= L E S E P R O B E N =

THEMENSEITEN S – V

Von der Schuld Von der Seele Von der Sexualität
Vom Sozialen Von der Toleranz Von der Treue
Vom Umzug Vom Vertrauen

Von der Schuld 

> Du kannst andere nur nach deinem Wissen um dich selbst beurteilen. Nun, sage mir, wer unter uns ist schuldig und wer unschuldig.“ Khalil Gibran <

Khalil Gibran


Schuld bezeichnet: die Schuld des Menschen vor Gott, siehe Sünde. Verschiedene ethische Begriffe, siehe Schuld [Ethik]. In der Psychologie die bewusste oder unbewusste Überzeugung, etwas Falsche getan zu haben, siehe Schuldgefühl. Die Vorwerfbarkeit einer Straftat, siehe Schuld [Strafrecht]. Die Leistungspflicht des Schuldners, siehe Schuld [Privatrecht]. Schuld ist auch der Name einer Gemeinde in Rheinland-Pfalz, siehe Schuld [Topbeitrag zum Thema bei www.wikipedia.de].


Ja, ja, das war mir wieder einmal völlig klar, dass es die verschiedensten Definitionen von Schuld gibt. Als Erstes klammere ich dann mal diesen erwähnten Ort Schuld an der Ahr aus, da er von relativ unbedeutender Wichtigkeit zu sein scheint. Ich kenne diese Gemeinde in der Eifel durchaus! Nach meiner über fünfjährigen Gefangenschaft im Kinderseelen-Vernichtungsheim Maria im Tann hat es mich über 27 Jahre später, also nach 1989, im Zuge meiner Herkunfts-Recherchen, noch ein paar Mal dorthin verschlagen. Offenbar bin ich lernresistent, was Orte betrifft, an denen man einst gebrochen wurde. Es ist es eine jener Ortschaften, bei denen der Autofahrer beim Erblicken des Ortseingangsschildes eine Vollbremsung macht, und wenn sein Fahrzeug zum Stehen kommt, das Ortsausgangsschild bereits hinter sich gelassen hat.

Viel interessanter ist für mich die von Wikipedia erwähnte Schuld des Menschen vor Gott, die Religionen sehr gerne als Sünde definiert haben wollen. Im christlichen Verständnis bezeichnet diese Sünde meinen unvollkommenen Zustand, der mich vom Herrn des Gerechten trennt. Na und? Als bekennender und strenggläubiger Atheist kann ich seit über fünfzig Jahren ganz prima mit dieser christlich geprägten, mir fremdbestimmten und aufdoktrinierten Trennung leben. Immerhin ist es ja nicht meine Schuld, dass ich diese Reise durch diese Zeit damals gewonnen habe, da meine Eltern meinten, sich gegenseitig sexuell beglücken zu müssen. Wer meine Lebensgeschichte kennt, weiß, dass ich ein zwar gewolltes, aber ehelos gezeugtes Balg bin.

Wer sühnt? Vielleicht jene Eltern, die glaubten, Erziehung beginne mit Gehorsam und ende mit Schweigen? Vielleicht jene Pädagogen, die sich hinter Lehrplänen und Disziplin versteckten, während sie kleine Seelen zerlegten wie fehlerhafte Maschinen? Oder die Gesellschaft, die sich lieber in Sonntagsreden selbst beglückwünschte, als in die vernarbten Augen ihrer Kinder zu blicken? Schuld verteilt sich feinstäubig. Sie setzt sich in Kinderzimmern ab, in Schulhöfen, in Talkshows. Und wenn sie sich endlich aufzulösen scheint, kommt sie in neuer Gestalt zurück: als Filterblase, als Like, als Algorithmus. Heute übernehmen die asozialen Medien, was einst Eltern und Erziehende versäumten: Sie erziehen unsere Kinder. Ohne Liebe, ohne Blick, ohne Verantwortung. Sie lehren Aufmerksamkeitssucht statt Empathie, Selbstinszenierung statt Selbstwert. Und doch: vielleicht liegt genau darin die Chance. Denn wer Schuld erkennt, hat sie schon halb entmachtet. Wer hinschaut, statt wegschaut, durchbricht den Kreislauf. Vielleicht ist das der Anfang von Heilung: dass wir wieder lernen, Verantwortung zu fühlen, bevor sie uns abgenommen wird. Und wir? Wie verhalten wir uns? Wir stehen daneben, scrollen weiter. Aber vielleicht eines Tages nicht mehr.

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Predigen nicht gerade die Religionen, dass nur dem vergeben werden kann, der auch bereut? Die Antworten darauf stehen sicherlich noch nicht einmal im gelobten Stern von Bethlehem, geschweige denn in der gewaltigen Bibliothek des Vatikans. Damit schließe ich das leidige Kapitel Schuld aus kirchlicher und religiöser Sicht für mich erst einmal. Bevor ich noch anfangen muss, statt zu schreiben, zu kotzen! Doch das Erbrechen über vergangene Missstände wäre zu einfach, zu billig, zu bequem. Denn Schuld ist kein Relikt meiner Kindheit, kein Souvenir aus der katholischen Folterkammer meiner frühen Jahre. Sie lebt weiter. Nur hat sie längst das Gewand gewechselt. Sie trägt heute Maßanzug, Rolex und Aktienpaket.

Die Pinguine von damals heißen heute CEO, Lobbyist oder Volksvertreter. Ihre Kreuze sind nicht mehr aus Holz, sondern aus Gold, ihr Weihrauch duftet nach Profit, ihr Credo lautet Rendite. Schuld ist zum globalen Geschäftsmodell geworden. Wer die Welt zerstört, nennt es Wachstum. Wer Menschen in Armut hält, nennt es Marktordnung. Und wer Völker spaltet, nennt es Meinungsfreiheit. Ich sehe sie alle: die Trumps, die Bezoses, die Zuckerbergs dieser Welt: moralisch bankrott und doch von Aktionären gefeiert wie Heilige. Sie beichten nicht, sie bilanzieren. Sie spenden ein paar Millionen, um Milliarden reinzuwaschen. Und das Volk? Es applaudiert, als sähe es Messiasse, während es in Wahrheit Henker bejubelt. Wo früher die Kirche die Seelen knechtete, sind es heute Algorithmen, die Gedanken lenken. Wo einst Nonnen über Kinder wachten, wachen heute Server über Daten. Schuld hat das Gewand gewechselt, nicht ihr Wesen. Sie bleibt der stille Motor der Macht, und das bequemste Werkzeug derer, die keine Verantwortung kennen.

Philosophisch betrachtet ist Schuld die Währung des Bewusstseins. Ohne Schuld kein Lernen, ohne Reue keine Entwicklung. Doch der moderne Mensch will Entwicklung ohne Schuld, Bewusstsein ohne Schmerz. Also flüchtet er in Selbstoptimierung und nennt sie Selbsterkenntnis. Nietzsche würde heute twittern: „Gott ist tot – aber Amazon liefert Ersatz bis morgen früh.“ Sokrates würde gelöscht wegen Verstoß gegen Gemeinschaftsrichtlinien. Und Gibran? Er würde vermutlich schweigen, weil man Weisheit nicht mehr hört, wenn sie keine Push-Nachricht sendet. Schuld ist der Motor der Zivilisation. Ohne sie gäbe es keine Religion, keine Politik, keine Werbung, keine Influencer. Sie ist das Grundrauschen des Kapitalismus, das Echo unserer Bequemlichkeit. Wer frei von Schuld sein will, muss entweder tot sein, oder so redegewandt, dass selbst die Schuld ihm Beifall klatscht.


Ein Schnorrer sprach mich vor einem Supermarkt an. Mit der Würde eines Königs und dem Geruch vergangener Tage. „Meister, warum tragen die Reichen ihre Schuld wie Schmuck und die Armen ihre Unschuld wie Schande?“ Und ich antwortete: „Weil Reichtum lärmt und Gewissen flüstert. Und wer den Lärm liebt, hört das Flüstern nicht mehr.“ Da schwieg der Schnorrer, sah auf seine leeren Hände und sprach: „Dann will ich sie füllen; nicht mit Gold, sondern mit Erkenntnis.“ Ich nickte, lächelte müde und sagte: „Dann, mein Sohn, wird auch deine Schuld leicht sein wie Staub – und schwer nur für jene, die ihn nie aufwirbeln.“

Aus dem „Gibran-Zyklus“ von Mike Schwarz © 2025

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Von der Seele

> Sagt nicht: Ich habe den Pfad der Seele entdeckt, sagt vielmehr: Ich traf die Seele, als sie auf meinem Pfad ging. Denn die Seele wandelt auf allen Wegen. Khalil Gibran <.


