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Von der Wahrheit Von den Werten Von der Zeit

Von der Wahrheit

> Die große Wahrheit, die die Natur erfüllt, wird nicht mittels der menschlichen Sprache von einem zum anderen weitergegeben. Die Wahrheit bevorzugt die Stille, um ihre Botschaft liebenden Seelen mitzuteilen. Khalil Gibran<

Khalil Gibran


Der Begriff der Wahrheit wird in verschiedenen Zusammenhängen gebraucht und unterschiedlich gefasst. Gemeinhin wird die Übereinstimmung von Aussagen oder Urteilen mit einem Sachverhalt, einer Tatsache oder der Wirklichkeit im Sinne einer korrekten Wiedergabe als Wahrheit bezeichnet. Im Weiteren wird unter „Wahrheit“ auch die Übereinstimmung einer Äußerung mit einer Absicht oder einem bestimmten Sinn beziehungsweise einer normativ als richtig ausgezeichneten Auffassung („truism“ oder Gemeinplatz) oder mit den eigenen Erkenntnissen, Erfahrungen und Überzeugungen verstanden (auch „Wahrhaftigkeit“ genannt). Tiefer gehende Betrachtungen sehen Wahrheit als Ergebnis eines offenbarenden, freilegenden oder entdeckenden Prozesses des Erkennens ursprünglicher Zusammenhänge oder wesenhafter Züge.


Doch womit beginnen? Vielleicht damit, dass Wahrheit kein sauber gefaltetes Geschenkband ist, das man irgendwann im Leben überreicht bekommt. Wahrheit ist ein Fundstück, vergraben unter Schutt und jahrzehntelangem Schweigen. Sie ist ein hartnäckiger Schatten, der nie fragt, ob es gerade passt. Und sie ist, zumindest in meinem Leben, niemals aus freien Stücken gekommen. Ich musste sie suchen wie ein Archäologe, der mit bloßen Händen in Ruinen gräbt, ohne zu wissen, ob dort überhaupt noch etwas liegt. Wahrheit ist das, was übrig bleibt, wenn alle Ausreden verdunstet sind. Sie ist das, was den Überlebenden übrig bleibt, wenn das, was hätte schützen sollen, versagt hat. In meiner Welt hat Wahrheit immer erst später gesprochen. Viel später. So spät, dass ich sie fast nicht mehr hören wollte. So spät, dass ich zwischenzeitlich gar nicht mehr wusste, ob ich überhaupt das Recht habe, sie noch einzufordern.

Meine ersten Wahrheiten waren nicht moralisch, nicht philosophisch, nicht erleuchtet. Meine ersten Wahrheiten waren Hunger. Kälte. Angst. Das Geräusch von Schritten, die nichts Gutes brachten. Die Wahrheit eines Kindes ist simpel: Entweder wird es geliebt oder es wird geparkt. Entweder wird es beschützt oder es wird ausgeliefert. Entweder ist die Welt ein Ort oder ein Urteil. Wahrheit früher bedeutete für mich nicht Erkenntnis, sondern Überleben. Wahrheit war, dass ich nichts wusste und alles fühlte. Wahrheit war, dass niemand kam. Wahrheit war, dass es niemanden gab, der auch nur die leiseste Ahnung hatte, wer ich hätte werden können, hätte man mich einfach in Ruhe gelassen.

Die Wahrheit eines Kindes ist eine andere als die eines Erwachsenen. Und die eines Greises erst recht. Jeder sieht die Welt aus seinem eigenen Augenpaar, und jeder hat seine eigene Wahrheit, die er mit sich herumschleppt wie ein zu großes oder viel zu kleines Kleidungsstück. Nichts passt je so richtig. Wahrheit ist ein Wanderarbeiter. Sie zieht mit uns durchs Leben, vom ersten Schrei bis zum letzten Atemzug, und sie wechselt dabei ihre Formen wie ein schlecht gelauntes Chamäleon. Für ein Kind ist Wahrheit etwas Einfaches. Klar wie Wasser. Unverfälscht. Ein Kind erkennt Wahrheit nicht durch Worte, sondern durch Schwingungen. Es sieht, was Erwachsene nicht zeigen wollen. Es spürt, was verschwiegen wird. Die Wahrheit eines Kindes ist radikal, weil sie ungefiltert ist. In meinen frühen Jahren bestand sie aus Hunger, Angst, Kälte und dem Schweigen der Erwachsenen, das lauter war als jedes Geschrei. Die Wahrheit eines Kindes ist brutal ehrlich, weil es noch nicht gelernt hat, sich selbst zu belügen.

