< bisexuellen Orientierung zu bekennen. Ich wusste nicht, wie er darauf reagieren würde, und wollte nicht riskieren, auf die gleiche Art und Weise ins Jenseits befördert zu werden, wie er es mit den Rindern und Schweinen in der Schlachterei zu tun pflegte. Es sollten fast 30 Jahre vergehen, bis er es endlich von mir erfuhr. Nun zu meinen weiteren Erlebnissen beim Bund.

Lebensgefährlich wird es auch, wenn ab einer bestimmten Geschwindigkeit eine der Ketten des Panzers während der Fahrt zerreißt. Dies konnte im schlimmsten Fall zu einem Überschlag führen, der wiederum den Stahlkoloss schnell in Brand setzte. Augenzeuge eines solchen Horrorunfalls wurde ich 1975. Bei einer in meinen Augen völlig unverantwortlichen nächtlichen Autobahn-Kolonnenfahrt >nach mindestens 24 Stunden ohne Schlaf< von Munsterlager zum rund 190 Kilometer entfernten Artillerieübungsplatz nach Putlos in Schleswig-Holstein, riss bei einem vorausfahrenden Panzer eine der Ketten. Der Fahrer verlor daraufhin die Kontrolle und stürzte die Böschung hinunter. Die Folge: Zwei Soldaten einer anderen Einheit kamen dabei ums Leben. So war auch beim Bund der Sensenmann mein ständiger Begleiter.

Die Unfälle, die ich im Folgenden beschreibe, betrafen ausschließlich Soldaten der Hindenburg-Kaserne. Über diese >oft vermeidbaren< Todesfälle in der BW berichteten die Medien nicht. Im nächsten Fall stürzte ein Soldat mit seinem Motorrad im Gelände und wurde von einem nachfolgenden Panzer überrollt. In einem anderen Fall hatte der Kommandant den Drehturm eines Artilleriepanzers nicht ordnungsgemäß gesichert. Dies kostete den Kommandanten, einen 20-jährigen Unteroffizier, buchstäblich den Kopf. In einem anderen Fall spielten Unteroffiziere >aus purer Langeweile< im Keller unserer Standortverwaltung mit einer halbautomatischen Pistole vom Typ Walther P1, wobei eine Kugel die Halsschlagader eines Stabsunteroffiziers durchschlug. Das Opfer überlebte schwer verletzt. In drei weiteren Fällen kehrten Kameraden nicht mehr aus dem Wochenendurlaub zurück, weil sie übermüdet an der berüchtigten NATO-Rallye teilgenommen hatten, die jeden Freitagmittag startete. „Lieb’ Vaterland, magst ruhig sein“.

Meinem bereits erwähnten Schutzengel habe ich es sicher auch zu verdanken, dass ich mich bei einem anderen Manöver nicht selbst ins Jenseits befördert habe. Wie das? Um auf dem Fahrersitz meines Panzers zu gelangen, musste ich jedes Mal durch die in zwei Meter Höhe befindliche Panzerluke einsteigen. Diese konnte mit einem mindestens 50 Kilogramm schweren, kreisrunden und etwa fünf Zentimeter dicken Deckel verschlossen und verriegelt werden. Während der Fahrt, bei der ich >wie so oft< noch reichlich Restblut im Alkohol hatte, ließ ich den Gullydeckel versehentlich nicht vorschriftsmäßig in die Verriegelung einrasten. Ohne den vorgeschriebenen und meinen Schädel schützenden Stahlhelm bog ich von einer betonierten Panzerstraße in das Manövergelände ein.

Gleich bei der ersten Bodenwelle bekam ich völlig unerwartet einen Schlag auf den Hinterkopf, der durchaus zu einem Schädelbasisbruch und meinem vorzeitigen Tod hätte führen können. Ich sah für einen kurzen Moment buchstäblich Blitze und Sterne vor meinen Augen, konnte aber instinktiv den Panzer noch zum Stehen bringen. Ich schüttelte mehrfach meine Hirnschale und ging benommen der Sache auf den Grund. Da der Lukendeckel nicht ordnungsgemäß eingerastet war, wurde er bei der ersten Bodenwelle nach den Gesetzen der Fliehkraft nach vorne katapultiert. Zu meiner Freude stellte ich fest, dass ich weder geblutet noch mich sonst irgendwie verletzt hatte. Mit einem kopfschüttelnden Kommandanten hinter mir verriegelte ich den Deckel und setzte, als wäre nichts gewesen, die Fahrt fort.

Ein weiteres Vergehen, das uns Kopf und Kragen hätte kosten können: Kurz vor unserer Entlassung nahmen Ede und ich an einer großen NATO-Übung teil. Das Kampfgebiet lag, wie der Teufel es wollte, ganz in der Nähe von Bispingen. So kam Ede über Funk auf die glorreiche, wenn auch verbotene Idee, unser Mittagessen in der Imbissbude seiner Eltern einzunehmen. Gesagt, getan. Die beiden Kommandanten, ehemalige Stubenkameraden und jetzt Unteroffiziere, wagten nicht zu widersprechen. Synchron fuhren wir mit den beiden Panzern auf den großen Parkplatz davor und brachten sie abrupt wenige Zentimeter vor der riesigen Fensterscheibe zum Stehen. Wir wunderten uns, dass die anwesenden Gäste in alle Richtungen ins Freie flohen, weil sie wohl dachten, die Russen kämen. Zum Glück wurden wir beim anschließenden kostenlosen Essen nicht von den Feldjägern gestört.