Dieser Artikel überschneidet sich mit Psyche. Hilf mit, die Artikel unter einem Lemma zu vereinigen oder inhaltlich besser voneinander abzugrenzen. Zur Diskussion über dieses Problem. Bitte äußere dich dort auch, bevor du diesen Baustein ohne Änderungen entfernst; dort sollte auch der Grund zum Setzen dieses Bausteins stehen >Quelle: www.wikipedia.de<.


Hm … bei dem Thema Seele sehe ich anfangs wenig Schreibpotential, was sich aber nachfolgend ändern wird. Wie soll man etwas erklären, was nicht fassbar, sprich erklärbar ist. Als Mensch, dessen bin ich mir bewusst, bestehe ich aus drei Dimensionen: meinem Körper, meiner Seele und meinem Geist, dem Gehirn. Der Körper ist weitestgehend erforscht, obwohl er Medizinern häufig immer noch Rätsel aufgibt. Was den Geist angeht, so dürfte die Wissenschaft bei dessen Erforschung, falls überhaupt, erst in den Anfängen ihrer Erkenntnisse stecken. Aber bei der Seele? Wo sich viele noch nicht einmal bewusst sind, dass sie eine haben? Und selbst die fast alles wissende Wissensdatenbank Wikipedia spuckt zu dem Thema nichts aus.

Sinn dieser Zeilen ist nicht, die Existenz der Seele nachzuweisen, sondern darauf hinzuweisen, dass in jedem von uns eine Seele vorhanden ist. Eine Seele braucht keine irdischen Güter; Raum und Zeit sind für sie irrelevant und grenzenlos. Unsere Seele nutzt, nach meinem mir eigenen Glauben, diesen meinen Körper als Hülle und Transportmittel meiner irdischen Existenz. Sie freundet sich mit meinem Geist an, um nach meinem Tod weiter eines zu sein: Seele. Meiner Seele, entgegen meinem Körper und meinem Geist, ist es völlig egal, ob ich rauche, saufe oder herumhure. Sie ist davon nicht betroffen.

Erinnern wir uns ferner an Konfuzius >551 bis 479 v. Chr.<, den weisen Begründer des Konfuzianismus. Seine Texte über Harmonie und Gleichmut verdanken wir Jesuiten, die sie ins Lateinische übersetzten, womit die Verfälschung schon vorprogrammiert war. Immerhin gründete Konfuzius keine Kirche, sondern eine Schule für Philosophie, die weitere berühmte Seelenerkenner hervorbrachte. Diese Reihe ließe sich über Laotse, Mohammed, den Dalai Lama und andere Seelenforscher beliebig fortsetzen. Allen gemein war die Erkenntnis, die durch die Seele erkannten Werte, Mitgefühl, Nächstenliebe, Harmonie, Selbstlosigkeit, Gleichmut, an ihre Zeitgenossen weiterzugeben. Kurioserweise war es nur besagter Jesus, der dafür mit dem Leben bezahlte.

Sagte nicht auch mein Freund der Zeit, Sir Peter Ustinov einmal: „Der Körper ist ein Mietwagen, den man irgendwann mal abgeben muss. Nichts spricht dagegen, wenn der Fahrer bleibt? Aber es spricht auch nichts dafür?“ Der Mann wusste, was eine Seele ist! Wird nicht auch das Wort Seele von der römisch-katholischen Kirche und anderen Religionen verdreht? Braucht die Seele eine Religion? Ich denke nicht, und meine Seele empfindet das genauso. Ist es mein Geist, der mir sagt, was ich zu tun oder zu lassen habe? Oder ist es nicht meine Seele, der es völlig egal ist, da sie wandert und nicht rational ist? Sind nicht vielleicht Geist und Seele Seelenverwandte? Aber was ist dann mein Körper? Für mich nur die Hülle dieser beiden Elemente. Nicht mehr und nicht weniger, zudem biologisch abbaubar. Asche zu Asche, Staub zu Staub. Und für die Gilde der Bestatter, Steinmetze und Priester eine lukrative Einnahmequelle – meistens. In meinem Fall bestimmt nicht. Ich habe nämlich längst verfügt, dass mein Körper plastiniert wird. Der Tod soll ruhig etwas zum Angucken haben.

Ich glaube nicht, dass die Seele ein Geschlecht kennt, weder männlich noch weiblich. Und ich glaube auch nicht daran, dass sich zwei Menschen finden, weil sich angeblich ihre halbierten Seelen wieder vereinen. Für mich ist jede Seele eins und einmalig. Hingegen glaube ich an die Reinkarnation. Nicht des Körpers; der löst sich auf, wird Materie unter anderer Flagge. Aber vielleicht der Seele? Eventuell ist sie das Einzige, das keine Endgültigkeit kennt. Möglicherweise erinnert sie sich an Wege, die wir einmal gegangen sind. Wie sonst ließe sich erklären, dass Menschen sich an Orte erinnern, die sie nie zuvor betreten haben? Ich bin mir ziemlich sicher, auch wenn viele das für Unsinn halten, dass ich schon mindestens dreimal auf dieser Erde war. Nicht sicher bin ich mir, ob Seelen sich auch andere Lebewesen als Reisestation aussuchen. Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Aber vorstellen kann ich es mir durchaus. Denn wenn die Seele wirklich frei ist, warum sollte sie sich auf den Menschen beschränken?

Möge mir meine Seele noch lange erhalten bleiben und mich mit offenen, jedoch kritischen Augen durch mein Leben wandeln lassen. Und möge es deiner Seele genauso gehen. Wenn ich eines in all den Kapiteln gelernt habe, dann, dass sich das Leben nicht erklären lässt. Wir Menschen versuchen es mit Moral, mit Schuld, mit Religion, mit Wissenschaft, und scheitern doch am Einfachsten: am Staunen. Womöglich ist genau dieses Scheitern das, was uns göttlich macht. Wir katalogisieren Gefühle, vermessen den Geist, sezieren die Liebe, analysieren die Seele; und vergessen dabei, dass alles zusammengehört. Dass kein Gedanke ohne Gefühl, kein Glaube ohne Zweifel, kein Mensch ohne Menschsein existieren kann.

Alles, was lebt, ist Ausdruck derselben Kraft. Ob man sie Seele nennt, Energie, Schöpfung, Zufall oder Quantensuppe, ist völlig gleichgültig. Wichtig ist nur, dass sie durch uns hindurchfließt, uns bewegt, uns zu dem macht, was wir sind: wandernde Fragmente eines großen, ungeschriebenen Gedichts. Und wenn ich eines Tages den Stift aus der Hand lege, wird vielleicht jemand fragen, ob ich an all das geglaubt habe, was ich schrieb. Ich würde antworten: Nein. Ich habe nicht geglaubt. Ich habe gefühlt. Und vielleicht ist genau das der Anfang von allem.


Und der Geist sprach zur Seele: „Du lebst in mir und doch verstehe ich dich nicht. Ich denke, also bin ich – und doch bist du es, die mich atmen lässt. Ich suche nach dir in Worten und Theorien, in Schriften und Gebeten, doch finde dich nur in der Stille zwischen zwei Gedanken.“ Da antwortete die Seele: „Ich bin nicht zum Denken geboren, sondern zum Sein. Ich bin kein Ziel, das du erreichen musst, ich bin der Weg, den du schon längst beschreitest. Ich bin das, was bleibt, wenn du das Denken verlierst und das, was beginnt, wenn du den Tod fürchtest.“ Und der Geist sprach: „Wie erkenne ich dich, wenn du kein Bild hast?“ Die Seele lächelte und sprach: „Indem du aufhörst, mich erkennen zu wollen. Denn wer mich begreifen will, verliert mich, wer mich fühlt, ist bereits in mir.“ Und so schwieg der Geist. Doch in seinem Schweigen hörte er sie singen.