Wahrheit und Lüge gehen nicht Hand in Hand. Eine führt. Die andere verführt. Wo Wahrheit auftaucht, schleicht die Lüge hinter ihr her wie ein schlecht erzogener Schatten. Es gibt Lügen, die man erzählt bekommt, und Lügen, die man sich selbst erzählt, weil sie bequemer sind als jede unbequeme Wahrheit. Die Lüge ist ein Meister der Tarnung. Sie kommt in festlichen Gewändern daher, oft in Form von Höflichkeit, Familienfrieden, politischer Rücksichtnahme oder religiöser Erleuchtung. Wahrheit hingegen kommt nackt. Und niemand mag Nackte, die plötzlich im Wohnzimmer stehen und Fragen stellen. Die Lüge verspricht Wärme, Wahrheit spendet Klarheit. Die Lüge schützt kurzfristig, Wahrheit heilt langfristig. Beides kostet. Und wer im Leben zu früh mit Lügen gefüttert wurde, der braucht später Jahre, manchmal Jahrzehnte, um die Wahrheit überhaupt wieder erkennen zu können. Ich kenne das. Zu gut.

Die naturwissenschaftliche Wahrheit ist die ehrlichste von allen, weil sie sich nicht darum schert, ob wir sie mögen. Sie ist überprüfbar, testbar, wiederholbar. Kein Gefasel, kein Geflunker, keine Offenbarungen aus brennenden Büschen. Die Naturwissenschaft ist nicht sentimental. Sie sagt nicht: „Du bist etwas Besonderes.“ Sie sagt: „Du bist ein Haufen Atome, der zufällig laufen und denken kann.“ Die Wissenschaft sagt: Die Erde dreht sich, auch wenn du denkst, sie tut es nicht. Sie sagt: Gravitation existiert, auch wenn du fliegen willst. Sie sagt: Du bist sterblich, egal wie oft du betest. Naturwissenschaftliche Wahrheit ist präzise, während menschliche Wahrheit emotional ist. Und irgendwo zwischen diesen beiden Wahrheiten bewegen wir uns. Die Wissenschaft erklärt die Welt. Die persönliche Wahrheit erklärt uns selbst.

Vielleicht ist Wahrheit ganz einfach dies: dass man sich am Ende des Lebens nicht mehr belügt. Dass man sich endlich eingesteht, was war, was ist und was nie sein wird. Dass man akzeptiert, dass manche Fragen offen bleiben, weil Antworten ihre Macht verlieren, sobald man gelernt hat, mit dem Ungewissen zu leben. Wahrheit ist kein Donnerschlag. Wahrheit ist der Moment, in dem man zum ersten Mal aus tiefstem Herzen sagt: „Es ist gut. Es reicht. Ich sehe klar.“ Und genau an dieser Stelle, da wo Klarheit und Verletzlichkeit sich die Hand geben, beginnt der Raum für jene leise, alte Weisheit, von der Khalil Gibran so oft sprach. Ein Raum, in dem Worte nicht lügen können, weil Stille lauter ist als jede Erklärung. Ein Raum, in dem Wahrheit nicht länger Feind ist, sondern Wegweiser. Ein Raum, in dem die Seele endlich sprechen darf. Und so lege ich meine eigene Wahrheit, allen Schrammen und Kratzern zum Trotz, in diese Stille hinein. Nicht, um bemitleidet zu werden, sondern um verstanden zu werden. Nicht, um zu richten, sondern um zu zeigen, wie ein Mensch trotz allem aufrecht gehen kann. Möge die Wahrheit, die ich hier offenlege, nicht als Waffe gelesen werden, sondern als Licht. Ein schwaches vielleicht, manchmal flackernd, aber echt. Und vielleicht ist das alles, was ein Mensch am Ende braucht.