Wenige Monate nach meiner Rückkehr ins Zivilleben stand der Prozess wegen Trunkenheit am Steuer vor dem Amtsgericht in Soltau an. Mein Freund Walter fuhr mich dorthin. Auf Empfehlung von Ede wurde ich anwaltlich von Ganoven-Schulze vertreten. Diesen Namen, so Ede, habe er sich im Laufe der Jahre redlich verdient. Im Amtsgericht traf ich nicht nur Ede und seinen Bruder, sondern auch meinen Richter und Rechtsverdreher. Im Laufe der Verhandlung wurde ich von meiner ersten Trunkenheitsfahrt freigesprochen, da mir nicht nachgewiesen werden konnte, dass ich vorschriftsmäßig gefahren war. Der Führerscheinentzug war also nicht rechtens, aber weil ich mich danach wieder hinters Steuer gesetzt hatte, wurde ich zu einer geringen Geldstrafe und einem Führerscheinentzug von neun Monaten verurteilt. Damit konnte ich leben, zumal die Sperrfrist fast abgelaufen war.

Nach dem Urteilsspruch gab es im Gerichtssaal noch eine unerwartete, unglaubliche aber ebenfalls wahre Posse: Rechtsanwalt Schulze lag bäuchlings unter dem Richtertisch und fummelte dort mit einem Feuerzeug herum. Auf die Frage des Richter, der sich bereits erhoben hatte, was er denn da suche, antwortete Rechtsanwalt Schulze mit todernster Miene: „Ich suche die Gerechtigkeit!“ Mit Tränen in den Augen verließen wir das altehrwürdige Gerichtsgebäude, begossen in Bispingen das Urteil, gaben unsere Anekdoten aus der Zeit beim Bund zum Besten und verließen Bispingen am nächsten Tag mit einem mächtigen Kater. Es sollte aber nicht die letzte Begegnung mit Ede und Bispingen bleiben. Da ich noch keine 21 Jahre alt war, konnte ich meinen Lkw-Führerschein beim Straßenverkehrsamt nicht für zivile Zwecke umschreiben lassen. Aber wer weiß, wozu das gut war? Damit schließe ich ein weiteres wichtiges Kapitel in meinem ereignisreichen Leben ab.

Ein einziges Mal in meinem Leben habe ich mit 18 Jahren meinen Schutzengel bewusst herausgefordert. Eigentlich war es eher eine Mutprobe und eine einmalige Gelegenheit: Ein entfernter Bekannter aus dem Hinnemannsfeld fragte mich, ob ich seinen erst 10 Jahre alten Opel Rekord A zu Arnos Schrottplatz nach Buchholtwelmen fahren könnte. Da das Auto noch eine gültige Straßenzulassung besaß, optisch und technisch noch halbwegs in Ordnung war, konnte ich nicht widerstehen diesen Zustand zu ändern und machte einen kleinen Umweg über die Testerberge. Oben angekommen parkte ich das Fahrzeug in schwindelerregender Höhe von ca. 64 Metern an der Stelle, die im Winter von Skifahrern und Rodlern als Abfahrtsstrecke genutzt wird. Obwohl ich schon lange wusste, dass das Leben ein Spiel ist, mit dem man nicht spielen sollte, fuhr ich das Fahrzeug einige Meter bis an den Rand des Berges, stellte den Motor ab und ließ das Fahrzeug nach Lösen der Handbremse geradeaus den steilen Hang hinunterrollen.

Nachdem wir sieben Tage hintereinander abends die Hausbar am Pool zum Vorglühen genutzt, nachts die Diskos und Bars unsicher gemacht und tagsüber unseren Rausch ausgeschlafen hatten, war es an der Zeit, die Sehenswürdigkeiten der Umgebung zu besichtigen. Dazu benutzten wir den Alfa. Wie der Teufel es wollte, führte uns der Rückweg direkt auf den Parkplatz der Diskothek Penelope. Noch vor Sonnenaufgang traten wir die Heimreise an. Willi und ich waren stramm wie Haubitzen und Klaus als Fahrer hielt sich mit alkoholischen Getränken zurück. Ich legte mich sofort auf die Rückbank und schlief kurz darauf ein. Was ich dir jetzt erzähle, wirst du sicher für unglaublich halten. Aber es ist genau so passiert: Während der Fahrt zum Hotel muss ich aus dem Schlaf heraus geschrien haben: „Halt, halt!, halt“!!!

Klaus war wohl so erschrocken, dass er in Sekundenbruchteilen eine Vollbremsung hinlegte. Dann drehten sie sich die beiden zu mir um und stellten fest, dass ich bewegungs- und geräuschlos schlief. Irritiert stiegen sie aus, öffneten die hintere Beifahrertür und rissen mich aus dem Schlaf. Nachdem ich ausgestiegen war, blickten wir drei uns zunächst dumm an und schauten dann in die Richtung, in die Klaus mit dem Alfa gefahren war. Was wir dann sahen, ließ uns das Blut in den Adern gefrieren: In höchstens 20 Metern Entfernung befand sich ein tiefer Abgrund! Einen Sturz aus dieser Höhe hätte sicher keiner von uns überlebt. Doch wie waren wir überhaupt in diese Situation geraten? Klaus hatte sich offensichtlich verfahren und eine vermeintliche Abkürzung über diesen unbeleuchteten Schotterweg genommen.