Aus dem „Gibran-Zyklus“ von Mike Schwarz © 2025

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Von der Sexualität

> Und wer seinen Lebenswandel durch die Sittenlehre begrenzt, sperrt seinen Singvogel in einen Käfig. Khalil Gibran <


Sexualität (sinngemäß „Geschlechtlichkeit“, von spätlat. sexualis; aus lateinisch sexus „Geschlecht“) bezeichnet im engeren biologischen Sinne die Gegebenheit von (mindestens) zwei verschiedenen Fortpflanzungstypen (Geschlechtern) von Lebewesen derselben Art, die nur jeweils zusammen mit einem Angehörigen des (bzw. eines) anderen Typus (Geschlechts) zu einer zygotischen Fortpflanzung fähig sind. Hier dient die Sexualität einer Neukombination von Erbinformationen. Im sozio- und verhaltensbiologischen Sinne bezeichnet der Begriff die Formen dezidiert geschlechtlichen Verhaltens zwischen Geschlechtspartnern. Bei vielen Wirbeltieren hat das Sexualverhalten zusätzliche Funktionen im Sozialgefüge der Population hinzugewonnen, die nichts mehr mit dem Genomaustausch zu tun haben müssen, so dass dann die handelnden Partner auch nicht unbedingt unterschiedlichen Geschlechts sein müssen. Im weiteren Sinn bezeichnet Sexualität die Gesamtheit der Lebensäußerungen, Verhaltensweisen, Empfindungen und Interaktionen von Lebewesen in Bezug auf ihr Geschlecht. Zwischenmenschliche Sexualität wird in allen Kulturen auch als ein möglicher Ausdruck der Liebe zwischen zwei Personen verstanden. >Quelle: www.wikipedia.de<


Kein Schwanz ist so hart wie das Leben. Und das Leben ist eines der härtesten“, war der erste Spruch, der mir zu diesem Thema einfiel. Dann mache ich mich mal gedanklich auf die Reise über die wichtigste Nebensache der Welt. Das gilt zumindest für einen Großteil der geschlechtsreifen Bevölkerung dieser Republik. Und seien wir ehrlich: Für viele zählt Sexualität längst zur Grundversorgung, irgendwo zwischen Nasebohren, WLAN und der täglichen Dosis Selbstbetrug. Was fangen wir also an mit diesem Riesenrad menschlicher Triebe, Hoffnungen, Pannen, Neurosen, Überhöhungen und Falschinformationen? Beginnen wir am Anfang, dort wo alles begann. Nicht bei Adam und Eva, die sollen bitte im Paradiesgarten bleiben, wo sie hingehören, sondern bei der Evolution.

Schon im Zeitalter des Gravettien in Süd- und Mitteleuropa vor rund 25.000 Jahren, also lange bevor die Menschheit verstand, dass ein rundes Ding sich hervorragend zum Rollen eignet, schnitzten namenlose Urzeitkünstler üppige Brüste, großzügige Hüften und Po-Partien, die heutigen Schönheitschirurgen vermutlich spontane Tränenausbrüche bescheren würden. Ob diese steinernen Venusfiguren den Jägern und Sammlern damals als erotisch aufrüttelnde Inspiration dienten oder einfach nur der frühesten Form künstlerischer Sehnsuchtsbewältigung entsprangen? Darüber schweigt sich die Archäologie vornehm aus. Sie schweigt oft, wo es spannend wird. Und weil der Mensch, wenn er einmal angefangen hat, nie wieder aufhört, seinen Trieben ein Denkmal zu setzen, springen wir ein paar Tausend Jahre weiter; hinein in die staubigen Wunderwelten Mesopotamiens. Wir befinden uns nun in der Zeit ab etwa 3.500 bis 2.000 vor Geburt des späteren Balken-Jupps, den die kirchliche PR bis heute als a-sexuellen Mann verkauft. Vermutlich, weil es für manche Dogmen einfacher ist, wenn der Hauptdarsteller keinerlei eigene Erfahrung mit dem Thema hat.

Damit leite ich über zur Geschichte der Sexualität. Im Altertum war Sexualität weniger kompliziert. Die Griechen liebten frei. Die Römer ausdauernd. Und beide hatten ein entspannteres Verhältnis zu Körpern als unsere heutige Gesellschaft im Zeitalter der Selbstoptimierung, in dem schon die Wahl des richtigen Rasierapparats zur moralischen Frage stilisiert wird. Dann kam das Christentum und erklärte den Körper zur Problemzone. Lust war plötzlich Sünde. Sexualität diente nur noch einem Zweck: dem Nachwuchs. Man konnte meinen, Gott persönlich hätte die Menschen beim Onanieren erwischt und ihnen Hausarrest erteilt. In der Moderne löste sich einiges. Sexualität wurde untersucht, vermessen, kategorisiert und, wie alles, der Wissenschaft übergeben, damit wenigstens einer Ordnung hineinbringt. Und dann kam Sigmund Freud. Der Mann, der aus der Psyche eine Wohnzimmerlampe machte und jedem erklärt hat, warum er so bescheuert ist, wie er ist. Libido hier, Trieb da, Mutterkomplexe überall. Freud war sozusagen der erste große Influencer der inneren Unordnung.

Und so viel wir auch erziehen, formen und zurechtrücken: am Ende gehorcht jeder Mensch Kräften, die älter sind als jede Moral. Manche Dinge erfinden wir nicht, wir erben sie. Temperament, Triebstärke, Orientierung, Sensitivität. Die Natur spielt mit mehr Variablen als jedes Statistikprogramm. Und manchmal bringt sie Kombinationen hervor, die Menschen hilflos zurücklassen, weil ihnen die passende Schublade fehlt. Die Hormone sind die heimlichen Regisseure unserer Handlungen. Ein Hauch Testosteron hier, ein Tropfen Östrogen dort. Und schon tanzt der Mensch wie eine Marionette auf dem hormonellen Drahtseil. Unsere soziale Umwelt bestimmt, wie frei oder unfrei wir mit unserer Sexualität umgehen. Die einen wachsen in Familien auf, in denen über Sexualität gesprochen wird. Die anderen lernen, dass Sexualität ein dunkles Zimmer ist, in das man nur hineingeht, wenn keiner guckt. Die Umwelt entscheidet oft darüber, ob Sexualität ein Geschenk ist oder eine Belastung.

Wirklich absurd wird es erst, wenn man den Blick über den Atlantik richtet; in das Land, in dem Menschen zur Welt kommen, ohne nackt zu sein, weil Gott ihnen offenbar das patriotisch bedruckte Badehandtuch gleich mit in die Wiege gelegt hat. Zumindest könnte man es meinen, wenn man sieht, wie Puritanismus und Bigotterie dort Schulbehörden, Kirchen und Elternabende gemeinsam am Nasenring durch jeden Lehrplan führen. In vielen Regionen der USA gilt Sexualkundeunterricht ungefähr als so gefährlich wie atomare Strahlung, wobei Strahlung wenigstens zugegeben wird. Dort entscheiden verstrahlte, evangelikale Schulräte lieber, dass Kinder sich am besten fortpflanzen, ohne vorher zu wissen, wie Fortpflanzung funktioniert. „Wissen macht schwanger“, so scheint das unausgesprochene Motto zu lauten.

In manchen Bundesstaaten wird ernsthaft darüber diskutiert, anatomische Abbildungen zu verpixeln. Als hätte die menschliche Fortpflanzungsbiologie eine Jugendschutzfreigabe, und Gott vergessen, den entsprechenden Sticker auf die Hüfte zu kleben. Brustwarzen sind eine Gefahr für die öffentliche Ordnung; aber Schusswaffen in Spielfilmen? Pädagogisch wertvoll. Man kann nur hoffen, dass die Kinder genug schießen, um nicht auf dumme Gedanken zu kommen. Und während man dort ernsthaft glaubt, dass ein Lehrer durch das Aussprechen des Wortes Kondom die sittliche Stabilität einer ganzen Nation gefährden könnte, sind dieselben Staaten gleichzeitig die größten Produzenten und Konsumenten pornografischer Inhalte weltweit. Die USA schaffen es, die wohl christlichste Prüderie der Erde mit der größten Pornoindustrie des Planeten zu kombinieren. Moral nach außen, Masturbation nach innen. Und alles bitte in HD.

Und zum Schluss noch ein kleiner Ausflug in ein Thema, das zwar keiner mag, aber jeder kennen sollte: Geschlechtskrankheiten. Diese ungebetenen Gäste benehmen sich nämlich wie schlechte Partygäste. Sie tauchen ohne Einladung auf, bleiben zu lange und hinterlassen Spuren, die niemand wirklich braucht. Chlamydien sind die Ninjas unter den Keimen: lautlos, unsichtbar, aber spätestens beim Arztbericht äußerst präsent. Gonorrhoe ist dagegen der Gröhler der Infektionsszene: macht Lärm, tut weh und ist oft peinlicher als der Typ, der auf der Party in die Topfpflanze pinkelt. Frei nach dem Motto: „Hast du Tripper, hast du Schanker. Bist du lange noch keine Kranker.“

Herpes verhält sich wie ein Ex-Partner, der einfach nicht akzeptieren kann, dass Schluss ist und immer wieder vor der Tür steht. Und Syphilis? Eine Diva in mehreren Akten. Erst ein Auftritt, dann Pause, dann Bühnencomeback. Und jedes Mal fragt man sich, wer sie überhaupt eingeladen hat. Die beste Prävention bleibt das Kondom: nicht romantisch, aber zuverlässig. Ein kleines Stück Latex kann einem große Monologe im Behandlungszimmer ersparen; und die Erkenntnis, dass man plötzlich mehr über Antibiotika weiß als einem lieb ist. Und die Ironie? Geschlechtskrankheiten sind völlig unbeeindruckt von Moral, Religion und politischem Weltbild. Sie verteilen sich mit einer Gerechtigkeit, von der Demokratien nur träumen können.