Und eine junge Frau sprach zu mir, leise, doch mit jener Müdigkeit, die nur entsteht, wenn ein Mensch zu lange die Lügen eines anderen getragen hat. „Warum fürchtet man die Wahrheit“, fragte sie, „wenn sie doch befreien soll?“ Und ich sagte: „Weil Wahrheit zuerst das zerstört, was dich verletzt hat. Und erst dann das heilt, was dir gehört.“ Da senkte sie den Blick und sprach: „Ich habe so lange geschwiegen, dass ich nicht mehr weiß, was meine eigene Wahrheit ist.“ Und ich antwortete: „Dann beginne dort, wo der Schmerz schweigt. Dort findest du die Stimme, die man dir genommen hat.“ Sie nickte, und ein leiser Schimmer kehrte in ihre Augen zurück. „Also ist Wahrheit kein Urteil?“ „Nein“, sagte ich. „Wahrheit ist der Schritt zurück zu dir selbst. Wer ihn wagt, hat bereits gewonnen.“

Aus dem „Gibran-Zyklus“ von Mike Schwarz © 2025

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Von den Werten

>Warum hat man Dich zum König gemacht?“, wollte der Entblößte wissen. Der König antwortete: „Weil ich der edelste Mann des Landes bin, haben sie mich zu ihrem König erkoren.“ Und der Entblößte erwiderte: „Wenn du noch edler wärst, wärst du kein König.“ Khalil Gibran <


Das Wort >Wert< ist ein Prädikat, das substantiell oder attributiv verwendet werden kann, d. h., es ist zu unterscheiden, ob etwas ein Wert ist oder ob etwas einen Wert hat. Dementsprechend wird auch von äußeren (attributiven) oder inneren (substantiellen) Werten gesprochen. In der substantiellen Verwendung ist ein Wert etwas, von dem behauptet wird, dass es in bestimmter Weise und in einem bestimmten Grad zur äußeren oder inneren Existenzerhaltung eines Lebewesens beiträgt, wobei unter Lebewesen ganz allgemein ein System mit einem Überlebensproblem zu verstehen ist. So ist etwa ein Eimer voll Hafer ein Wert für ein Pferd, ein Brot ist ein Wert für einen Menschen zur Erhaltung seiner äußeren Existenz oder die Treue zu einem Menschen ist ein Wert zur Erhaltung seiner inneren Existenz >Quelle: www.wikipedia.de<.


Das Erste, woran ich bei den Werten denke, ist an meine längst verblichene Oma Dine. Sie erklärte mir nicht, was Werte sind, sondern lebte sie mir vor. Wofür ich ihr, auch wenn es nicht mehr zeitgemäß ist, bis zu meinem letzten Atemzug dankbar sein werde. Bei meinen ersten Überlegungen zu dem von mir gewählten Thema fällt mir auf, dass sich das Wort Wert und Werte gleichfalls wie ein roter Faden durch alle Kapitel dieses Buches zieht. Alle großen Philosophen der Weltgeschichte haben sich darüber sicherlich den Kopf zerbrochen, ohne dass es in Jahrtausenden zu einer einhelligen Meinung gekommen wäre. Wie sollte es auch? Werte ändern sich. Man spricht dann vom Wertewandel. Werte lassen sich also nicht definieren, dennoch möchte ich meinen Gedanken über meine eigenen Wertvorstellungen wieder einmal freien Lauf lassen.

Wahre Werte sind in meiner Moralphilosophie von höchster Priorität, da sie mir den Halt und die Sicherheit geben, die ich in meinem Alltag benötige. Meine Werte navigierten mich bis heute durch mein Leben. Den höchsten Stellenwert hat für mich meine Ehrlichkeit. Selbst wenn ich mir einbilde, meist ehrlich zu sein, sagt das bereits aus, dass ich es eben doch nicht immer bin. Wie kann ich dann von anderen erwarten, dass sie ehrlich mit mir umgehen? Und wie sieht es allgemein, wobei sich schon die nächste Frage stellt: Was ist eigentlich allgemein mit dem ehrlichen Umgang der Ehrlichkeit als Wertemaßstab aus? In meiner Realität bin ich von Unehrlichkeit umgeben. Mein von vielen Mitmenschen als solcher empfundener Zynismus ist in Wahrheit nur meine reinste Form der Ehrlichkeit. Meine Ehrlichkeit hat den Wert meiner Wahrheitsliebe. Und damit schließt sich der Kreis zum Kapitel Von der Wahrheit. Es sprengt meine Vorstellungskraft, eine Welt voller ehrlicher und wahrhaftiger Menschen zu denken. Wahrscheinlich befände ich mich dann im oft umschriebenen Paradies auf Erden. Doch die Realität, wie immer, sieht anders aus.