Mike >li.< & Klaus H.
Benidorm / Spanien

An dieser Stelle warne ich besonders Jugendliche eindringlich vor der Teilnahme an okkulten Sitzungen und vor Dämonen- und Satanskult! Die Beschäftigung mit dem Okkultismus, der seinen Ursprung in alten heidnischen Religionen hat, kann bei unkritischer Herangehensweise lebensgefährlich sein. Im Extremfall können sogenannte mediumistische Psychosen >ähnlich wie unter LSD< ausgelöst werden, die zu starken Angstzuständen, Verfolgungswahn, Depressionen bis hin zum Selbstmord führen. Ganz zu schweigen von Schlafstörungen, Albträumen und Zwangshandlungen. Ohne meinem in Planung befindlichem zweiten Band meiner Autobiografie vorgreifen zu wollen: Aus leidvoller Erfahrung mit meiner Ex weiß ich, wovon ich spreche. Ihre Aktivitäten im Bereich der schwarzen Magie und ihr Hang zum Okkultismus haben meine ganze Familie zerstört, worunter vor allem meine beiden Söhne ihr Leben lang leiden werden.

Herr B., ich habe ihn aus Respekt nie geduzt, besaß einen metallic blauen Mercedes 280 SE der Baureihe W108 mit 160 PS. Dieser war an seine Schwerbehinderung angepasst und mit allen damals denkbaren elektrischen Komponenten ausgestattet. Obwohl das Fahrzeug schon einige Jahre auf dem Buckel hatte, machte es den Eindruck eines Neuwagens. Ich kann heute nicht mehr sagen, wie und warum, aber irgendwann bot er mir diese Limousine der Oberklasse für nur 2.000 DM an. Wenn ich mit diesem Auto unterwegs war, musste mich jeder für einen Zuhälter halten. Mir war damals nicht bewusst, dass mein Aussehen dem Klischee des Rotlichtmilieus entsprach. Von all meinen bisherigen Autos >die zahlreichen Firmenfahrzeuge nicht mitgerechnet<, bestimmt weit über 50, ist dies das einzige, bei dem ich heute noch bereue, es später wieder verkauft zu haben. Aber wie das so ist: Hinterher ist man immer klüger.

Um meinen Verbündeten weiteren Ärger mit der Bullerei zu ersparen, war ich kurz darauf bereit, den Herren Beamten meine Aufwartung zu machen und ein volles Geständnis abzulegen. Mein Amtsrichter bestrafte mich dann Monate später wegen der begangenen Erregung öffentlichen Ärgernisses mit einer milden Geldstrafe von 400 DM. Ungeachtet dessen: Mein grundgesetzlich verbrieftes Recht auf freie Meinungsäußerung hat den Steuerzahler im Rahmen des Ermittlungsverfahrens unter dem Strich sicher ein Vielfaches gekostet. Kurze Anmerkung zu dieser Provinzposse: Wenige Tage nachdem ich mich vor dem Balkanesen teilentblößt hatte, sprach mich ausgerechnet meine verhasste Oma Maria auf den Vorfall an. Sie musste die Pressemitteilung gelesen haben und sagte mir ins Gesicht, dass nur ich hinter diesem Geschehnis stecken könne. Ich weiß nicht, woher die alte Hexe diese Inspiration hatte. Wahrscheinlich war sie mit dem Teufel im Bunde. Was bei der ganzen Aktion nicht herauskam, war die Tatsache, dass Carlo zu diesem Zeitpunkt erst 17 Jahre alt war und somit noch nicht im Besitz eines gültigen Führerscheins sein konnte.

Als wir am 07. Juli die Weltmeisterschaft mit 2:1 gegen die damals ungeliebten Käsköppe‘, wie wir die Niederländer abfällig nannten, gewonnen hatten, gab es für alle kein Halten mehr. Meine restlichen Getränkevorräte verschenkte ich großzügig an diejenigen, die zuvor auf das Erreichen des Endspiels der deutschen Fußballnationalmannschaft gewettet hatten. Auf der anschließenden Siegesfahrt durch Voerde hingen bestimmt mehr als 20 Leute an den Fenstern und Türen meines völlig überladenen Bullis. Einige hielten sich auf den Stoßstangen stehend an der Dachkante, den Tür- und Fensterrahmen oder den Scheibenwischern fest. Meine Rundumsicht war ebenso eingeschränkt wie meine alkoholbedingte Fahrtüchtigkeit. Die Siegesparade wurde von einer Kolonne von Autos, Mopeds, Fahrrädern, Motorrädern und zahlreichen Mitläufern begleitet. Heute unvorstellbar: In Höhe des Bahnübergangs an der Bahnhofstraße kam uns ein Streifenwagen der Voerder Dorfsheriffs entgegen, schaltete uns zu Ehren Blaulicht und kurz das Martinshorn an, wendete und setzte sich als Geleitschutz an die Spitze des Konvois über die Frankfurter Straße und zurück bis zur Wiese im Hinnemannsfeld.

Mit dem Provinzbahnhof Voerde verbindet mich noch eine andere, weniger schockierende, aber unverantwortliche Begebenheit aus dem Jahre 1973. Wie bereits erwähnt, besaß ich zu diesem Zeitpunkt bereits meinen Führerschein und mein erstes eigenes Auto. An einem schönen Sommertag traf ich am Bahnhofskiosk Rudi L., den älteren Bruder meines Kindheits- und Jugendfreundes Werner aus dem Eichelkamp. Ich weiß nicht mehr, wer von uns beiden die Idee hatte, ein Saufgelage mit Schnaps der Marken Jägermeister und Schlichte zu veranstalten. Jedenfalls gingen wir folgende Wette ein: Der Kiosk hatte damals eine etwa zwei Meter breite Fensterbank aus Marmor. Nun galt es, die jeweils etwa vier Zentimeter breiten Flachmänner, die wir im Laufe der Stunden leerten, solange nebeneinander zu stellen, bis der Sieger mit seiner Flasche die Mitte der Fensterbank erreicht hatte. Rudi trank Original Schlichte Steinhäger und ich Jägermeister.