Da trat ein Fremder an mich heran, bar jeder Scham und doch voller Würde, und fragte: „Reisender, warum fliehen die Menschen vor ihrer eigenen Lust, als sei sie eine Bestie, die man im Wald angebunden hat?“ Und ich antwortete: „Weil sie den Käfig ihrer Erziehung mit dem Himmel verwechseln und den Schlüssel zur Freiheit für eine Gefahr halten.“ Da lächelte der Fremde, senkte den Blick und sprach: „Vielleicht fürchten sie nicht die Lust, sondern das Licht, das sie wirft.“ Und ich entgegnete: „Wer die eigene Lust fürchtet, fürchtet auch die eigene Wahrheit. Und wer die Wahrheit scheut, erfindet Regeln, um sie zu verstecken.“ Da nickte er, drehte sich um und ging. Und ich wusste: Lust ist kein Gegner des Menschen. Nur sein Spiegel.

Aus dem „Gibran-Zyklus“ von Mike Schwarz © 2025

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Vom Sozialen

> Du kannst nicht über deinen Appetit hinaus essen. Die andere Hälfte des Brotlaibes gehört einem anderen Menschen, und es sollte ein wenig übrig bleiben für den zufälligen Gast. Khalil Gibran<


Das Wort sozial >von lat. socius = gemeinsam, verbunden, verbündet< taucht in mehreren Bedeutungen auf: Umgangssprachlich ist sozial die Eigenschaft >zumeist< einer Person, auch das Wohl Anderer im Auge zu behalten, fürsorglich auch an die Allgemeinheit zu denken. Dazu gehört ferner, gegenüber Untergebenen großmütig oder leutselig zu sein, gegenüber Unterlegenen ritterlich, gegenüber Gleich- und Nichtgleichgestellten hilfreich, höflich und taktvoll. Unsozial in diesem Sinne handelt, dem all das abgeht. Rechtlich ist ’sozial‘ eine grundgesetzliche Staatszielbestimmung der Bundesrepublik Deutschland. Soziologisch ist das soziale Handeln und Verhalten Gegenstand der Soziologie. Politisch ist es – von der Umgangssprache her, aber auch, aufbauend auf politischen Lehren. In der Biologie bezeichnet man die Kooperation zwischen Individuen als sozial. In der Volkswirtschaftslehre ist davon der statistische Begriff des Sozialproduktes abgeleitet. Organisatorisch – meist in den ‚Freien Berufen‘ – ist davon der Begriff von Zusammenschlüssen abgeleitet. Religiös wird der Begriff  ’sozial‘ in diesem Sinne gelegentlich als zu weltlich empfunden und lieber durch ‚fromm‘ oder gar ‚christlich‘ ersetzt. >Quelle: www.wikipedia.de<


In fast allen meinen Kapiteln geht es, bei genauerer Betrachtung, um soziale, weltweite Ungerechtigkeit. Ein Thema, mit dem nicht nur ich mich fast täglich plagen muss. Dabei wäre soziale Gerechtigkeit eigentlich der Kitt, der unsere Gesellschaft zusammenhalten könnte. Offensichtlich wurde diese Definition bei vielen Beamten, gerade bei denen vom Sozialamt, während ihrer Ausbildungszeit nicht erwähnt. Bevor dieses sozialkritische Kapitel verstanden werden kann, stelle ich aus meiner Sicht eines klar: Es ist ein gewaltiger Unterschied, ob jemand wie ich jahrelang hart dafür gearbeitet hat, um diesem Staat monatliche Schecks in Höhe von 15.000 bis 25.000 Mark auszustellen, oder jemand, der noch nie eine Mark, oder später einen Euro, in dieses marode soziale Netz einzahlte. Weil er entweder das Arbeiten nicht erfunden hat oder aus Somalia, oder sonst wo, kam und heute das gleiche Einkommen erzielt.

Bei aller Dankbarkeit für die heutigen Almosen, die mir die BRD gewährt: Hier ist einiges faul. Es kotzt mich zu Recht an, wenn ich heute für 10 Euro Mehrbedarf bei meinem Vormund, dem Sozialamt, betteln muss, während gewisse Kreise unserer Solidargemeinschaft es meisterhaft verstehen, diesen Staat skrupellos auszunutzen. Ich bin nicht freiwillig schwerbehindert >GdB 100%<, und ich habe meinen Schwerbehindertenausweis auch auf keiner Kirmes geschossen. Mein lieber Vater Staat: Ich gab dir als Unternehmer im Schnitt 10.000 Mark = 5.000 Euro im Monat: Biersteuer, Branntweinsteuer, Einkommensteuer, Essigsäuresteuer, Gesellschaftssteuer, Getränkesteuer, Gewerbesteuer, Grundsteuer, Hundesteuer, Kaffeesteuer, Kapitalertragsteuer, Kfz-Steuer, Kirchensteuer, Leuchtmittelsteuer, Lohnsteuer, Mineralölsteuer, Ökosteuer, Stromsteuer, Solidaritätszuschlag, Speiseeissteuer, Süßstoffsteuer, Tabaksteuer, Teesteuer, Umsatzsteuer, Vermögensteuer, Verpackungssteuer, Versicherungssteuer, Zuckersteuer, Zündwarensteuer und Literatur- und Zeitschriftensteuer.

Ein eingestürztes Stadtarchiv, das zwei Menschen unter sich begrub, während Millionen für Gutachten, Gegengutachten und neue Gutachter versickerten wie Regen in porösem Beton. Aber wehe, wehe! Da sitzt eine 75-jährige Rentnerin in einer kleinen Mietwohnung in Worringen, eine Frau, die vierzig Jahre lang die Knochen hingehalten hat, sieben Kinder großzog, auf Urlaub verzichtete, auf Träume, auf Sicherheit, auf alles, was man Leben nennt, und wagt es, die Stadt um 200 Euro für ihren defekten Kühlschrank zu bitten. Zweihundert Euro. Ein Betrag, den manche Entscheidungsträger am Dom an einem Abend für Pizza, Parkticket und Trinkgeld verpusten. Und für diese Frau, diese eine unsichtbare, ungehörte, aussortierte Frau, hat die Stadt keine wichtigeren Aufgaben. Davon einmal ganz abgesehen: Die Stadt Köln beschäftigt rund 21.000 Mitarbeiter. Ich bin mir sicher, dass der einzelne Bürger gar nicht mitbekommen würde, wenn die Zahl halbiert würde! Statt Kaffeepläuschchen, Betriebsfestplanung, Blaumachen und anderen Annehmlichkeiten könnte die verbliebene Belegschaft sich ja vielleicht, ich sage das jetzt mal ganz vorsichtig, um niemandes Beamtenseele zu verletzen, der eigentlichen Arbeit widmen.

Ich empfehle den derzeit regierenden Parteien mal zu überlegen, woher sie noch die Berechtigung nehmen, das S in ihren asozialen Initialen SPD/CSU zu führen. Von sozialer, menschlicher Verantwortung kann bei allen Parteien schon seit Generationen keine Rede mehr sein, wobei ich bezweifle, ob diese jemals vorhanden war. Statt über weitere Kürzungen bei den Armen unserer Bevölkerung nachzudenken, sollten sie mal lieber darüber nachdenken, ob sie nicht bei sich und ihren angeschlossenen Behörden am meisten sparen können. Wie heißt es in einem Sprichwort so schön? Der Fisch stinkt immer vom Kopf her? Sorry, aber ich kann auch sehr sozialkritisch sein! Dann noch etwas zum Thema soziale Gleichbehandlung, wie sie mir im Übrigen persönlich widerfahren ist und worüber sich dieser asoziale Staat einmal ernsthafte Gedanken machen sollte, bevor ich ihn wegen Ungleichbehandlung verklage: Es kann nicht angehen, dass seit dem unseligen Wischi-Waschi-Peter-Hartz IV ein Alleinstehender, nicht arbeitswilliger 150,00 Euro im Monat hinzuverdienen darf, ohne dass ihm eine Kürzung seiner Sozialleistungen nach SGB II droht.