Fairness? Ist es fair, dass Menschen 40 Jahre in die Rentenversicherung einzahlen und am Ende weniger erhalten als manche Sozialschmarotzer? Ist es fair, dass hochintelligente Kinder aus armen Familien vom Bildungssystem ausgeschlossen werden? Über Fairness könnte ich ein eigenes Werk schreiben. Courage? Die meisten Deutschen scheinen zu glauben, Courage sei eine Fleischsorte. Wer sich couragiert engagiert, wird misstrauisch beäugt. Courage bedeutet Mut, doch Mut zeigt nur, wer seine Masken fallen lässt. Benehmen? Offenbar nur noch ein Kapitel aus Knigges Vermächtnis. Wie sonst soll ich erklären, dass Männer in öffentlichen Räumen ihren Rotz auf den Boden schleudern, als sei es olympische Disziplin? Mitgefühl? Oder besser: mit Gefühl. Die Fähigkeit, sich in einen anderen hineinzuversetzen. Einfühlungsvermögen. Ich frage mich oft, wo man das kaufen kann. Meist wird aus Angst oder Bequemlichkeit weggesehen. Und wo blieb das Mitgefühl des Pastors, der es sonntäglich predigte, als er sich an Schutzbefohlenen verging?

Werte entstehen nicht von allein. Sie müssen vorgelebt werden. Doch wer lebt uns heute Werte vor? Influencer mit Rabattcodes und gemieteten Luxuskarossen? Politiker, deren moralische Halbwertszeit kürzer ist als die eines TikTok-Trends? Eltern, die ihre Kinder vor allem dann lieben, wenn sie auf Instagram gut performen? Die Psychologie nennt das substituierte Zuwendung: Man ersetzt echte Nähe durch symbolische Ersatzbefriedigungen. Spielsachen statt Gespräche, Smartphones statt Zuneigung, Likes statt Liebe. Die Folge? Eine ganze Generation, die den Wert eines Menschen anhand seines Smartphones, seines Kontostands oder seines Körperfettes bemisst. Aber nicht anhand seines Charakters. Wenn der Wert eines Kindes weniger zählt als der Wert einer geleasten SUV-Karosse, dann läuft etwas gewaltig schief. Und zwar nicht nur ein bisschen schief, sondern so schief, dass selbst die Schiefe des Turms von Pisa dagegen wie eine architektonische Meisterleistung wirkt.

Vielleicht liegt der Kern des Problems aber noch viel tiefer. Vielleicht haben wir in dieser hochoptimierten, hyperbeschleunigten Gesellschaft schlicht vergessen, dass Werte nicht laut sind. Werte schreien nicht. Werte werben nicht. Werte brauchen keine Likes. Werte sind leise. Und weil sie leise sind, überhören wir sie. Sie passen nicht in eine Zeit, in der alles in Großbuchstaben geschrieben wird, nur damit es überhaupt noch wahrgenommen wird. Und während der Wert eines Luxusautos steigt, sinkt der Wert familiärer Bindung. Während Menschen 70 Euro für Proteinpulver ausgeben, aber nicht zwei Minuten für ein Gespräch mit ihren Eltern, frage ich mich manchmal, ob die Evolution an irgendeiner Stelle falsch abgebogen ist. Vielleicht dort, wo wir das Menschsein mit dem Haben verwechselt haben. Vielleicht dort, wo aus Werten Marken wurden, und aus Marken Werte. Wie sagte Platon? „Schön sind Erkenntnis und Wahrheit. Schöner aber ist das Gute.“ Und wie sagte meine Oma Dine? Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.“

Und eine alte Frau, die ihr Leben mit mehr Verlusten als Gewinnen verbracht hatte, sprach zu mir: „Sag mir, woran erkennt man einen Menschen von Wert?“ Und ich antwortete: „Nicht an dem, was er besitzt. Sondern an dem, was er auch dann noch gibt, wenn niemand hinsieht.“ Da lächelte sie müde und sagte: „Dann sind die Reichen dieser Welt sehr arm.“ Und ich sprach: „Arm ist nicht, wer wenig hat. Arm ist, wer nichts zu geben weiß.“