Der Verlierer, in diesem Fall Rudi, musste die Kosten des Besäufnisses übernehmen, immerhin fast 100 Mark. Für dieses Geld hätte ich damals meinen VW dreimal volltanken können. Längst hatte ich Raum und Zeit vergessen, stieg volltrunken in meinen Wagen und schaffte es in unverantwortlicher Weise unfallfrei und ohne von der Polizei erwischt zu werden bis vor das Garagentor meiner Eltern. Dort fand mich meine Mutter am nächsten Morgen leblos vor: Die Fahrertür weit geöffnet, die Beine im Fußraum, der Oberkörper auf den Pflastersteinen der Einfahrt und der Kopf in der eigenen, vornehm ausgedrückt, Vomitation. Von diesem Tag an konnte ich jahrzehntelang keinen Kräuterlikör dieser Marke mehr in mich hineinschütten.

Mein 280er SE – 1976

Das Widerwärtigste, Abscheulichste und Brechreizauslösendste habe ich mir für den Schluss meiner Lebenserinnerungen an die Jahre 1955 bis 1976 aufgehoben. Wo anfangen? Grübel… und beginne mit der Zeit nach der Bundeswehr. Es ist Sommer 1976, das erste Jahr meiner Volljährigkeit mit 21. Selbst jetzt fällt es mir noch schwer, über das folgende Kapitel nachzudenken und es zu schreiben. Unsere Stammkneipe war damals die Lerchenstube in Voerde. Die 70er Jahre waren die Blütezeit der sportlich geselligen Thekenfußballmannschaften. So gründeten auch wir 1995 eine, die den Namen der Kneipe Zur Lerchenstube trug. Einige unserer Mitglieder spielten noch in der A-Jugend des TV Voerde, andere bereits erfolgreich in der Kreis- oder Bezirksliga und einer sogar in der Landesliga. Da ich bekanntlich zwei linke Füße und zwei linke Hände habe und es mir keinen Spaß machte, wie ein Idiot einem Ball hinterherzurennen und mich dabei auch noch gesundheitlich zu ruinieren, konzentrierte ich mich auf mein angeborenes Organisationstalent.

Unser Team wurde erwartungsgemäß Turniersieger und an beiden Turniertagen sah ich Eva als Zuschauerin. Und immer dabei: der Kinderwagen. Nach diesem Sportereignis kam ich immer wieder mit ihr ins Gespräch und mit der Zeit entwickelte sich zwischen uns eine mehrjährige, rein platonische Freundschaft. Sie war viel zu jung für mich, und ich habe ihr durch die Blume zu verstehen gegeben, dass ich keine sexuelle Gefahr für sie darstelle. Mit der Zeit gewann ich auf dieser Basis ihr Vertrauen und erfuhr, dass das Kind ihr Kind und der Kindsvater ihr Stiefvater war! Anfangs war ich mit dieser Situation völlig überfordert, da sich der von ihr geschilderte sexuelle Missbrauch deutlich von meinen Erfahrungen mit Satan unterschied.

Von ihr erfuhr ich unter anderem, dass sie trotz des erlittenen Leids, das sich wie ein Makel tief in ihr stets blasses Gesicht eingegraben hatte, noch immer mit ihrer zwei Jahre jüngeren Schwester in der Wohnung ihrer leiblichen Mutter Im Osterfeld lebte. Besonders schockierend war für mich die Tatsache, dass der jahrelange Missbrauch mit Wissen der leiblichen Mutter geschehen war. Das Osterfeld, direkt im Zentrum von Voerde gelegen, galt als sozialer Brennpunkt. Obwohl der Stiefvater inhaftiert war, war es für mich völlig unverständlich, dass das zuständige Jugendamt der Stadt Voerde in der Zwischenzeit keine Anstrengungen unternommen hatte, Eva und ihrer Y. eine andere Wohn- oder Mitwohnmöglichkeit anzubieten. Der Stiefvater war für seine abscheulichen Verbrechen lediglich zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt worden! Warum Evas Mutter nicht mitverurteilt und zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, konnte ich beim besten Willen nicht verstehen. Aber es sollte noch schlimmer kommen. Viel schlimmer.

Das Versagen der Justiz und des zuständigen Jugendamtes in diesem Fall ist für niemanden nachvollziehbar. Schlimmer noch, solche perversen Kreaturen werden von der Justiz und dem Jugendamt auch noch mit Samthandschuhen angefasst, weil man diese perversen Kinderschänder heutzutage als psychisch krank einstuft. Die einzige Gerechtigkeit, die diesem Abschaum der Menschheit im Gefängnis widerfährt, ist zum Glück die der Mitgefangenen, in deren Hierarchie sie ganz unten stehen und nicht selten das bekommen, was sie verdienen. Ich bin kein Freund von Selbstjustiz, aber ich würde Sexualstraftäter nicht durch sinn- und zwecklose Therapiesitzungen versuchen zu ‚heilen, sondern durch eine wesentlich billigere Kastration. Doch soweit sollte es im Fall von Evas Stiefvater nicht kommen. Wie ich im Winter 1976 erfuhr, fand man ihn in den frühen Morgenstunden erhängt an einer einsamen Kreuzung in Voerde-Mehrum. Er musste dort von einem Seil abgeschnitten werden, das um ein Stoppschild geschlungen war. Von uns konnte sich niemand erklären, wie er das ohne Leiter und fremder Hilfe geschafft hatte. Zitat aus Psalm 28:4: Gib ihnen nach ihrer Tat und nach ihrem bösen Wesen; gib ihnen, nach den Werken ihrer Hände; vergilt ihnen, was sie verdienet haben“!