Wer zieht eigentlich die Politiker juristisch für den gigantischen Rentenbetrug der Generationen vor und nach mir zur Verantwortung? Schon Anfang der 70er Jahre war klar, dass man für jede eingezahlte Mark in die Rentenversicherung 10 Pfennig Rente zurückbekommt. Insofern hat sich eigentlich nichts geändert, außer, dass die heutigen Rentenbeitragszahler mit viel Glück für einen Euro 10 Cent zurückbekommen. Selbstverständlich nur dann, wenn sie noch eine private Zusatzversicherung abschließen! Sehr gut erinnere ich mich auch noch an den damaligen Schulterschluss zwischen der SPD, das war vor Helmut Kohl, und den Gewerkschaften, wo es zu Lohn- und Rentenerhöhungen im zweistelligen Bereich kam. Heute müssen nicht nur Rentner, sondern auch Bezieher von Sozialleistungen und Arbeiter und Angestellte mit rechnerischen zweistelligen Prozentabschlägen klarkommen. Egal wie. Komischerweise stiegen aber die selbst verordneten Apanagen unserer ach so fleißigen Bundestagsfürsten um ein Vielfaches.

Ehrenamtler: Sie schenken Zeit, die sie selber nicht haben, Kraft, die sie eigentlich bräuchten, Wärme, die sie sich oft wünschen würden. Und genau diese Menschen schaffen es immer wieder, ein Restchen Licht ins Leben zu bringen, das dunkler ist, als wir uns je ausmalen könnten. Und zwar nicht aus Pflichtgefühl, sondern aus Menschlichkeit. Dieses seltene, unscheinbare, fast aussterbende Organ. Ich persönlich bin bei meinem ehrenamtlichen Engagement davon überzeugt, dass ich irgendwie zurückbekomme, was ich selber bereit bin zu geben, und erwarte als Gebender auch keine Gegenleistung, noch nicht mal Dank. Mich befriedigt jeder Dienst am Nächsten, was mir auf der einen Seite eine sinnvolle Beschäftigung bietet und zudem für mich lebensbereichernd ist und mein Selbstwertgefühl anhebt. Außerdem erhalte ich durch meine sozialen Tätigkeiten Einblicke in Lebenswelten und –formen, die mir sonst als menschliches Lebewesen im Verborgenen geblieben wären. Als selber Schwerbehinderter bekomme ich durch dieses Engagement auch das Gefühl vermittelt, nicht sinn- und nutzlos meine verbleibenden Jahre zu verbringen.

Diese Form der modernen Sklaverei gehört meines Erachtens gleichfalls in das Strafgesetzbuch mit aufgenommen. Die erneute und vielleicht viel schlimmere Resignation der Betroffenen dürfte für jeden Leser und für jede Leserin leicht nachvollziehbar sein. Den Verantwortlichen, darauf bedacht, mit der Ware alter, gebrechlicher Menschen, Behinderter und psychisch Erkrankter einen möglichst hohen Profit zu erzielen, gehen diese Einzelschicksale an ihrer sozialen Verantwortung vorbei. Ganz im Gegenteil: Dank des Billigpersonals werden die Festangestellten weiter unter Druck gesetzt, indem bei gleichem Lohn höhere Arbeitszeiten eingeführt werden. Hierbei darf sich der Festangestellte dann noch freuen, wenn ihm mit der höheren Arbeitszeit nicht auch noch der Lohn in Höhe von 8,5 Prozent in Abzug gebracht wird.


Und eine alte, vom Krieg gezeichnete Frau sagte zu mir: „Ich habe Häuser fallen sehen und Menschen, die mit ihnen fielen. Ich habe den Winter hungern gehört und den Tod schweigen. Doch immer blieb einer, der ein Stück Brot brach und die Hälfte hinlegte für einen, den er nicht kannte. Sozial ist kein Wort der Ämter, kein Versprechen der Mächtigen. Es ist nur die zitternde Hand, die trotz allem teilt. Und wer das einmal begriffen hat, der weiß: Nicht Reichtum hält eine Welt zusammen, sondern ein Mensch, der sich erinnert, dass er nicht allein ist.“

Aus dem „Gibran-Zyklus“ von Mike Schwarz © 2025

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Von der Toleranz

> Was du für hässlich hältst, ist es nicht das, was du niemals versucht hast zu erreichen und dessen Sinn zu verstehen du niemals wünschtest? Wenn es Hässliches gibt, so sind es die Schuppen auf unseren Augen und das Wachs, das unsere Ohren verstopft. Mein Freund, nenne nichts hässlich außer der Furcht deiner Seele angesichts ihrer eigenen Erinnerungen. Khalil Gibran <


Der Ausdruck Toleranz bezeichnet die soziale, kulturelle und religiöse Nichtverfolgung von Einzelnen oder Gruppen, deren Glaubens- und Lebensweise vom etablierten religiösen oder gesellschaftlichen System abweichen. Autoritäre Systeme praktizieren das der Toleranz Entgegengesetzte: die Intoleranz. Toleranz als gutmütige „Duldung“ ist aber nicht gleichbedeutend mit Übereinstimmung und stellt die Vorstufe zur Akzeptanz dar. Toleranz umfasst einerseits die Vollmacht zur Sanktionierung des Abweichlers und andererseits die bewusste Entscheidung, davon Abstand zu nehmen. Sie wird normalerweise bei gewaltlosem, auf Einigung zielendem Verhalten geübt. Toleranz kann Gewalt vermindern. Im weiteren soziologischen Sinn gilt, dass „Intoleranz“ und Konformität Gewalt und soziale Destabilisierung bewirken. „Toleranz“ ist folglich die Schaffung eines Spielraums für Menschen abweichenden sozialen Verhaltens und anderer Normen. Toleranz richtet sich nur auf Menschen, die wegen ihrer Andersartigkeit ausgeschlossen sind. Anders als die Masse, die gegen das Abweichende rigide vorgeht, erforderte die „Toleranz“, dass andersgeartete Parteien oder Gruppen diesbezüglich leiblich wie seelisch nicht behindert werden. >Quelle: www.wikipedia.de<


Was mir nach dem Lesen der obigen Zeilen als Erstes zu dem Thema Toleranz in den Sinn kam, war eine Form der Intoleranz, die ihre Wurzeln schon weit vor meiner Geburt hatte. Intoleranz, also Unduldsamkeit, begegnete meinen damals nicht volljährigen leiblichen Eltern von Seiten der damaligen Spießergesellschaft in einem Kaff in der Eifel. Der Grund dieser Intoleranz war ICH! Ein uneheliches Kind, von zwei sich liebenden Menschen gezeugt! Sowohl der Dorfarzt als auch der Dorfpfaffe setzten damals meine Mutter massiv unter Druck, mich doch abtreiben zu lassen! Wo blieb da die soziale, kulturelle und religiöse Nichtverfolgung von Einzelnen?

Toleranz, ertragen, erdulden, gegenüber der eigenen Intoleranz, nicht zu tolerieren, bedeutet wahrhaftige Intoleranz. >Autor unbekannt<. Nun gut, meine Mutter hatte sich trotz der damaligen gesellschaftlichen Intoleranz entschlossen, mir mein Leben zu schenken, wofür ich ihr heute noch dankbar bin. Eine normale Geburt in ihrem Zuhause oder dem nächstgelegenen Krankenhaus war ihr wohl verwehrt worden, sodass ich dann das Licht der Welt 1955 in einem Heim für von der Gesellschaft verstoßene, uneheliche, minderjährige Mütter im rund 100 Kilometer entfernten Düsseldorf erblicken musste.

Wenn man über Toleranz spricht, sollte man zuerst jene in Schutz nehmen, die am seltensten gefragt werden und am meisten darunter leiden: Kinder und Jugendliche. Die einzige Gruppe, die man noch guten Gewissens erziehen darf. Weil sie im Gegensatz zu uns Erwachsenen noch nicht völlig verbogen, verbiestert oder von irgendwelchen Schützengräben im Kopf durchlöchert sind. Kinder sind von Natur aus tolerant. Sie haben keine Vorurteile, höchstens Fragen. Und Fragen sind ja nicht das Problem. Die Antworten sind es. Ein Kind, das neugierig fragt, warum jemand anders aussieht, spricht oder sich bewegt, ist nicht intolerant. Intolerant sind die Erwachsenen, die sofort rot anlaufen, herumstammeln oder mit dem legendären Satz kontern: „So was sagt man nicht!“ Natürlich sagt man so was. Man sagt es, weil man verstehen will. Kinder sind kleine Forscher; Erwachsene sind oft nur noch kleine Verdränger. Und während die einen wissen wollen, wie die Welt funktioniert, achten die anderen nur darauf, dass sie vorzeigbar bleibt. Zumindest bis zur nächsten Wahl, Kirchenmesse oder Familienfeier.