Aus dem „Gibran-Zyklus“ von Mike Schwarz © 2025

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Von der Zeit

> Mein Haus sagte zu mir: „Verlass mich nicht, denn hier wohnt deine Vergangenheit.“ Und die Straße sagte zu mir: „Komm und folge mir, denn ich bin deine Zukunft.“ Und ich sage zu beiden, zu meinem Haus und zu der Straße: „Ich habe weder Vergangenheit, noch habe ich Zukunft. Wenn ich hier bleibe, ist ein Gehen in meinem Verweilen; und wenn ich gehe, ist ein Verweilen in meinem Gang. Nur Liebe und Tod ändern die Dinge. Khalil Gibran <


Die Zeit ist eine physikalische Größe. Das allgemein übliche Formelzeichen der Zeit ist t, ihre SI-Einheit ist die Sekunde s. Im SI-Einheitensystem ist die Zeit eine von mehreren Basisgrößen. Die Zeit beschreibt die Abfolge von Ereignissen, hat also eine eindeutige, nicht umkehrbare Richtung. Mit Hilfe der physikalischen Prinzipien der Thermodynamik kann diese Richtung als Zunahme der Entropie, d. h. der Unordnung in einem abgeschlossenen System, bestimmt werden. Aus einer philosophischen Perspektive beschreibt die Zeit das Fortschreiten der Gegenwart von der Vergangenheit kommend und zur Zukunft hinführend. Nach der Relativitätstheorie bildet die Zeit mit dem Raum eine vierdimensionale Raumzeit, in der die Zeit die Rolle einer Dimension einnimmt. Dabei ist der Begriff der Gegenwart nur in einem einzigen Punkt definierbar, während andere Punkte der Raumzeit, die weder in der Vergangenheit noch der Zukunft dieses Punkts liegen, als „raumartig getrennt“ von diesem Punkt bezeichnet werden. >Quelle: www.wikipedia.de


Zum Thema fällt mir eine Weisheit von dem römischen Philosophen, Dramatiker und Naturforscher und dem maßgeblichen Erzieher des späteren wahnsinnigen Kaisers Nero ein. Von Seneca ist überliefert: „Es ist nicht wenig Zeit, die wir haben, sondern es ist viel Zeit, die wir nicht nutzen.“ Wie wahr, wie wahr! Die Zeit also. Ausgerechnet sie. Dieses störrische, unsichtbare Ding, das sich nicht darum schert, ob wir bereit sind oder nicht, ob die Schuhe zugebunden sind oder ob wir gedanklich noch im Gestern hängen. Wenn man lange genug darüber nachdenkt, könnte man fast glauben, die Zeit sei eine Art stiller Mitbewohner, einer von denen, die ständig durch die Wohnung schleichen, mal Türen offenstehen lassen, mal einfach verschwinden, obwohl man dringend mit ihnen reden müsste.

Früher war sie ein Stundenglas, das majestätisch durch perlte, heute ist sie ein Timer auf dem Smartphone, der in der Sekunde piept, in der man endlich mal sitzen wollte. Und trotzdem behaupten wir ständig, wir hätten „keine Zeit“, was ungefähr so ist, als würde man sagen, man habe „keine Luft“ und dabei gleichzeitig atmen. Vielleicht hat Seneca recht, vielleicht ist es tatsächlich nicht wenig Zeit, die wir haben, sondern viel, viel mehr, als wir je ordentlich zwischen die Finger bekommen. Aber wir sind Weltmeister darin, sie durch die Ritzen entkommen zu lassen, während wir uns einreden, es läge alles an den falschen Uhren.

Die Gesellschaft ist geradezu verliebt darin, Zeit in kleine, normierte Häppchen zu schneiden, als könnte man das Leben besser kontrollieren, wenn man ihm Etiketten aufklebt. Schulzeit, Arbeitszeit, Freizeit, Pausenzeit, Qualitätszeit, Paarzeit, Familienzeit. Ein komplettes Buffet menschlicher Existenz, fein säuberlich sortiert, damit niemand auf die Idee kommt, einfach nur zu leben. Man ist schon als Kind darauf programmiert, dass jede Phase eine bestimmte Dauer zu haben hat. Die Schulzeit zum Beispiel soll angeblich prägend sein, obwohl sich später kaum jemand an die Hälfte des Gelernten erinnert, aber jeder genau weiß, wie lange eine Mathestunde dauern kann, wenn man schon nach drei Minuten innerlich ausgestiegen ist.