Mit 21 

Zum Ende dieses Kapitels: Meine Vergangenheit ist wie ein treuer Schatten, den ich nicht abschütteln kann. Die hier beschriebene Rückwärtsgewandtheit bedeutet jedoch nicht, dass ich ständig und unentwegt an meiner Vergangenheit klebe. Es wäre eine Verschwendung von kostbarer Lebenszeit, wenn ich mir darüber Gedanken machen würde, was wäre, wenn ich in dieser oder jener Situation eine andere Entscheidung getroffen hätte. Ich erkenne an, dass ich oder andere die Weichen für mein gegenwärtiges Sein gestellt haben. In den letzten Monaten habe ich etwas gelernt, das ich seitdem konsequent anwende: Verzeihen. Ich verzeihe den Menschen, die nicht anders konnten, wollten oder es nicht besser wussten. Bevor ich zu dieser Erkenntnis kam, lasteten diese Geister der Vergangenheit wie Ketten mit schweren Stahlkugeln an meinen Beinen. Das Positive an dieser Form des Loslassens ist, dass ich dafür noch nicht einmal Kontakt zu diesen Personen aufnehmen musste. Von meinem Verzeihungsritual ausgenommen bleiben jedoch bis ans Ende meiner Tage meine Peiniger aus der Zeit im Kindererholungsheim.

An dieser Stelle versichere ich dir, ob du es glaubst oder nicht, dass ich keine narzisstische, antisemitische, rassistische oder antidemokratische Person bin. Entgegen der neuzeitlichen, katastrophalen gesellschaftlichen Entwicklung bin ich auch kein Egomane. Ganz im Gegenteil: Mir wird nachgesagt, dass ich trotz des in der frühen Kindheit erlittenen Leids über eine ausgeprägte soziale Ader verfüge, die ich leider mehr als einmal bereut habe. Sollte sich im gerade erst beginnenden Rechenmaschinen-Zeitalter jemand auf irgendwelchen Plattformen dazu auserkoren fühlen, mich kritisieren zu müssen: Gerne, solange es sich dabei um konstruktive Kritik handelt. Die bisher diesbezüglich erhaltenen Drohungen und Beleidigungen prallen bei mir ab wie ein Tennisball auf einem Tennisschläger.


Hinweis:

Während ich in meinen Gedankensplittern I und II die jeweiligen Artikel thematisch vertieft habe, widme ich mich unter Was aus ihnen wurde des ersten Bandes meiner Autobiografie abschließend den Menschen, die mein Leben entscheidend geprägt haben, und erzähle, was aus ihnen geworden ist.


 Die Erinnerungen verschönern das Leben. Aber erst das Vergessen macht es erträglich

Heute bin ich seit genau 24 837 Tagen, also seit 68 Jahren, Bewohner unseres wunderbaren und einzigartigen blauen Planeten. Statistisch gesehen dürfte ich gar nicht mehr am Leben sein, denn bei meiner Geburt lag die Lebenserwartung für Männer nur bei 64,6 Jahren. Na und? Wie aus der bisherigen Chronologie ersichtlich ist, habe ich unglaubliche neun Jahre gebraucht, um die Urfassung von Band I meiner Autobiografie eines ehemaligen Heimkindes zu schreiben. Es gibt verschiedene Gründe, warum ich im Jahr 2007 aufgehört habe, meine Kindheits- und Jugenderinnerungen aufzuschreiben. Diese Gründe möchte ich dir nicht vorenthalten.

Seit meinem Umzug von Essen nach Köln im Februar 2001 war ich aus unterschiedlichen Gründen gezwungen, insgesamt fünfmal meinen Wohnsitz innerhalb meiner Sehnsuchtsstadt zu wechseln. Am 1. Februar 2006 habe ich meine jetzige Wohnung im schönen und begehrten Kölner Agnesviertel bezogen. Hier wohne ich nun seit über 18 Jahren in derselben Wohnung. Ein Rekord in meinem ansonsten umtriebigen Leben! Als ich eine Woche nach meiner Bewerbung den Zuschlag für diese Wohnung von einer großen Kölner Wohnungsbaugenossenschaft erhielt, war das für mich wie ein Sechser im Lotto.

Ende Mai 2016 hat sich mein Leben von Grund auf verändert: Nach fast 50 Jahren Alkoholabhängigkeit habe ich aus einer Laune heraus, von einem Tag auf den anderen, allein durch meine Willenskraft den Ausstieg geschafft. Ohne äußeren Anlass und ohne fremde Hilfe. Ob es einen Zusammenhang zwischen meinem kalten Entzug und meinem vorübergehenden Gedächtnisverlust vom 03.06. bis 16.07. gibt, konnten mir auch die behandelnden Ärzte nicht zufriedenstellend beantworten. Trotz zweier Notoperationen, künstlicher Ernährung und Beatmung und einem Gewichtsverlust von fast zehn Kilo sage ich heute noch: Wenn ich gestorben wäre, wäre es der schönste Tod gewesen, den ich mir hätte vorstellen können, zumal ich vor dem komatösen Zusammenbruch keinerlei Schmerzen hatte. Aber: Meine Zeit schien noch nicht abgelaufen zu sein.

Der Grund für diese erneute mehrjährige Pause war folgender: Ich hatte mir gleich zu Anfang der Jahrtausendwende autodidaktisch die Erstellung von Internetauftritten angeeignet. Zu meinem Kundenkreis gehörte eine weltoffene, tolerante, liebenswerte und schon etwas ältere Frau mit türkischen Wurzeln. Im Sommer 2013 betrat ich wegen einer Besprechung für ihren Internetauftritt ihren kleinen Esoterikladen in unmittelbarer Nähe des Friesenplatzes. In der Zeit, in der sie telefonierte und ich auf sie warten musste, betrat ein alter Mann den Laden. Was nun folgte, kann man glauben oder nicht. Ich unterhielt mich etwas mehr als fünf Minuten mit dem mir völlig unbekannten Mann, einem Gelehrten der hermetischen Kabbala aus dem Norden der Türkei, wie ich später erfuhr. In dieser kurzen Zeit erkannte er meinen damaligen Seelenzustand und prophezeite mir, nachdem ich ihm von meinem Memoirenmanuskript erzählt hatte, unter anderem, dass ich erst posthum als Schriftsteller bekannt werden würde.