Wie sieht es bei der Toleranz mit dem Recht auf Besitztum aus, wenn Irgendjemand meint, eine funkelnagelneue Luxuskarosse mit Hilfe eines Haustürschlüssels, von vorne bis hinten verkratzen zu müssen? Womit ich dann aber auch bei der Toleranz der Autofahrer untereinander angekommen bin, oder Autofah-rern gegenüber den deutlich schwächeren Radfahrern und Fußgängern. Wie weit geht Toleranz, wenn die 80-jährige Oma mit 80 km/h die linke Spur der dreispurigen Autobahn blockiert? Oder noch schlimmer: Der 85-jährige engstirnige und uneinsichtige Auto fahrende Opa, der aufgrund mangelnden Reaktionsver-mögens ein vierjähriges Kind in das ewige Nirwana befördert? Oder: wenn wir feststellen, dass unser geliebtes und verschlossenes Fahrrad gegen unseren Willen den Besitzer wechselte? Oder noch schlimmer: Wo lag die Toleranzgrenze eines Mörders, nur weil sich dessen Freundin entschied, nicht mehr länger die selbige sein zu wollen?

Leider ist eine globale Toleranz in keinem Gesetzestext der Welt festgehalten. Wer fragt schon die aus Uganda hier mit drei Kindern lebende Frau, die in den Bürgerkriegswirren ihres Landes selbst Soldatin war und ihren geliebten Mann und ihre Wurzeln verlor, wie viel Toleranz ihr in ihrem Heimatland entgegengebracht worden ist? Nur weil sie einem bestimmten Volksstamm angehört, den es zu vernichten gilt. Oder wer fragt sie, wie viel Toleranz ihr seitens ihrer deutschen Behörden oder ihrer deutschen Mitmenschen entgegengebracht wird? Ich denke, es wäre für jeden interessant, es aus ihrem Mund zu hören, aber ich denke auch, dass wir Deutschen es gar nicht hören wollen, da wir uns toleranterweise nicht mit Problemen unserer Gäste auseinander setzen wollen. Wie erstaunt wären wir, wenn uns diese Frau zu sich nach Hause einlädt, uns bekocht und uns an Ihrer Gastfreundschaft teilnehmen lässt?

Noch ein Beispiel? Wie mag sich eine aus Äthiopien stammende Frau fühlen, die in ihrer Heimat eine gefeierte Traditionstänzerin war und sich in Deutschland damit konfrontiert sieht, dass die Bundesagentur für Arbeit meint sie als nackte Tischtänzerin in einer drittklassigen Bar vermitteln zu müssen? Die von ihren Mitmenschen nicht als Künstlerin und Mensch wahrgenommen wird, sondern eher als Nutte? Die sich zudem noch mit sechs ihr wildfremden Frauen ein Zimmer teilen muss und traurig 80 Stunden die Woche putzen geht, um ihren eigenen Lebensunterhalt zu bestreiten, da sie uns Deutschen nicht auf der Tasche liegen möchte? Wollen wir sie nicht auch einmal höflich fragen, was sie von dem Thema Toleranz bei uns Deutschen hält?

Und dann wären da noch die irischen Mutter-Kind-Heime, die sogenannten Magdalene Laundries. Orte, an denen unverheiratete Frauen eingesperrt und zu Zwangsarbeit verdonnert wurden. Ihre Babys: weggenommen, zwangsadoptiert, teilweise verscharrt. Das alles natürlich im Namen Gottes, der sich wahrscheinlich noch heute im Grab umdrehen würde. Wenn er denn je darin gelegen hätte. Christliche Nächstenliebe als industrielle Produktion von Leid und Schuldgefühlen. Dass die Kirche im Laufe der Jahrhunderte ganze Kulturen ausradierte, indem sie indigene Religionen zu Teufelszeug erklärte und deren Menschen gleich mit, sei nur am Rande erwähnt. Missionierung nannte man das damals; heute würde man es wahrscheinlich kulturelle Abrissbirne nennen. Aber solange man ein Kreuz draufmalte, war’s natürlich heilig.

Meine Geisteshaltung zur Toleranz lässt Ignoranz, Unwissenheit, Dummheit, nicht zu. Das begründet unter anderem auch mein soziales Engagement oder mein persönlicher Kampf gegen Ungerechtigkeiten. Wäre ich ignorant oder oberflächlich, würde ich mir prinzipiell zu allen Themen dieses Buches keine Ge-danken gemacht haben. Ignoranz bedeutet für mich Gleichgültigkeit und führt entweder zu den von mir ungeliebten Jasagern oder zu den gleichfalls von mir unbeliebten Opportunisten, günstig, bequem. Igno-rante Menschen sind zudem auch meistens sehr intolerante Menschen.


Eine müde Wanderin, deren Augen mehr Welten gesehen hatten als meine Worte je beschreiben könnten, setzte sich zu mir und fragte: „Warum verlangen die Menschen Toleranz?“ Und ich sprach: „Weil jeder Erbarmen sucht für das, was er selbst nicht bereit ist zu vergeben.“

Aus dem „Gibran-Zyklus“ von Mike Schwarz © 2025

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Von der Treue

„Der wahrhaftig Gute ist der, der zu all denen hält, die für schlecht gehalten werden.“ >Khalil Gibran<


Treue (von mittelhochdeutsch triuwe, Nominalisierung des Verbs truwen „fest sein, sicher sein, vertrauen, hoffen, glauben, wagen“) ist eine Tugend, welche die Verlässlichkeit eines Akteurs gegenüber einem anderen, einem Kollektiv oder einer Sache ausdrückt. Im Idealfall basiert sie auf gegenseitigem Vertrauen beziehungsweise Loyalität. Die Tatsache, dass jemand sich loyal verhält, bedeutet nicht automatisch, dass dieses Verhalten positiv bewertet werden muss (vgl. z. B. Fälle von Nibelungentreue). Auch ist nicht in jedem Fall ein Verhalten, das Außenstehende als Ausdruck von „Treue“ interpretieren, tatsächlich dadurch zu erklären, dass die betreffende Person sich zur Treue gegenüber dem Nutznießer ihres Handelns verpflichtet fühlt. Möglicherweise ist das betreffende Verhalten bloß vorteilhaft für den Handelnden. Durch Außenstehende überprüfbar ist nur das Verhalten eines Menschen, d. h. ob er Loyalitätserwartun-gen anderer erfüllt oder nicht.


Treue, ein Wort, das so gern auf Podeste gehoben wird, dass man meinen könnte, es handle sich um eine seltene Antiquität, die man nur mit weißen Handschuhen berühren darf. Doch wie immer, wenn ein Begriff zu oft gepriesen wird, lohnt sich die Frage: Wer profitiert eigentlich davon? Die, die Treue einfordern, oder die, die sie leben? Gibran hält uns mit seinem Satz bereits das Schwert über die Brust: Treue zeigt sich nicht dort, wo alle klatschen, sondern dort, wo keiner klatschen will. Und die nüchterne Wikipedia-Fassung legt noch eins drauf: Treue ist messbar nur im Verhalten, nicht im Selbstbild. Was Menschen glauben treu zu sein, spielt keine Rolle. Was sie tun, zählt. Und genau hier beginnt der eigentliche Stoff, aus dem du, Euer Ehren, die nächsten Seiten schneidest. Doch bevor wir Treue feiern, sollten wir sie erst einmal vor Gericht stellen. Schonungslos, ohne Beifall, ohne Mythos.

Was war mit der Treue der Menschheit zur Naturverbundenheit, während sie zur selben Zeit die Natur brutal und rücksichtslos vergewaltigte? Wurde unser Planet, die Mutter Erde, nicht über Jahrhunderte von Menschen missbraucht, die ihrer Machttreue treu waren? Und wie treu sind Arbeitnehmer und Arbeitgeber, wenn es um die Durchsetzung eigener Interessen geht? Wo ist die vielbeschworene Treue zum Vaterland, wenn man ihm den Rücken kehrt und ins Ausland zieht? Und wo, Euer Ehren, war die Treue der damaligen Gesellschaft um meine leibliche Mutter herum, mich bedingungslos anzunehmen? Wo war die Treue der Männer meiner Mutter, mich in ihre Lebensplanung zu integrieren? Bis es zur Adoption kam? Wo war die Treue meines Eheversprechens, dass nur der Tod uns scheiden dürfe, wenn ein Gericht uns 1993 völlig unromantisch schied? Und wo ist die Treue des Staates zur Ausgewogenheit von Geben und Nehmen?

Warum sollte mein Partner sich verhöhnt fühlen, wenn er dem zustimmt, und ich trotzdem der Mann bleibe, an den er sich anlehnen kann? Warum reduzieren wir Treue immer auf Sexualität? Verleugne ich meinen Partner, wenn ich ihm täglich beständig, bedingungslos, ohne Erwartungshaltung zur Seite stehe? In guten wie in schlechten Tagen? Gebe ich durch einen Seitensprung meine Identität, meine Selbstachtung, meine Integrität auf? Sind Liebe und Sex nicht getrennte Kapitel? Und denken Sie weiter, Euer Ehren: Wo bleibt unsere Treue zu Eltern, wenn sie alt werden? Die Treue zur Gesellschaft, die uns ausbeutet oder die wir ausbeuten? Die Heimattreue, die Prinzipientreue, die Traditionstreue? Und wozu führte die verhängnisvolle Waffentreue im Zweiten Weltkrieg? Zu einem Wahlspruch, der bis heute wie ein fauliger Nachhall klingt: Meine Ehre heißt Treue.“ Der Leitspruch der SS, geboren aus Hitlers Satz „SS-Mann, deine Ehre heißt Treue!“ aus dem Jahr 1931. Ein Beispiel dafür, wie pervertiert Treue sein kann, wenn sie sich nicht an Menschen bindet, sondern an Ideologie, Macht und Mord.