Im Grunde ist all das nur ein Versuch, Zeit zu bändigen, als wäre sie ein Haustier, das man erziehen könnte. Aber Zeit lässt sich nicht dressieren. Sie macht, was sie will. Die Gesellschaft versucht es trotzdem, immer wieder, immer mit neuem Vokabular. Am Ende bleibt die Erkenntnis: Wir leben nicht in der Zeit, wir leben im Takt ihrer Erwartungen. Und dann habe ich noch die Schlafenszeit, die Sexzeit; und natürlich die Zeit zum Beten vergessen. Ja, richtig gelesen: die Zeit, um in der Kirche zu sitzen, Kerzen anzuzünden, Amen zu murmeln und das Gefühl zu haben, wenigstens etwas fürs Seelenheil getan zu haben. Drei Kategorien, die uns allen heilig sein sollten. Die eine zum Erholen, die andere zum Verheddern und die dritte zum Zeit verschwenden. Beide verschwinden im Alltag zwischen Arbeit, Krisen, Lieferengpässen und sinnlosem Smalltalk. Wer hat schon Zeit, richtig zu schlafen, wenn das Leben permanent an der Tür klingelt? Und wer soll sich noch lieben, wenn alles und jeder irgendeinen Ratschlag parat hat, wie man perfekt sein soll? Beten, Schlafen, vögeln, fertig. Mehr braucht’s nicht. In der Regel.

Ich habe gelernt, Prioritäten zu setzen, manchmal radikal. Manche Menschen, manche Orte, manche Tätigkeiten, verschwenden Zeit. Andere schenken sie. Und nur in den Momenten, in denen man die Schere bewusst ansetzt, erkennt man, wie wertvoll Lebenszeit ist. Es ist ein permanentes Abwägen: Was will ich erleben, was kann ich verschieben, was lasse ich einfach los. Jeder Tag ist ein Geschenk, das man entweder aufreißt oder in der Schublade liegen lässt. Und ja, man verliert Zeit, zwangsläufig. Aber man kann entscheiden, welche Zeit man verliert und welche man behält. Für mich ist es die wichtigste Lektion: Nicht jede Sekunde zählt gleich. Manche Sekunden sind pure Ersparnis, andere pure Verschwendung. Manchmal ist verschwendete Zeit die wertvollste überhaupt. Ein Lachen, ein Gespräch, ein Essen, ein Blick, der alles ändert, ohne dass man es merkt. Und genau diese Sekunden machen am Ende den Kern der eigenen Lebenszeit aus.

Und manchmal ist die literarische Zeit sogar strenger als die physikalische. Ein Buch endet, ein Kapitel schließt sich, eine Seite blättert man um; vorbei, egal, ob man bereit war oder nicht. Und das ist vielleicht der größte Unterschied zwischen literarischer und echter Zeit: Im Buch hat man wenigstens die Illusion, dass man sie formen kann. Im Leben passiert sie einfach, ob man hinsieht oder nicht. Literatur zeigt also, dass Zeit nicht nur tickt, dass sie nicht nur misst, dass sie nicht nur vergeht. Sie ist erlebbar, fühlbar, dehnbar, brüchig, unvorhersehbar. Und sie hält uns den Spiegel vor: Wie wir unsere Zeit verbringen, wie wir sie wahrnehmen, wie wir mit ihr ringen. All das bestimmt am Ende, was bleibt, wenn wir auf das Leben zurückblicken. Auch hier weiß ich, wovon ich rede, beziehungsweise worüber ich schreibe.


Das Haus sprach: Verweile, und du findest deine Vergangenheit in jedem Winkel. Verlasse mich, und sie folgt dir heimlich, als stiller Schatten.“ Die Straße sprach. Folge mir, und die Zukunft breitet sich leise vor deinen Schritten aus. Weiche von mir, und sie bleibt doch in deinem Atem.“ Die Gegenwart sprach: Weder Haus noch Straße halten dich. Du bist der Funke zwischen gestern und morgen, und jeder Atemzug ist ewig.Liebe und Tod sprachen: Liebe misst die Zeit, Tod wandelt sie. Wer beides kennt, weiß, dass nur Fühlen wirklich bleibt.

Aus dem „Gibran-Zyklus“ von Mike Schwarz © 2025

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