Die Stunden vor, während und nach der Beerdigung erlebte ich nicht als trauerndes Familienmitglied, sondern eher als geistesabwesender Zuschauer. In dem Moment, als ich an der Reihe war, ein Schäufelchen Sand und einen kleinen Blumenstrauß auf ihren Sarg zu werfen, war für mich klar, dass ich im Falle meines Todes auf keinen Fall auf einem Friedhof in kalter, modriger Erde begraben werden möchte, wo mein Körper mit der Zeit von Würmern zu einem Skelett zerfressen wird. Obwohl mir der Anblick von Toten oder Leichenteilen bis dahin nicht fremd war, wurde mir zum ersten Mal in meinem Leben die Vergänglichkeit des Lebens so richtig bewusst.

Nachdem ich 2016 während meiner sechswöchigen tiefen Bewusstlosigkeit durch zwei Notoperationen, künstliche Beatmung und Ernährung dem Teufel von der Schippe gesprungen war, kam mir die zündende Idee: Da auch eine Feuerbestattung für mich nicht infrage kommt, ich der Nachwelt keine sündhaft teure Grabstätte und sinnlose Grabpflege hinterlassen möchte, habe ich mit Vertrag vom 08.11.2018 meine sterblichen Überreste dem Institut für Plastination, vielen besser bekannt unter Körperwelten, als Ganzkörperspende zu wissenschaftlichen Zwecken vermacht. Auf diese Weise wird man mich noch viele Jahrzehnte lang als anatomisches, allerdings anonymes Anschauungsobjekt weltweit bewundern können.

Bei dieser Gelegenheit erfuhr ich, dass sich unter den Toten des Air-France-Fluges 4590 eine mir völlig unbekannte, kinderlose Tante mit ihrem Ehemann, einem wohlhabenden Architekten aus Mönchengladbach, befand. Nachdem ich genau 50.000 DM Schmerzensgeld erhalten hatte >die Einigung mit den Hinterbliebenen dauerte nur 10 Monate!<, empfand ich die Zahlung somit als ausgleichende Gerechtigkeit. Wenn sie kinderlos und vermögend war, warum hat sie damals nicht ihrer Schwester geholfen und mir damit mein Heimschicksal erspart? Nach einigen gegenseitigen Besuchen mit meiner in Berlin-Kreuzberg lebenden, alleinerziehenden Halbschwester, im Anhang ein männliches pubertierendes Produkt antiautoritärer Erziehung namens Merlin, erhielt ich von ihr eine E-Mail >!<, in der sie mir die Geschwisterliebe aufkündigte. Hatte ich es doch bei meinem letzten Besuch gewagt, der angehenden Diplom-Sozialpädagogin meinen Unmut über ihren Erziehungsstil kundzutun. Ihre Kündigung begründete sie damit, dass ihr meine bewegte Vergangenheit zu strange, zu eigenartig sei. Bei unserem ersten Treffen in Berlin standen wir gemeinsam an einem verwilderten Grab unserer Mutter auf einem Friedhof in Berlin-Tiergarten.

Im Zuge eines Auskunftsersuchens über den Verbleib und den Wohnort meiner Mutter erhielt ich mit Schreiben des Landeseinwohneramtes Berlin vom 23.09.1999 die Mitteilung, dass sie unter dem Namen Gertrud Anna Öztürk >!< nur wenige Jahre zuvor, am 26.10.1997 verstorben sei. Von Lu, die jahrzehntelang mit ihrer alkoholkranken Mutter zusammengelebt hatte, erfuhr ich unter anderem, dass Anna im Alter von 66 Jahren sturzbetrunken in der Badewanne ausgerutscht und daran gestorben war. Ihre letzte Ehe mit einem Türken war eine Scheinehe. Das Merkwürdige daran war, dass auch ich schon lange die Vorahnung hatte, im gleichen Alter zu sterben, und dass sie wie ich ihr Leben lang auf der Suche nach dem großen Beziehungsglück gewesen war. Davon zeugen, wie bei mir, fünf unglücklich endende Beziehungsdramen. Lu versprach, im Gegensatz zu mir, einen Teil des erhaltenen Schmerzensgeldes für die zukünftige Grabpflege zu verwenden. Ob sie dies tatsächlich getan hat, entzieht sich meiner Kenntnis.

Es schmerzt mich bis heute, dass ich keine intensivere Mutter-Kind-Bindung zu ihr aufbauen konnte. Vielleicht war ich zu alt und psychisch zu gebrochen, als wir uns kennenlernten? Als ich noch ein Pflege- und später ein Adoptivkind war, hat sie sicher die seltenen Momente genossen, in denen sie mit mir kuscheln, mich streicheln und meine Hand halten konnte. Leider beruhte dies aufgrund meiner instabilen Gefühlslage selten auf Gegenseitigkeit. Zärtlichkeiten wurden so gut wie nie erwidert und Küsse gab es, wenn überhaupt, nur auf die Wange. Das mit dem Küssen galt übrigens für alle Familienmitglieder. Dankbar bin ich ihr auch dafür, dass sie mir schon früh meine Freiheiten ließ und mich förderte, wenn ich es zuließ. Sie begegnete mir früh auf Augenhöhe und stand immer hinter mir, wenn es darauf ankam. Ohne Wenn und Aber. Auch dafür, dass sie in meiner Kindheit ihre eigenen Bedürfnisse für mich auf ein Minimum reduziert hat, gebührt ihr mein größter Respekt, meine Dankbarkeit und meine tiefe und aufrichtige Zuneigung.