Und manchmal frage ich mich, Euer Ehren, wie früh uns dieser ganze Treuezauber eigentlich eingebläut wird. Schon im Kindergarten schwören die Kleinsten Freundschaften ein, die für immer und ewig halten sollen. Bis die Schaufel im Sandkasten zur Waffe wird und die Ewigkeit nach drei Minuten endet. Später wird aus Treue dann ein Blut- und Schwurtheater: Blutbrüderschaften, Klassenbande, Cliquen, die sich Treue bis zum letzten Tropfen Kakao geloben. Und während die einen sich im Erwachsenenalter in Polyamorie üben, also der Treue gleich ganz die Tür aus den Angeln reißen, singen die anderen im Karneval „Der treue Husar“, als wäre Treue eine rheinische Erfindung mit eingebauter Garantie. Ein Lied, das seit den 1920er Jahren durch Kölner Kehlen dröhnt, und bei dem niemand so genau weiß, ob der Husar eigentlich treu ist oder nur zu betrunken, um den Weg woanders hinzufinden. So viel zum Mythos der Beständigkeit, Euer Ehren. Treue ist ein Konzept, das wir gerne feiern, idealisieren, verklären. und gleichzeitig täglich neu interpretieren, je nachdem, was uns gerade emotional, moralisch oder körperlich in den Kram passt.


Und ein junges Mädchen, kaum erwacht zur Liebe, trat zu mir wie jemand, der den ersten Stern der Nacht entdeckt. „Meister“, fragte sie, „was ist Treue? Ist sie ein Schwur, den man ausspricht, oder ein Geheimnis, das im Herzen wohnt?“ Ich sah, wie ihr Atem die Luft zittern ließ, so voller Erwartung, und ich sprach: „Treue ist kein Knoten, der bindet, sondern ein Leuchten, das führt. Sie folgt nicht dem Versprechen, sondern der Wahrheit, die in dir atmet.“ Das Mädchen senkte die Augen, nicht ängstlich, sondern lauschend, als hörte sie einen Ruf, der tief aus ihr selbst kam. „Und wenn mein Herz sich verändert?“, fragte sie. Ich antwortete: „Dann folgst du nicht dem Verrat, sondern dem Wandel. Denn Herzen sind wie Monde – sie wachsen, sie schwinden, doch ihr Licht bleibt echt.“ Da lächelte sie, und in diesem Lächeln lag das Wissen eines ganzen Lebens, zart, aber unerschütterlich. Sie ging davon wie eine, die begriffen hat: Treue ist kein Besitz, sondern ein Pfad – und wer ihn geht, geht immer zuerst zu sich selbst.

Aus dem „Gibran-Zyklus“ von Mike Schwarz © 2025

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Vom Umzug

> Meister, warum ziehen Menschen um und doch niemals weiter?“ „Weil man Räume wechseln kann – aber nicht die Schatten, die man mit sich trägt. Khalil Gibran <


Umzug (von althochdeutsch umazug, „das Hinaus-, Hinüberziehen“) bezeichnet im klassischen Verständnis die räumliche Verlegung des Wohnortes, häufig verbunden mit logistischen, emotionalen und sozialen Belastungen. Der Begriff umfasst jedoch in erweiterten soziologischen, psychologischen und metaphysischen Kontexten jede Form der Veränderung, die mit einem Verschieben von Identität, Rolle, Umgebung oder Bewusstseinszustand einhergeht. Umzüge können freiwillig oder erzwungen sein, materiell oder symbolisch, individuell oder kollektiv; sie können Räume öffnen, Abgründe schaffen oder den Menschen in einen Zustand zwingen, in dem er zum ersten Mal begreift, was er all die Jahre eigentlich mit sich herumschleppte. >www.wikipedia.de<


Oje. Ein schwieriges Thema. Mir geht es ja nicht um den klassischen Umzug von A nach B, von der alten zu einer neuen Anschrift. Was mich beschäftigt, beginnt viel früher, viel tiefer: dort, wo ein Kind aus dem Vertrauten fällt wie aus einem warmen Bett. Es heißt immer, Kinder seien anpassungsfähig, als wären sie aus Knetgummi, das man beliebig in neue Formen drücken kann, ohne dass etwas bricht. Erwachsene reden sich das gerne ein, weil es ihnen hilft, ihre eigenen Entscheidungen nicht in Frage zu stellen. Aber ein Umzug mit Kindern bedeutet nicht, Möbel zu versetzen; es bedeutet, Welten zu versetzen. Kleine Universen, die gerade erst begriffen haben, wo oben und unten ist, werden aus ihren Umlaufbahnen gerissen und irgendwo neu ins All geworfen, mit der naiven Erwartung, sie würden dort einfach weiter kreisen wie zuvor.

Ein Kind verliert bei einem Umzug nicht nur sein Zimmer, sondern seine Gewissheiten. Freunde verschwinden wie Fußspuren im nassen Sand, die die nächste Welle frisst. Spielplätze werden zu Erinnerungen, die niemand mehr besucht. Gewohnheiten reißen ab wie Tapeten, die nie richtig geklebt haben. Und Erwachsene tun dann so, als sei das normal. „Das ist doch nur ein Tapetenwechsel“, sagen sie, ohne zu merken, dass es für ein Kind der Abriss des eigenen Kontinents ist. Kinder haben keine Umzugskartons. Sie haben kleine Herzen. Und in denen steckt alles, allerdings ohne Verpackung, ohne Schutzfolie, ohne Luftpolster. Vielleicht beginnt jeder Umzug dort, wo ein Kind plötzlich leiser wird. Kommt das Kind schließlich an, wirkt es, als hätte es den Klang seiner eigenen Schritte vergessen. Es tastet die neue Wohnung ab, als müsse es erst prüfen, ob dieses Leben hier wirklich hält

Ein Umzug, bei dem man sich ernsthaft gefragt hat, ob die Verantwortlichen jemals einen Karton in der Hand hatten oder ob sie glauben, Möbel trügen sich von allein, sobald nur genug Haushaltsausschüsse darüber beraten. Und während der Bürger beim eigenen Umzug die Couch durch das Treppenhaus zwängt und sich fragt, ob er jemals wieder Bandscheiben haben wird, jetten unsere Abgeordneten zwischen Bonn und Berlin hin und her, als sei der Rhein eine vergessene U-Bahn-Linie. Der eine nennt es politische Notwendigkeit, ich nenne es: die teuerste Wochenendbeziehung seit Erfindung des Vielfliegerprogramms. Und bezahlt wird das alles selbstverständlich und wie immer vom kleinen Mann.

Der darf sich dafür freuen, dass die Demokratie jetzt zwei Hauptstädte hat, aber immer noch keinen Platz für Vernunft. Und während der deutsche Bonn–Berlin-Umzug mit seinen rund 23 Millionen Euro jährlichen Mehrkosten schon wie ein Schnäppchen wirkt, verblasst er vollständig neben dem europäischen Wanderzirkus zwischen Brüssel und Straßburg, der damals locker über hundert Millionen pro Jahr verschlang. Zwei politische Pendelbewegungen, beide teuer, aber die EU schlägt dabei jedes nationale Maß an grotesker Verschwendung.

Für die Akten ist es ein Vorgang, für den Menschen ein Bruch. Und während irgendein Sachbearbeiter nüchtern von Kostenoptimierung spricht, bricht bei den Betroffenen oft das letzte Stück Heimat weg, das sie sich trotz eines Lebens voller Zumutungen erhalten konnten. Alte, arme Menschen werden aus ihren Vierteln gerissen wie sperrige Möbelstücke, die angeblich nicht mehr ins Budget passen. Niemand fragt, was es bedeutet, im Alter neu anfangen zu müssen, wenn man längst keine Kraft mehr hat, sich selbst zu tragen. Niemand interessiert sich dafür, dass Einsamkeit tödlicher sein kann als jede Miete. Es ist der perfideste Umzug überhaupt: Man verliert die Wohnung, und gleich noch das Gefühl, irgendwo dazuzugehören. Und am Ende bleibt ein Mensch zurück, der nicht nur seinen Schlüsselbund abgeben musste, sondern auch den leisen Glauben daran, dass diese Gesellschaft ihn noch sieht. Ich weiß, wovon ich rede.