Exemplarisch schilder ich eine Situation, die sich an Mutters 63. Geburtstag im Kreise ihrer Gäste in ihrem Haus abspielte: Nur um mich bei ihr in Misskredit zu bringen, sagte Heidi, von der ich mich wenige Wochen zuvor getrennt hatte, mit süffisantem, triumphierendem Unterton: „Weißt du, dass dein Sohn schwul ist?“ Meine Mutter, der ich meine Homosexualität bis dahin nicht gestanden hatte, antwortete wie aus der Pistole geschossen: „Na und? Der Junge darf so sein, wie er ist“! Diese tolerante Haltung hätte ich mir auch von meinem Vater und vielen meiner damaligen Wegbegleiter gewünscht. Meine Mutter hat mir später einmal in einem Vieraugengespräch erzählt, dass sie die ganzen Jahre über eine Ahnung von meiner wahren sexuellen Orientierung hatte.

Meine Eltern und ich –  Sommer 2013

Von Oma Dine habe ich als Jugendlicher erfahren, dass es wohl am Anfang eine Liebesheirat war, die sich im Laufe der Zeit >wie bei den allermeisten Ehepaaren< schleichend zu einer Zweckgemeinschaft entwickelt hat. Ebenfalls heute unvorstellbar: Auf eine kirchliche Trauung mussten die beiden damals verzichten, da sie unterschiedlichen Konfessionen >katholisch und evangelisch< angehörten. Für die ewiggestrige römisch-katholische Kirche war dies ein gravierendes Ehehindernis, das nur durch eine hoheitliche Ausnahmegenehmigung hätte beseitigt werden können. Im Gegenzug hätte meine Mutter in Gegenwart katholischer >!< Zeugen eine eidesstattliche Verpflichtungserklärung abgeben müssen, dass alle aus dieser Ehe künftig hervorgehenden Kinder nicht nur katholisch getauft, sondern auch im katholischen Sinne erzogen werden müssten. Taff wie meine Mutter war, hat sie auf die kirchliche Trauung in Weiß verzichtet. Neben der Mischehe waren meine Eltern in den ersten Jahren ihrer Ehe auch wegen des Altersunterschiedes von acht Jahren der gesellschaftlichen Ächtung ausgesetzt.

Allmählich schließe ich dieses letzte Kapitel, das vom Verlust geliebter Menschen geprägt ist. In meinen bisherigen Ausführungen habe ich einen Menschen in ein schlechtes Licht gerückt: meinen Adoptivvater. Dass er jedoch auch gute Seiten hatte, hat er, wie zwischen den Zeilen angedeutet, in der Vergangenheit mehrfach bewiesen. Im Folgenden werde ich jedoch das negative Bild, das ich bisher von ihm gezeichnet habe, revidieren. Ungeachtet des von mir lange so empfundenen Spannungsverhältnisses, hat Karl-Heinz nach der Geburt meiner beiden Söhne 1979 und 1981 eine Wandlung vollzogen, die ich von ihm weder gekannt noch erwartet hätte. Bis zu diesem Zeitpunkt war ich davon überzeugt, dass er zwar kein Kinderhasser war, aber generell nicht viel mit Kindern anzufangen wusste. Im Laufe der Zeit entwickelte sich mein Vater jedoch noch zu einem liebe- und verständnisvollen Opa Charly. Allerdings hatte er, wie bei mir auch, Schwierigkeiten, seinen wahren Gefühlen Ausdruck zu verleihen.

Einige der folgenden Erläuterungen und Exkurse dienen dem besseren Verständnis der damaligen familiären Zusammenhänge, deren schicksalhafte Wendung sich ab Ende 1988 anbahnte. Meine Ex-Frau, die nach erfolgreich abgeschlossener Ausbildung zur Arzthelferin mit 18 Jahren noch kein einziges Mal ohne eigenes Einkommen gewesen war, warf ich wenige Tage vor Weihnachten 1989 völlig entnervt aus dem 1933 erbauten, freistehenden Mietshaus mit über 120 qm Wohn- und Bürofläche auf einem ca. 1.000 qm großen Grundstück im Zentrum von Voerde-Friedrichsfeld. Vorausgegangen waren zwei Jahre für mich unerträglichen Psychoterrors durch ihre manisch-depressiven Phasen. Es tut mir bis heute leid, dass meine damals erst zehn und zwölf Jahre alten Söhne die Hauptleidtragenden dieser Tragödie waren. Da ich schon Jahre zuvor als Unternehmer mit krankhafter Arbeitssucht >12 bis 18 Stunden und mehr am Tag waren keine Seltenheit< viel zu wenig Zeit für ein intaktes Familienleben hatte, übernahmen glücklicherweise meine Eltern von da an einen großen Teil meiner väterlichen Verantwortung.

Es war dann mein Vater, der den Jungen und seine Sachen am nächsten Tag bei uns abholte und sich fortan zusammen mit meiner Mutter intensiv um ihn kümmerte. Schon kurz nach dem Tod meines Stiefvaters hatte ich den Eindruck, dass mein Vater an seinen Enkeln wiedergutmachen wollte, was er mir zeitlebens an Vaterliebe vorenthalten hatte. Als Heidi erfuhr, dass Manuel bei meinen Eltern lebte, folgte ein monatelanger Streit um die Übertragung des alleinigen Sorgerechts zugunsten meiner Eltern. Da sich inzwischen auch das Jugendamt der Stadt Dinslaken eingeschaltet hatte, sahen sich meine Eltern schließlich gezwungen, Manuel in einer Dinslakener Kinder- und Jugendeinrichtung unterzubringen. Ein fataler Fehler, wie sich einige Jahre später herausstellen sollte. Doch es sollte noch schlimmer kommen. Viel schlimmer.

Als ich 1997 meine Mutter im Krankenhaus besuchte, trafen Manuel, Sascha und ich unverhofft aufeinander. Nach einem vergeblichen Versuch, mit ihnen ins Gespräch zu kommen, habe ich bis heute nichts mehr von ihnen gehört oder gesehen. Alle Informationen über ihren weiteren Lebensweg nach dem radikalen Kontaktabbruch zu mir habe ich nur aus gelegentlichen Gesprächen mit meinen Eltern. Und was ich im Laufe der Zeit erfuhr, war wenig erfreulich. Einige Jahre lang hoffte ich, dass wenigstens einer der beiden spätestens als Erwachsener das klärende Gespräch mit mir suchen würde. Vergeblich. Um meinen Söhnen nach meinem Umzug 1996 von Voerde nach Essen den Zugang zu mir nicht zu verwehren, hatte ich meinen Eltern ausdrücklich erlaubt, meine persönlichen Daten an sie weiterzugeben. Von meinem Ältesten weiß ich, dass er später eine Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann gemacht hat. Wie bereits erwähnt, waren es meine Eltern, die immer wieder versuchten, ihn von seinen massiven Alkohol- und Drogenproblemen abzubringen. Trotz mehrerer Aufenthalte in Suchtkliniken und dem Abrutschen in die dauerhafte Sozialhilfe bereits im Alter von 19 Jahren blieben alle Bemühungen bis zuletzt erfolglos. Manuel hat meines Wissens nie einen Führerschein gemacht und ist >zum Glück< nie Vater geworden, geschweige denn verheiratet gewesen.

Auch für diese Großzügigkeit bin ich ihm zu großem Dank verpflichtet. Um sicherzugehen, dass seine Zahlungen, die er mir per Einschreiben zukommen ließ, auch bei mir angekommen waren, haben wir von da an regelmäßig telefoniert und uns nach dem jeweiligen Wohlergehen erkundigt. Bei einem dieser Telefonate, es muss Anfang 2016 gewesen sein, teilte er mir beiläufig mit, dass er sich beim Ankuppeln seines kleinen Lastenanhängers an seinen Toyota RAV 4 leicht am Schienbein verletzt habe. Eigentlich eine Bagatelle, eine Verletzung, der er keine besondere Bedeutung beimaß. Eine Fehleinschätzung, wie der weitere Verlauf zeigen sollte.

In den folgenden Telefonaten erfuhr ich von ihm, dass sich sein Gesundheitszustand zunehmend verschlechterte. Insgesamt hatte ich bei den Gesprächen den Eindruck, dass er im wahrsten Sinne des Wortes des Lebens müde war. Bei meinem vorletzten Besuch in Voerde Anfang 2017 öffnete mir zu meiner Überraschung eine mit im Haus lebende polnische Frau die Tür, die sich als Pflegekraft rund um die Uhr um ihn kümmerte. Mit Entsetzen musste ich bei seinem Anblick feststellen, dass er inzwischen ein bettlägeriger und stark abgemagerter Pflegefall war.

Glücklicherweise stand ihm bis zu seinem Tod einer seiner Cousins, Ditz J., mit Rat und Tat unermüdlich zur Seite. Dieser rief mich am 27.12.2017 an und teilte mir mit, dass mein Vater am Vortag >Scheiß Weihnachten!< um 15:30 Uhr im Krankenhaus seinem langen Leiden erlegen ist. „R.I.P. Die Erinnerungen an Dich werden in meinem Herzen weiterleben“. Seine letzte Ruhestätte fand er im elterlichen Urnengrab. Bei unserem letzten Treffen waren wir uns einig, dass ich, wie bei meiner Mutter, nicht an seiner Beerdigung teilnehmen würde.

Trotz des 1991 mit meinen Eltern geschlossenen Erbverzichtsvertrags erhielt ich wenige Tage nach seinem Tod über seinen Cousin einen größeren Bargeldbetrag. Um es in Empfang zu nehmen, traf ich mich mit ihm am Bahnhof in Dinslaken. Es war das letzte Mal, dass ich in meiner alten Heimat war. Mit meinem Vater starb auch die letzte Information über meine nun erbberechtigten Söhne. Den Verzicht auf mein nicht unbeträchtliches Erbe am materiellen Lebenswerk meiner Eltern habe ich bis heute nicht bereut. Allerdings würde es mich ohne Groll schon interessieren, was meine Kinder aus diesem Erbe gemacht haben. Aber bei diesem Gedanken habe ich kein gutes Gefühl.

Nach vielen Jahren bin ich nun endlich am Ende des ersten Bandes meiner Biografie angelangt. Alles in allem habe ich in dieses ungeplante Monumentalwerk 25 Jahre Lebenszeit und weit über 2.000 Stunden Gehirnschmalz investiert. Wenn es mir gelungen ist, auch nur einem Leser ein wenig Lebenshilfe zu geben und zur Unterhaltung beizutragen, hat sich dieser enorme Aufwand für mich gelohnt. Ich hoffe, dass ich alle meine Versprechen aus der etwas längeren Ein>g<leitung gehalten habe. Ich danke dir an dieser Stelle, dass du an meinen außergewöhnlichen Lebensgeschichten und Gedankensplittern teilgenommen hast.

Schalömchen


Mike Schwarz / Köln, den 09.07.2024


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