Und dann gibt es die Umzüge, die etwas verändern wollen: Demonstrationen, die Mauern zu Fall bringen, weil Menschen den Mut haben, gemeinsam stehenzubleiben. Und jene, die tödlich enden, wie auf dem Tian’anmen-Platz, dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking, in der Nacht vom 3. auf den 4. Juni 1989, wenn ein Regime Angst vor seinen eigenen Bürgern bekommt. Und dann gibt es die ganz große Bühne, Hitlers marschierende Massen: der perfideste Beweis dafür, dass ein Umzug auch in die Hölle führen kann, wenn nur der Richtige vorneweg läuft. Je länger ich darüber nachdenke, desto klarer wird mir: Die meisten Umzüge sind gar keine Bewegung, sondern bloß das Mitlaufen. Hauptsache einreihen, Hauptsache im Takt bleiben. Und wenn es am Ende nirgendwohin führt – egal. Der Mensch fühlt sich bei dieser Art von Umzügen offenbar nur dann sicher, wenn irgendwer vor ihm geht. Vielleicht ist das die Wahrheit hinter allen Umzügen: Der Mensch geht nicht voran! Er folgt nur, so lange jemand vor ihm läuft.


Ein alter Herr setzte sich zu mir, sah mich lange an und sagte: „Ein Umzug trägt weniger Möbel als Erinnerungen.“ Ich schwieg, und er fuhr fort: „Die Wohnung leert sich schnell, doch das Herz bleibt zurück.“ Wieder schwieg ich. „Fürchte dich nicht“, sagte er leise, „manche Türen öffnen sich erst, wenn wir die alte geschlossen haben.“

Aus dem „Gibran-Zyklus“ von Mike Schwarz © 2025 —

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Vom Vertrauen

> Vertrauen ist ein stiller Vertrag zwischen zwei Seelen. Wer es schenkt, gibt mehr als Worte je halten können. Khalil Gibran < 


Vertrauen bezeichnet eine bestimmte Art von subjektiver, auch emotional gefärbter, Überzeugung, nach der man sein Verhalten einrichtet. Das Vertrauen auf eine andere Person beinhaltet Überzeugungen über ihre Redlichkeit und ihre zukünftigen Handlungsweisen: Man erwartet, dass diese Person einem hilfreich sein oder jedenfalls nicht schaden werde. Vertrauen bringt daher Kooperation hervor. Hierbei macht der Vertrauende Aspekte seines eigenen Wohlergehens und seiner Sicherheit vom Verhalten des Kooperationspartners abhängig, geht mit seinem Vertrauen also auch ein Risiko ein. Das Gegenteil des Vertrauens ist das Misstrauen; es beinhaltet wesentlich, dass man gegenüber anderen Personen, weil man sie negativ bewertet, Vorsichtsmaßnahmen ergreift, um Schädigung durch sie auszuschließen. Mindestens trifft man eigene Vorkehrungen, um sich zu sichern, und lässt das eigene Wohlergehen nicht vom Verhalten des anderen abhängen. Misstrauen reduziert daher das Ausmaß von Kooperation. Vertrauen und Misstrauen haben gemeinsam, dass Erwartungen und Bewertungen in Bezug auf andere Menschen bestehen, nicht etwa Gleichgültigkeit. >www.wikipedia.de<


Wenn ich über Vertrauen nachdenke, beginne ich nicht bei Verträgen, Risiken oder erwachsenen Zwischenmenschlichkeiten, sondern bei Kindern. Dort, wo Vertrauen noch keine Theorie ist, sondern ein instinktives Öffnen der kleinen Hände, ein wortloses Sich-hineinfallen-lassen, ein Blick, der noch nicht gelernt hat, Zweifel zu verwalten. Kinder sind, ob es uns gefällt oder nicht, die ehrlichsten Maßstäbe für Vertrauen, weil sie gar nicht anders können, als es erst einmal zu haben. Sie kommen nicht misstrauisch zur Welt, sie werden misstrauisch gemacht. Von uns. Von dem, was wir ihnen vormachen, zumuten, befehlen, vorenthalten. Mir sind Kinder begegnet, die anderen blind vertraut haben, weil es ihre einzige Überlebensstrategie war. In Heimen, auf Schulhöfen, in jenen Zwischenräumen, in denen Erwachsene nur kurz auftauchen, um Regeln vorzulesen, aber nie, um sie mit Herz zu erklären.

Ich habe Jugendliche gesehen, die ihr letztes Vertrauen in irgendeinen Menschen legten, weil sie das Gefühl hatten, dass dieser eine Blick, dieses eine kurze Lächeln bedeute, dass sie endlich jemand sieht. Nicht bewertet, nicht korrigiert, nicht fortschiebt, sondern sieht. Und wenn dieses Vertrauen missbraucht wurde, brach nicht nur etwas in ihnen, sondern auch etwas in der Welt. Denn wann immer ein Kind lernt, dass sein Vertrauen nichts wert ist, verliert die Gesellschaft ein Stück Zukunft, und das nicht in kleinen, sondern in gewaltigen Scherben. Wir sammeln sie nicht auf. Wir treten sie fest. Und wundern uns später, warum diese jungen Menschen als Erwachsene niemandem mehr vertrauen, nicht der Politik, nicht den Behörden, nicht einmal sich selbst.

Und dann gibt es noch die, die sagen, Vertrauen müsse man sich verdienen. Eine schöne Theorie, die klingt, als hätte man sie auf einem Esoterikseminar in Watte gepackt. In Wahrheit ist es oft genau anders herum: Menschen vertrauen nicht, weil jemand vertrauenswürdig ist, sondern weil sie selbst jemanden brauchen, dem sie glauben können. Vertrauen ist selten eine Belohnung, es ist meistens ein verzweifelter Vorschuss. Ich gebe zu, ich habe mir im Laufe der Jahre eine gewisse Skepsis erarbeitet, so eine Grundhaltung des leichten inneren Zusammenzuckens, wenn mir jemand zu schnell zu freundlich, zu verbindlich, zu verfügbar erscheint. Freundlichkeit ist schließlich die weichste Tarnung der Welt. Aber trotz allem, trotz aller Erfahrungen und allem heiligen Misstrauen, ist da immer noch dieser kleine Rest von Bereitschaft, dieses leise innere Flackern, das sagt: Versuch es noch einmal. Vielleicht wird es diesmal nicht zerstört. Vielleicht.

Die Medien schließlich, jene selbsternannten Chronisten der Welt, verkaufen Vertrauen wie eine Ware im Sonderangebot. Heute investigativ, morgen hysterisch, übermorgen in Vergessenheit geraten. Vertrauen ist dort ein Klick, ein Like, eine Quote. Und wie jede Quote braucht es Übertreibung, Lautstärke, Verknappung. Es geht nicht mehr darum, was wahr ist, sondern was sich gut verkauft. Vertrauen wird hier nicht verdient, sondern taktisch simuliert. Aber am Ende, und das ist das eigentlich Tragische, bleibt uns nichts anderes übrig, als wieder neu anzufangen. Vertrauen ist keine Option, es ist eine Notwendigkeit. Wir sind soziale Wesen, auch wenn wir uns manchmal wie Einzelkämpfer benehmen. Wir brauchen jemanden, dem wir glauben können, weil ein Leben ohne Vertrauen ein Leben in permanentem Alarmzustand wäre, und niemand kann auf Dauer im Fluchtmodus existieren.

Vielleicht ist Vertrauen genau das: ein leises Feuer, das uns wärmt, solange wir es nähren, und uns frieren lässt, wenn wir es löschen. Und dort, an dieser Schwelle zwischen Licht und Dunkel, zwischen dem Mut zu vertrauen und der Angst, erneut verletzt zu werden, dort beginnt jener Raum, in dem die Weisen der Welt ihre Stimmen erheben. Wo Worte entstehen, die schwerer wiegen als Erklärungen. Wo Geschichten beginnen, die nicht dem Verstand, sondern dem inneren Menschen gelten. Genau dort öffnet sich die Tür zum Gibran.


Ein Mann, in dessen Gesicht sich die Furchen eines langen Lebens sammelten wie die Linien einer Landkarte, stellte sich neben mich und sagte leise: „Vertrauen ist ein Samen, den du in ein fremdes Herz legst. Manche lassen ihn wachsen, andere lassen ihn verdorren.“ Ich schwieg, und er fuhr fort: „Fürchte nicht die Enttäuschung. Fürchte nur, dein Herz so zu schützen, dass es niemand mehr berühren kann.“ Dann ging er weiter, als hätte er mir nur kurz einen Spiegel hingehalten.

Aus dem „Gibran-Zyklus“ von Mike Schwarz © 2025

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